Seit Jahren hatte er literarisch Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet, schon 1941 war ihm die Druckerlaubnis entzogen worden, was ihn aber nicht davon abhielt, seinen »literarischen Sanitätsdienst« in der Illegalität fortzusetzen, als »Tröster«, als »einsamer Rufer in der Wüste«. Schneider war gesundheitlich schwer angeschlagen, als die Gestapo 1944 an die Tür klopfte, aber es ging noch einmal gut. Ein späterer Haftbefehl verlor sich in den Wirren der Zeit. Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs konnte Schneider Geschichte nur als Schlachtfeld wahrnehmen, als unerbittlichen Kampf, der die Frage aufwarf, »ob wir diese Zeit nur noch erleiden sollen; oder ob wir ihr einen Sinn abringen, der uns befähigt, in ihr zu bestehen und zu wirken«.
Wie sinnlos die Leiden auch schienen, »über allem Tun der Völker und ihrer Mächtigen, über den Schlachtfeldern, den Gräbern und in Staub gesunkenen Städten, dem Leid der Gefangenen und Heimatlosen« sah Schneider doch das »Geheimnis der Geschichte« wirken. Für den Katholiken Schneider war Geschichte nur denkbar als Heilsgeschichte, als »Weg der Welt zu ihm«, als göttlicher Plan, der dem Menschen uneinsehbar und unverständlich bleibt, weil neben den Kräften des Guten auch die satanischen Mächte mit ihrer »widergöttlichen Absicht« gedeihen.
So erfüllt sich der göttliche Plan nicht in ruhiger Harmonie, sondern allein »in der Überwältigung eines ihm entgegengesetzten Planes«. Mit anderen Worten: Die zerstörerischen, satanischen Mächte haben ein gehöriges Wort mitzureden im Prozeß der Geschichte, sie gilt es zu bezwingen, zu überwinden, wenn die »äußersten Gegensätze der Geschichte« aufeinanderprallen. Wie Jesus der Versuchung des Teufels widerstand, kann sich der Mensch ebenfalls den Verführungen entziehen. Oder aber er gibt sich ihnen hin und entscheidet sich für »all die Mach und Herrlichkeit dieser Reiche«, die der Satan ihm anbietet (Lukas 4,6). In diesen tausendjährigen Reichen leuchtet aber keineswegs jener Widerschein vom Reich Gottes, in ihnen herrscht allein die selbstherrliche, willkürliche Macht, ein »Wahn«, der, wie Schneider schon 1936 in einem Sonett geschrieben hatte, doch nur »tönerne Paläste« erbaut. Weshalb voraussagbar ist, daß diese Art der Herrschaft nichts von Dauer hervorbringt: »Denn Täter werden nie den Himmel zwingen: / Was sie vereinen, wird sich wieder spalten, / Was sie erneuern, über Nacht veralten, / Und was sie stiften, Not und Unheil bringen.« Auch diese eindringlichen Verse stammen aus dem Jahr 1936, aus dem berühmten Sonett »Allein den Betern kann es noch gelingen«, das zum Besten in der deutschen Literatur zählt.
Diese falsche, angemaßte, anmaßende Herrschaft hatte unsagbares Unheil gebracht, aber sie mußte schließlich an sich selbst zugrunde gehen, denn die »vom Satan angebotene Macht war ja vom heiligen Ursprunge der Macht, vom allmächtigen Gott gelöst; sie war krank und mußte den krank machen, der sich ihrer bemächtigen würde.« Wen Schneider hier im Sinn hatte, stellte 1944 niemanden vor ein unlösbares Rätsel. »Dieses Reich, diese Macht ist krank, ob es auch dauert bis zum Ende.« Und das Ende war nicht mehr fern.
Damit »bleibt das Schlachtfeld der Geschichte«, auf dem das Gottesreich »mit seinen Feinden um den Menschen, um die ganze Fülle der Welt« ringt, »im letzten Sinne der Ordnung unterworfen« – und zwar einer ewigen Ordnung, an der nicht gerüttelt werden kann. So wird bei aller Gefahr der Hybris und des Wahns »des Menschen letzte Sehnsucht nach seiner Heimat von keinem Magier gestillt, von keinem Tyrannen zertreten«.
