Aus der Menge der Arbeiten ragt die Studie aus der Wissenschaftlichen Reihe des Instituts für Staatspolitik hervor (Deutsche Kriegsschuld 1914? Revision einer hundertjährigen Debatte, Schnellroda 2014). Sie gibt einen Überblick über den Deutungswandel dieser »Ur-Katastrophe« des 20. Jahrhunderts bis in unsere Tage. Schon in der Weimarer Republik versuchten deutsche Historiker zu belegen, wie ungerechtfertigt der Schuldvorwurf in Artikel 231 des Versailler Friedensvertrages war. Sie gaben umfangreiche Aktenbände heraus, die alle die Kriegsschuldfrage betreffenden Quellen beinhalteten. In der Forschung herrschte Konsens, daß alle Mächte in den Krieg »hineingeschlittert« seien. Diese Sichtweise hielt sich bis 1945. Im Zuge der alliierten »Reeducation« gewann eine Interpretation mehr und mehr an Boden, die den Ersten Weltkrieg in eine Reihe mit dem Zweiten stellte und beide Kriege als Ergebnis eines deutschen »Sonderweges« deutete, des »langen Wegs nach Westen«, der jetzt endlich an sein Ziel geführt habe. Erst mit Fritz Fischers Buch Griff nach der Weltmacht von 1961 gewann die neue Sichtweise Oberhand, Deutschland trage im Bunde mit Österreich-Ungarn die Hauptschuld am Kriegsausbruch von 1914. Dieses Urteil kam zustande, weil sich mit Fischers Werk ein ausschließlich auf Deutschland verengter Blick der Forschung durchzusetzen begann. Und dabei hatte Fischer die deutschen Quellen konsequent fehlinterpretiert, wie später festgestellt wurde. Impulse für einen anderen Interpretationsansatz kamen von Forschern aus dem angelsächsischen Raum, aber erst Christopher Clarks Buch Die Schlafwandler brach das Eis. In seinem Windschatten erschienen dann auch neue Arbeiten von deutschen Kollegen – Jörg Friedrich, Herfried Münkler, Konrad Canis –, die den germanozentrischen Blick ablegen und differenzierter argumentieren. Sie haben zwar teilweise vehementen Widerspruch provoziert, jedoch hat sich die Diskussion längst vom akademischen Bereich verlagert und die Feuilletons der Mainstream-Presse erreicht. Die Studie stellt fest: Die »Fischer-These« ist tot. Ein Paradigmenwechsel findet statt. An das Selbstverständnis der Deutschen als »schuldige Nation« ist eine Mine gelegt.
Einer dieser angelsächsischen Forscher ist der in der Türkei lehrende US-Historiker Sean McMeekin, der schon mit einer Arbeit zu den russischen Ursprüngen des Ersten Weltkriegs hervorgetreten ist. In seinem neuen Buch (Juli 1914: Der Countdown in den Krieg, München 2014) untersucht McMeekin die politischen Abläufe vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges und konzentriert sich dabei auf die Zeit nach dem Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914. Er geht zunächst darauf ein, wie die Regierungen der fünf Großmächte auf das Mordkomplott reagierten. Danach schildert er die einzelnen Phasen der Juli-Krise bis hin zu den wechselseitigen Kriegserklärungen Ende Juli/Anfang August. Das Werk endet mit einem Epilog, in dem der Autor die jeweilige Verantwortung der fünf Großmächte für die schrittweise Eskalation der Krise und den Kriegsausbruch gewichtet und abwägt. Für ihn steht fest: Deutschland plante keinen Präventivkrieg. Vielmehr waren Frankreich und Rußland die zum Krieg treibenden Mächte. Rußlands geheime Kriegsvorbereitungen – ein Verfahren, das schon 1912/13 entwickelt wurde – gegen Deutschland und Österreich liefen bereits sieben Tage, ehe Deutschland den Zustand allgemeiner Kriegsgefahr proklamierte. Das Zarenreich habe den österreichisch-serbischen Konflikt bewußt verschärft, um ihn zu einem europäischen Konflikt auszuweiten. Mit Rückendeckung Frankreichs und Großbritanniens habe Rußland seinen Plan umsetzen wollen, endlich das Osmanische Reich zu zerschlagen, Konstantinopel zu erobern und die Meerengen unter russische Kontrolle zu bringen. Deutschland hatte sein Heer als letzte der europäischen Mächte mobilisiert und galt lange Zeit deshalb als Aggressor, weil es zuerst den Krieg erklärt hatte. McMeekin stellt fest, daß eine Mobilmachung an sich bereits den entscheidenden Schritt zum Krieg bedeutete, und diesen gingen Rußland und Frankreich als erste. Er verweist auf die Fehler, die die Mittelmächte im Juli 1914 gemacht hätten – Deutschlands »Blankoscheck« und Österreichs überhartes Ultimatum an Serbien; aber letztlich gingen beide Staaten davon aus, daß sich der Konflikt auf Serbien begrenzen lasse. McMeekins überaus minutiöse Schilderung der Juli-Ereignisse macht die Verantwortung der Entente für den Kriegsausbruch deutlich.
