Es gibt in unserer Familie ein Spielchen, das bei längeren Fahrten beliebt ist. Einer zitiert einen Satz, und wer errät, aus welchem Buch er stammt, darf den nächsten Satz vorgeben. Gemeinsame Lesegrundlage sind ein knappes Hundert Werke. Auch die Kleinsten raten – erfolgreich – mit. Sie tippen den richtigen Titel, obwohl der Satz nur lautet: »Ja, das ist eine gruselige Geschichte«, oder: »Ich wollte, alle Leute wären heute so glücklich wie ich.« Wie das geht? Es geht, weil der Lesekanon aus Pixi-Büchern besteht.
Mein Kinderzimmer war bucharm, was den Dauerbestand anging. Ich hatte früh einen Ausweis der Leihbibliothek, zum Eigentum zählte hauptsächlich eine große Plastikkiste voller Pixi-Bücher. Auf der ersten Innenseite standen drei durchgestrichene Namen – von älteren Cousinen und einem Nachbarkind – und dann mit Filzstift, erst in Blockbuchstaben, dann mit ungelenker Schreibschrift, »Ellen«. Es gab in meinem Leben bislang kein Pixi-freies Jahrzehnt: In den Siebzigern wurden sie mir vorgelesen, in den frühen Achtzigern las ich sie selbst, ab den neunziger Jahren fungierte ich als Vorleserin.
Mittlerweile ist die Sammlung, auf etwa vierhundert Stück angewachsen, dem zehnten Kinderhändepaar überantwortet worden. Zahlreiche Exemplare muten mit ihren Klebestreifen reichlich antik an. Das sind die besten Exemplare, sie haben sicher den hundertsten Lesedurchgang hinter sich. Oder weit darüber: Die Pixi-Exemplare Schneewittchen – in hübschen Versen –, Jakob ist ein Zottelbär und die melancholische Aussteigergeschichte Viktor baut eine Brücke habe ich allein in den vergangenen Monaten grob geschätzt je zwanzig‑, dreißigmal (der gerade drei gewordenen Tochter) vorgelesen.
Bei den größeren Geschwistern hatte ich diejenigen Bücher, die nur Abzählreime, Sprüche oder Zungenbrecher enthielten, gemieden. Mir war der pädagogische Sinn lange entgangen. Mittlerweile werden diese Büchlein am liebsten gelesen, die Kinder freuen sich an Maß, Rhythmus und ironiefreiem Quatsch. »In der bimbambolschen Küche / geht es bimbambolisch zu, / Denn dort tanzt der bimbambolsche Ochse / Mit der bimbambolschen Kuh« – das fetzt mehr als lahme Geschichten vom »Wackelzahnfest« oder vom superpfiffigen Raben »Socke«.
Früher war’s besser: Das allenthalben beargwöhnte Verdikt der Kulturpessimisten bewahrheitet sich in Sachen Pixi aufs neue. Die meisten der neueren Pixi-Bücher, von Großmüttern in wohlmeinender Absicht geschenkt, sind weitergegeben oder der Papiertonne überantwortet worden. Sie sind wirr, ästhetisch wenig ansprechend und moralisch seltsam, sie mögen nicht vorgelesen werden. Sie weisen Satzbauten, Nebenhandlungen und dadaistisch anmutende Effekte auf, die vielleicht für Zwölfjährige schlüssig oder inspirierend wären – aber wer liest mit zwölf noch Pixis? Die aktuellsten Serientitel, auch die unter Federführung von Heidi Klum, Giovanni di Lorenzo und anderen Prominenten gedichteten, müssen darum in dieser Zusammenstellung fehlen.
Pixi bedeutet Kobold oder Wichtel. Der Däne Per Carlsen nannte die Bücher im Zehnmal-zehn-Zentimeter-Format großen Mini-Bücher so, als er nach Hamburg kam, um hier einen Tochterverlag zu gründen. Eine ähnliche Reihe (A Pixie Book) gab es in den USA schon seit den vierziger Jahren. Carlsen gab zunächst einige Folgen mit dem dänischstämmigen Bären Petzi heraus (der erst später in die Pixi-Reihe integriert wurde) und verlegte 1954 das erste Pixi: Miezekätzchen.
Unter Buchhändlern galt das Format zunächst als »Schund«, der Verkaufserfolg aber sprach für sich: 100 000 betrug die Auflage im ersten Jahr. Das erscheint viel, ist aber wenig gegen die heutigen Zahlen: Jährlich gehen 13 Millionen dieser Büchlein über die Theke. Pixi kennt man in den meisten europäischen Ländern, von Albanien bis zu den Färöer-Inseln, und selbst in Taiwan und Syrien. Dieses Jahr feiern die Pixi-Bücher sechzigjähriges Jubiläum.