Die Sehnsucht des Menschen nach »Heimat« und »Heimkehr« kann letztlich nur spirituell gedacht werden, als Rückkehr der Seele zu Gott, als Wiederkehr in den Uranfang. Aber dieses Verständnis setzt voraus, daß sich die Menschen vom Nihilismus, der ihnen die Sinne gründlich vernebelt hat, abwenden und sich der Tradition des Christentums wieder zuwenden. Angesichts der »Trümmerfelder des Krieges« schien Schneider die Hoffnung auf ein Wiedererwachen des christlichen Abendlands wohl begründet, aber Hoffnung kann, wie auch ihr gewichtigster Philosoph, Ernst Bloch, wußte, enttäuscht werden.
Im Unterschied zu Reinhold Schneider gesellte sich Hans Friedrich Blunck (1888–1961) zu den satanischen Mächten. In eben diesem Jahr 1944 plante die Hanseatische Verlagsanstalt die Fortführung seiner Werkausgabe; schon 1937, seinen 50. Geburtstag im Blick, waren zehn Bände erschienen. Aus naheliegenden Gründen ist es dann auch dabei geblieben. Wie andere konservative, völkische Autoren war auch Blunck Fehleinschätzungen und Wunschvorstellungen bezüglich des Nationalsozialismus erlegen. Und er zählte zu dessen Nutznießern, wie die hohen Auflagen und seine institutionelle Verbundenheit zeigen. Man irrt nicht, in ihm einen Opportunisten zu sehen; er selbst sprach von »Taktik«. Es kann nicht überraschen, daß Blunck nach 1945 als »NS-Schriftsteller« aussortiert wurde. Doch ist die Sache komplizierter, als das leichtgängige Etikett »Blut und Boden« nahelegt. Bettina Hey’l (Geschichtsdenken und literarische Moderne, Tübingen 1994) hat demonstriert, wie sich Bluncks Werk differenziert betrachten läßt, um dessen Besonderheit zu verstehen. Daß Blunck, ohne ein genuiner Vertreter nationalsozialistischer Literatur zu sein, ein Schriftsteller im Nationalsozialismus wurde und somit auch dessen »Instrument«, sei die Folge eines »inhaltlich wie formal wenig dezidierten und konturierten Erzählwerks«, das durch »Mehrdeutigkeiten«, »Unbestimmtheit«, eine »kalkulierte ›Passivität‹« geprägt sei – keineswegs Merkmale »eindeutiger« NS-Literatur.
Obwohl die Literatur leider völlig hinter der Politik verschwunden scheint, lassen sich die ästhetischen Muster auch auf Bluncks Funktionärsrolle beziehen. Zwar ging Blunck als Präsident der Reichsschrifttumskammer (1933–35) von einer ständischen Neuordnung des literarischen Lebens aus – im Gegensatz dazu war er Aushängeschild einer Bewegung mit totalitärem Anspruch. Im Dezember 1934 überraschte Bluncks Idee eines Konkordats mit der jüdischen Bevölkerung, was die Gestapo schlicht als »abwegig und absurd« bezeichnete – obwohl er darüber sein Amt loswurde, engagierte er sich aber sogleich wieder im Vorstand des Deutschen Auslandswerks (DAW, 1936–40). Blunck schwebte ein europäisches Dichter-Netzwerk in Form von Freundschaftsgesellschaften vor – mußte sich aber bald mit Joachim von Ribbentrops anders gelagerten Interessen arrangieren, bis Blunck sich aus dem zunehmend von der SS dominierten DAW zurückzog.
Über viele Jahr hinweg partizipierend, agierte Blunck nicht als Nationalsozialist, aber im nationalsozialistischen Machtgefüge, mehrdeutig, wenig dezidiert bis »kalkuliert passiv« – als »Instrument« der Gleichschaltungs- und Propagandapolitik. »Es fehlte ihm die Stärke zu schaden«, so Wilhelm Stapel rückblickend, »aber auch die Stärke zu mehr als einem geflüsterten Nein.« Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, den Blunck – der Infanterie vor allem für Lesungen zugeteilt – 1940 in Frankreich, 1941/1942 dann in der UdSSR erlebte, entstand die zweibändige Sage vom Reich (1941/43), ein antikisierendes Epos deutscher Geschichte bis zum Ersten Weltkrieg, ein, gelinde gesagt, recht sperriges Stück Literatur. Ausgerechnet diese germanisch-nationalistische, mit antijüdischen Einsprengseln versehene Sage landete 1944 auf der schwarzen Liste, während Blunck im selben Jahr eine Prosafassung, das Volksbuch der Sage vom Reich, veröffentlichen konnte.