Karlheinz Weißmann widmet sich in seinem jüngsten Werk der Erfindung des »häßlichen Deutschen« (1914 – Die Erfindung des häßlichen Deutschen, Berlin 2014). Dieses Stereotyp sei einerseits das Produkt einer bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg in Großbritannien und Frankreich in Gang gekommenen Entwicklung – Stichpunkte sind der »Navy Scare« in England oder die »Revanche-Gelüste« in Frankreich –, andererseits erlangte es erst durch die Massenpropaganda der Jahre 1914–18 seine Allgegenwärtigkeit. Weißmann zählt die Propagandalügen über die Deutschen auf, die in Wort und Bild unters Volk gebracht wurden (Raub, Brandstiftung, Vergewaltigung, Verstümmelung, Mord) und dokumentiert sie anhand von Abbildungen zahlreicher zeitgenössischer Plakate, Karikaturen und Flugblätter. Propaganda diskriminiere; daraus folge, daß der Feind, dem bestimmte Greuel mit Erfolg unterstellt würden, im Kriegsfall nicht als militärischer Gegner angesehen werde, dessen Motivation im Prinzip der eigenen entspreche (zu kämpfen, zu überleben und – wenn möglich – zu siegen), sondern »als Verbrecher, mehr noch: als absolutes Böses, Sendbote der Hölle, Widersacher nicht nur meiner Kirche, meines Staates, meiner Nation, sondern Widersacher der Menschheit: Ungeheuer, Unmensch, Untermensch.« Propaganda wirke so, daß der Mensch nicht mehr als Individuum, sondern als Angehöriger einer – übel beleumdeten – Nation wahrgenommen werde. Das führe denn dazu, daß ansonsten hellsichtige Köpfe sich zu Sätzen wie dem folgenden versteigen konnten: »Heute«, schrieb der britische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Rudyard Kipling 1915, »gibt es nur eine Zweiteilung in der Welt … Menschen und Deutsche.« Die Entmenschlichung des Gegners mache ihn vogelfrei, mit ihm scheine ein normales Miteinander nicht mehr möglich zu sein. Solche Urteile beruhten auf der »Wahrnehmung eines Feindbildes, das die Konsequenz von Propaganda, genauer: Schwarzer Propaganda, war«.
Folge dieses Denkens sei es gewesen, daß Deutschland zerstört, die »Bestie« vernichtet und die Welt amerikanisiert werden müsse. »Make the world save for democracy« ist ein Schlag
wort, das auch heute noch als Begründung für weltweite Militärschläge herhalten muß. Die deutsche Propaganda dagegen sei von Betulichkeit gekennzeichnet gewesen. Man verfügte nicht über die Entschlossenheit oder Skrupellosigkeit, um eine Propaganda im Stil des Gegners zu betreiben. Bezeichnenderweise kam ein »vom Kriegsministerium 1916 in Auftrag gegebenes Gutachten … zu dem Schluß: ›Die Kriegführenden haben kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes‹, und: ›Kein Staat hat das Recht, in das Selbstbestimmungsrecht des feindlichen Staates durch Erregung seiner Bevölkerung oder seines Heeres gegen die souveräne Gewalt einzugreifen.‹« Die landläufge Meinung – so Weißmann Schlußfolgerung –, daß moderne Propaganda die Erfndung totalitärer Systeme des 20. Jahrhunderts sei, ist falsch. »Sie entstand auf dem Boden der am weitesten entwickelten Massendemokratien Nordamerikas, Großbritanniens und Frankreichs. Hier wurden auch zum erstenmal Verfahren ersonnen und erprobt, die auf etwas abzielten, was man in der Sprache des heutigen Marketings ›branding‹ nennt: Gemeint ist das ›Einbrennen‹ bestimmter Schlüsselworte, Parolen und Bilder. Und hier wurde zum erstenmal im ganz großen Stil Lüge und Manipulation eingesetzt, um einen Gegner zuerst moralisch, dann tatsachlich zu vernichten.« Und dieses Muster hat, ausgehend vom Ersten Weltkrieg, seinen Siegeszug rund um den Erdball angetreten: von »abgeschnittenen Kinderhänden« des Jahres 1914 bis zu »Hufeisenplänen« und »Babys-aus-Brutkä-sten-Reißen« in der jüngeren Vergangenheit.