Die Pixi-Bücher der ersten fünfzehn Jahre sind in ihren abgerundeten Inhalten simpel und bieder. Sie titeln Tierkinder im Walde oder Hundegeschichten und eignen sich für die Allerkleinsten ab zwei Jahren. In den frühen Sechzigern gibt es etwa den autoritären Struwwelpeter im Pixi-Format und den Roten Blitz mit dem »Negerpüppchen Tintenklecks« als Protagonisten. Zahlreiche Übersetzungen aus dem Amerikanischen treten hinzu, sind auch im US-amerikanischen Stil der sechziger Jahre gezeichnet. Es wird mitunter ordentlich psychologisiert, das schadet aber nichts. Da wäre Peterle, der kleine Kater, der aus Selbstschutz allen Tieren aggressiv gegenübertritt und sich dadurch manchen Stich und Schnabelhieb einfängt. Er wird draus lernen! Oder die Fohlengeschichte des Junghengstes Max, der so gern berühmt wäre wie die Rennstute oder das Zirkuspferd und sich um eines Alleinstellungsmerkmals willen in roter Farbe wälzt. Das beißt in den Augen – so geht’s nicht!
Noch engagierter im Ton werden die Geschichten ab den Siebzigern. In Teddy und das rote Auto rast der Angeberteddy alle kleinen Tiere über den Haufen, bis er im Elefanten einen unumstößlichen Gegner fndet. Teddys Auto ist hin, und alle gucken. Wer den Schaden hat, braucht für Spott nicht zu sorgen! Hübsch auch Wer macht die Wurst?: Man ehre das Handwerk! Jeder hat seine Aufgabe: »Und wer putzt die Schuh’? – Du!«
In Hilda Putzteufel (1973), einer klassischen 68er-Geschichte (und zugleich ein familiärer Dauerbrenner), kann es Hilda »nie sauber genug« sein. Kaum ist der häusliche Staub beseitigt, gibt es schon wieder Spinnweben. Hilda kauft einen Staubsauger und wirft die ekligen Tiere aus dem Haus. Da entwickelt der Staubsauger eine böse Eigendynamik … und bläst Hilda in hohem Bogen hinaus. Der Ton wird moralischer und aufklärerischer. Das wunderhübsche Pixi Rudis Stablampe ist eine kindgerechte Übersetzung von Goyas berühmtem Bild »La sueño de razón produce monstruos«: Bei einem nächtlichen Gang wähnt Rudi überall Ungeheuer. Der helle Schein der Taschenlampe bringt Aufklärung: Das ist kein Gorilla, das ist Buschwerk! Und jenes kein Hammermonster, sondern nur eine Müllkippe!
Oder nehmen wir Jo, der Cowboy (1978): ein Buch der genderahnenden, migrantophilen Zwischenzeit. Mädchen sind verletzlich, tragen noch Zöpfe, aber bereits Latzhosen. Ein kleiner Nicht-Weißer stellt sich auf die Seite der Mädchen, die vom wilden Jo gepeinigt werden. »Jo träumt nur von Cowboys und Indianern. Die sieht er im Fernsehen.« Dauernd gibt es Ärger wegen Jo! ADHS war damals noch kein Begriff.
Die Folgen der späten siebziger und frühen achtziger Jahre sind noch hübsch klar gemalt (hervorzuheben wären so großartige wie künstlerisch unterschiedliche Illustratoren wie Iben Clante, Ilon Wikland, Richard Scarry, Erika Meier-Albert oder das erst jüngst verstorbene Ehepaar Rettich), die Inhalte drehen sich oft um Begrifflichkeiten wie Hilfsbereitschaft und Verantwortung (in Das Hundekörbchen und Strubbel und Purzel haben die Kinder Hunde, aber die machen ordentlich Arbeit …), was noch an Sekundärtugenden wie »Pflichtbewußtsein« erinnern mochte.
Ab Mitte der achtziger Jahre kam es, grob gesagt, zu einem ästhetischen relaunch, der mit einer Verflachung der erzählten Geschichten einherging. Selbst in den einzelnen Märchenfolgen, die es nach wie vor gibt, dominiert ein plumper, pausbäckiger Strich. Motto: Sie sind wie du, lieber Leser, der du sicher gern Fernsehen schaust, sie sind sehr heutig und sollen dich nicht in ein fernes Reich führen, sondern deine Alltagswelt harmlos und unterhaltsam bereichern.
Ab 2001 kommt das Mädchen Anna mit ihrem vertrottelten Vater zum Zug: Der Papa tut immer groß, dabei kann der Idiot nicht mal einen Weihnachtsbaum oder ein Zelt aufstellen. Männer!, lautet die Lektion für die jungen Leserinnen: große Klappe, nichts dahinter. 2007 gibt es ein paar Folgen Prinzessin Horst (mit Krankenschwester Volker). Eine Rezensentin urteilte zutreffend: »Für sehr coole, ironische Eltern«. 2009 wurde die gräßliche Serie Die kleine Prinzessin (mit Einzelfolgen wie Ich will die neuen Schuhe, Ich mag keinen Salat, Ich laß mich nicht kämmen) aufgelegt, in der ein verwöhntes Töchterchen ihre ganz und gar hilflosen Eltern malträtiert. Cui bono?