Der Grund der Anfeindung lag in der gleichfalls nicht zu übersehenden christlichen Dimension: »Ewig wird Europa sich blutend zerreißen. / So will’s Gott nicht …« Dabei nutzte Blunck nicht urplötzlich christliche Bilder, wie das ebenfalls indizierte Andachtsbüchlein von 1942 (geschrieben 1936) belegt. Schon in anderen Passagen seines in weiten Teilen vor 1933 entstandenen Werks wie in der Erzählung »Seltsame Begegnung« (1925) hatte er Wotan und Jesus einander auf einem Feldweg in der Heide begegnen und sie als »Brüder« aus einer übergeordneten göttlichen Quelle hervorgehen lassen. Nun aber mißfiel die Verknüpfung von germanischer Mythologie und christlichen Motiven jenen Kräften, die das Christliche durch germanische Konstrukte verdrängen, auslöschen wollten, was, bei aller Distanz zur Kirche, Bluncks Sache nicht war: »Und stärker als das Drängen des Dunklen ist der Ruf des Ewigen Vaters«, heißt es dann auch im Volksbuch, »alle Seelen warten auf Ihn, auch in darbenden Stunden, wissend, daß viele noch sterben, Gezeiten taumelnden Leides über die Fluren kommen werden, dennoch wissend vom ehernen Willen des Schöpfers ums Reich und von der Menschen zu Ihm aufglühenden Sehnsucht.«
Diese Schlußworte des Volksbuchs trafen auf die unmittelbare Gegenwart des Jahres 1944 und erinnern, so überraschend es ist, an Reinhold Schneiders Satz, daß »des Menschen letzte Sehnsucht nach seiner Heimat« von den dunklen Mächten, sei das von ihnen verursachte Leid auch noch so unvorstellbar, nicht zerstört werden könne. Die ästhetische Mehrdeutigkeit hätte Blunck durchaus Möglichkeiten geboten, sich den Fängen »des immer Verneinenden« zu entziehen. Das hätte jedoch den eindeutigen Willen des Autors vorausgesetzt.
Friedrich Georg Jünger (1898–1977) zählte weder zu den entschiedenen Gegnern des Nationalsozialismus wie Reinhold Schneider, noch ließ er sich auf das Regime ein wie Hans Friedrich Blunck. Statt dessen hatte er sich in seine Silberdistelklause zurückgezogen (siehe Sezession Nr. 55/2013, S. 44–46) und 1944 mit Die Titanen eine mythologische Studie veröffentlicht, die dem politisch-historischen Geschehen weit entrückt schien. Die Epoche als »Zeit des Titanismus« charakterisierend, sparte Jünger aber nicht »mit verschlüsselten Bezugnahmen auf die Gegenwart« (Andreas Geyer) und nutzte die griechische Mythologie so zur Entschlüsselung des Zeitalters.
Die Titanen, wie Kronos und Rhea, Okeanos und Tethys, sind keine Götter, sie gehen den Göttern voraus. Ihre Namen lassen sich leicht mit elementaren Urmächten wie der Zeit und dem Wasser assoziieren, und so ist es »der Gang der Elemente, dem sie gebietend vorstehen«, als »Erhalter, Bewahrer, Hüter, Wächter und Lenker« einer Ordnung, die sie selbst aus dem Chaos geschaffen haben. Der Mensch ist »untrennbar an diese titanische Ordnung gebunden«, an »Zeitlauf, Jahreslauf, Tageslauf«. Geborgen in dieser geschichtslosen Ordnung, braucht er »nicht mehr wach, argwöhnisch und berechnend zu sein«. Mit Jean Gebser können wir auch vom archaischen Urmenschen sprechen, von »der gänzlichen Ununterschiedenheit von Mensch und All«. So wiegt sich der Mensch »in den Gang des Elementes ein« und folgt ihm »von der Geburt bis zum Tode«. Darin besteht seine einzige Aufgabe, und »um diese Aufgabe zu erfüllen«, bedarf er keiner Götter, Städte, Staaten oder Gesetze.