Und zur Fußball-WM der Frauen gab es 2011 eine Serie mit Mädchen am Ball: »Mädchen wollen Fußball-Spaß! Diese Serie richtet sich an Anfängerinnen und Fortgeschrittene sowie an echte Cracks zwischen Bolzplatz und Stadion.« Der Zeitgeist schreibt mit. Freilich tut er dies bei Kinderbüchern seit je, interessant ist, daß der antiautoritäre und in jeder Hinsicht »queere« Vergesellschaftungston hier im kleinsten Format und bei der jüngsten Zielgruppe angekommen ist.
Im diffusen Zwischenreich zwischen gräßlich und schön rangieren unsere Dutzend Conni-Bücher, die zum größten Verkaufserfolg des Carlsen-Verlags gehören. Mittlerweile existiert ein umfassendes Conni-Universum, es gibt Conni-Romane, ‑E-Books und ‑Apps. Zu meinem eigenen Freundeskreis zählte Conni noch nicht, aber mit den ersten Kindern hielt das fröhliche Mädchen mit seiner stromlinienförmigen Bilderbuchfamilie Einzug bei uns. Conni lernt schwimmen, Conni backt Pizza, Connis erster Flug… Eine Zeitlang war das hier im Hause sehr angesagt. Es ging, bis die ersten CDs kamen und mit ihnen ein enervierender Fröhlichkeitston, eine bundesrepublikanische Heiterkeit und süßliche Versteh-Stimmen, die uns Eltern unerträglich waren. Wir sagten nichts. Was soll man schon sagen gegen eine Familie, in der alle Fragen des Lebens im überglücklichen Heiterkeitsmodus bearbeitet werden?
Irgendwann tauchte eine selbstaufgenommene Kassette auf. Die beiden Großen, damals vielleicht acht und neun Jahre, hatten eine eigene Conni-Kassette eingespielt. Die x‑fach abgenudelte Eingangsmelodie (»Conni! Conni! Mit der Schleife im Haar!«) war aufs Rüdeste abgewandelt worden. Wenn meine Erinnerung nicht trügt, hatte Conni nun … eine Meise im Haar? Oder was? Jedenfalls waren die selbstkreierten Folgen barbarisch und führten den Nettigkeitston ad absurdum. Sie titelten: Conni trinkt Bier, Connis erster Fluch, Conni klaut Zigaretten. Das war nicht bedenklich, es war ein kindliches Emanzipationsstreben. Uns gefel es klammheimlich, daß unsere stockkonservativen Kinder hier eine revolutionäre Ader aufblitzen ließen. Den Kleineren steht das noch bevor, vielleicht. Wir lesen ihnen Conni natürlich harmlos und ohne Unterton vor.
Die Illustratorin Eva Wenzel-Bürger hat nicht nur die Conni-Bücher, sondern auch die Pixi-Figur gezeichnet, die seit über dreißig Jahren das Logo der Reihe darstellt. Seit 1954 sind in Deutschland über 300 Millionen Exemplare verkauft worden. Bisher sind rund 2000 verschiedene Titel erschienen. Jede Auflage beträgt mindestens 120000 Stück. Der Preis für ein Pixi-Buch betrug anfänglich 0,50 DM, heute kostet ein Büchlein 0,99 €.
Es gab und gibt vielfältige Konkurrenten in diesem Segment. Den alten Pixis können sie kaum das Wasser reichen – obgleich einige Pevau-Büchlein (hochspannend: Die kleine Lok und Hubbi, der fröhliche Hubschrauber) des alten Pestalozzi-Verlags ebenfalls familiären Kultstatus haben. Carlsen hatte sich auch das Zehnmal-zehn-Zentimeter-Format patentieren lassen. Das führte zu einem – zugunsten von Carlsen entschiedenen – Rechtsstreit, nachdem die Abenteuer von Lurchi, dem Werbeträger der Schuhfirma Salamander, ebenfalls in der Größe zehn mal zehn herausgekommen waren. Apropos Lurchi: Diese heldenhafte Amphibienfigur erlebte seit 1937 – gut geerdet durch allerbestes Schuhwerk – famose Abenteuer in aller Herren Länder. In den Neuauflagen sind nicht nur Lurchis Großtaten bei »den Wilden« und den »Kannibalen« getilgt worden, Lurchi wurde ab den siebziger Jahren auch vom tollkühnen Hasardeur zum humanistischen, ökologisch gestimmten Müllaufsammler.
Die zuvor nackten tierischen Protagonisten wurden nun eingekleidet. Ein vorkommendes »Negerlein« wurde zum »Schornsteinfegerlein« umgedichtet. Männlich ist es seltsamerweise geblieben, sämtlichen Kaminkehrerinnen zum Trotze. Im Buchhandel sind Einzel-Pixis nicht bestellbar, sie werden als Kassettenpack – zu acht Stück – ausgeliefert. Unsereins hat zum Aufstocken der eigenen Sammlung gern die bekannten Gebrauchtwarenhandlungen bemüht. Einen umfassenden, gutsortierten Verkaufskatalog sämtlicher Pixis findet man unter www.detlef-heinsohn.de. Längst gibt es auch Sachbuch-Pixis fürs Grundschulalter. Wie kontrovers diese Büchlein wahrgenommen werden, kann sich anschauen, wer in die Suchmaschine einmal »pixi rassistisch« eingeben mag.