Der Sturz der Titanen durch ihre Nachfahren Zeus, Hades, Poseidon, um nur drei zu nennen, ist ein Machtwechsel, der die Ordnung verwandelt – die Geschichte bricht ein in die Zeit, die Menschen erwachen, sie stehen unvermittelt den Göttern gegenüber. Aber die Götter vermögen nicht, die Titanen »auszurotten«, denn das »Titanische gehört unverlierbar dem Bau der Erde an« und kann »nicht aus ihm weggedacht werden«. Sie bleiben in die Tiefe verbannt, wie Hesiod beschreibt, in der Übersetzung von Voß: »Allda sind die Titanen im nachtenden Schlunde des Dunkels / Eingehemmt, nach dem Rathe des schwarzumwölkten Kronion, / Tief in der dumpfgen Kluft, am Rand der unendlichen Erde.«
Nun muß sich der Mensch mit den Göttern herumschlagen – und mit sich selbst. Anstatt sich einfach dem Fluß der Zeit zu überlassen, auf natürliche Weise in die Ordnung der Welt eingebunden, ist er nun aufgerufen, sich bewußt in die Ordnung der Götter einzufügen und sein Handeln und seine Entscheidungen an ihren Geboten auszurichten. Was bekanntlich zu Konflikten zwischen Göttern und Menschen führen kann, um es milde auszudrücken – worum sonst drehte sich die griechische Mythologie?
Wenn aber der Mensch gegen diese Gebote aufbegehrt, seine Fähigkeiten und Möglichkeiten überschätzt und die Selbstbestimmung zum alleinigen Maßstab seines Handelns macht, um seinen eigenen Willen durchzusetzen, verstößt er gegen die Ordnung und überschreitet »die ihm zugeordnete Sphäre des Erreichbaren«. Damit wird er ein »Feind der Götter«, und sie lieben es nicht, »wenn der Mensch sich übernimmt«.
So ziehen sie sich vom Menschen zurück und überlassen »ihn sich selbst« – wenn dies aber geschieht, kehrt das Titanische wieder und »macht seinen Herrschaftsanspruch geltend. Denn wo keine Götter sind, dort sind Titanen.« Gibt sich der Mensch den titanischen Kräften hin, ist die Katastrophe vorprogrammiert: »Man ruft die Titanen nicht ungestraft.« Die Strafe folgt auf dem Fuß. Dem titanischen Menschen haftet stets etwas »Unfertiges« an, er »muß das Haus und den Becher zerbrechen« und verfällt seiner Allmachtsphantasie, jener »kranken Macht«, jenem »Wahn«, von dem Reinhold Schneider sagt, daß er doch nur »tönerne Paläste« baue. »Wo kein Maß ist, kann es auch nichts Großes geben«, schreibt Jünger. Wer selbst Element sein, die Natur überwältigen und beherrschen will, geht einen »Weg, der ins Unbetretene führt, den wenigsten bekannt, und wer ihn geht, der mißt nicht ab, wohin er geht und durch wen er geführt wird. Wo aber ist sein Ende?«
Nur im unausweichlichen Untergang – den die Zeitgenossen erfahren haben. Denn der Titanismus des Menschen »wird sichtbar in riesenhaften Plänen und Anstrengungen, die alles Maß überschreiten und kläglich scheitern an der Erschöpfung aller Kräfte.« Ein Satz wie ein gestochen scharfes Schwarzweißphoto Deutschlands im Jahr 1944. Jüngers Entzifferung der Geschichte trifft sich wie gezeigt mit den prophetischen Mahnrufen Reinhold Schneiders, und beide treffen sich mit Gedanken des wichtigsten Schülers von Othmar Spann, Walter Heinrich. Auch er betont, daß »Herrschaft immer an transzendente, übernatürliche Qualität geknüpft ist« und deren Auseinandertreten einen Verfall »ins Titanisch-Kriegerische einer rein materiellen Männlichkeit« nach sich ziehe. – So stehen sie im Bücherschrank nah beieinander, diese drei völlig unterschiedlichen Autoren mit ihren je eigenen Möglichkeiten und Grenzen, den unmittelbaren Prozeß der Geschichte mythisch-poetisch auszudeuten.