Mit der Kriegspropaganda des Ersten Weltkrieges befaßt sich in einer Neuerscheinung auch Helmut Roewer (Kill the Huns! – Tötet die Hunnen! Geheimdienste, Propaganda und Subversion hinter den Kulissen des Ersten Weltkrieges, Graz 2014). Er weitet den Themenbereich aber zusätzlich auf die Tätigkeit der Geheimdienste aus. Eingehend schildert er die Verwicklung Serbiens an der Ermordung des österreichischen Thronfolgers, das sich der Unterstützung des »slawischen Brudervolkes« in Rußland sicher sein konnte. Hierbei nimmt er die gegenseitigen Spionageaktivitäten vor und nach 1914 in den Blick. Der Autor geht auf den Fall des neutralen Belgiens ein, dessen Territorium nach dem deutschen Schlieffen-Plan als Durchmarschgebiet vorgesehen war. Er stellt richtig fest, daß Belgien wegen seiner Militärabsprachen mit England keinen Neutralitätsstatus mehr beanspruchen konnte, aber da diese Konsultationen geheim blieben, stand nach dem Einmarsch 1914 Deutschland als Aggressor da. Nicht nur dadurch setzte sich das Kaiserreich in den Augen der Weltöffentlichkeit ins Unrecht – was von den Briten propagandistisch ausgeschlachtet wurde. In Löwen wurden darüber hinaus belgische Zivilisten hingerichtet, weil sie aus dem Hinterhalt auf deutsche Trosse geschossen hätten. Aus Rache sei außerdem ein Gutteil der Stadt niedergebrannt worden. Leider versäumt es Roewer, den Sachverhalt genau zu untersuchen. Tatsache ist, daß die belgische »Garde civique«, die in der Masse keine Uniform trug, mit Jagd- und Schrotgewehren in den Kampf eingriff. Zahlreiche deutsche Soldaten erlitten Verwundungen durch Schrotkugeln, viele wurden getötet. Kämpfer der »Garde civique« hatten in den Augen der Deutschen gemäß Haager Landkriegsordnung keinen Kombattantenstatus, bei Anschlägen wurden nach geltendem Kriegsrecht Geiseln genommen und meistens hingerichtet.
Ein interessantes Kapitel widmet sich der Revolutionierung des Zarenreichs durch die deutsche Reichsleitung, was 1918 zum Ausscheren Rußlands aus der Feindkoalition führte. Der Vorwurf des Autors, damit hätten die Deutschen ein bolschewistisches Regime in den Sattel gehoben, das der Welt noch viele Probleme bereitete, ist im nachhinein gesehen zwar richtig, jedoch unwissenschaftlich. Deutschland stand 1917 das Wasser bis zum Hals. Mit der Durchschleusung Lenins nach Petrograd bot sich die Möglichkeit, den kräftezehrenden Zweifrontenkrieg endlich zu beenden. Was sich daraus in fernerer Zukunft entwickeln sollte, entzog sich der Kenntnis der Zeitgenossen. Wenn es ums Überleben geht, greift ein Ertrinkender bedenkenlos nach jedem Rettungsring. Im großen und ganzen zählt der Verfasser – jenseits der Operationsgeschichte – viele interessante Aspekte des Ersten Weltkriegs auf. Dem einen oder anderen Punkt hätte ein wenig mehr wissenschaftliche Gründlichkeit jedoch gutgetan.
Auch Jörg Friedrich befaßt sich mit der paradoxen Situation in Belgien, das die Deutschen eigentlich so schnell wie möglich verlassen wollten, während die Brüsseler Regierung und ihre bewaffneten Kräfte alles taten, die fremden Truppen im Land zu halten: Widerstand der Festungen, Zerstörung der Infrastruktur, Überflutung weiter Küstengebiete, Freischärlerkrieg aus dem Hinterhalt. Friedrich betont, daß sich die Deutschen in Belgien nicht anders verhielten als etwa die Briten im Burenkrieg wenige Jahre zuvor. Ortschaften, aus denen heraus irregulärer Widerstand geleistet wurde, brannte man nieder. Mit der Waffe in der Hand angetroffene Zivilisten wurden erschossen. Nebenbei klärt er das Geheimnis um die »abgeschnittenen Kinderhände« auf: Eine Strafmaßnahme der Kolonialmacht Belgien in der als »Familienunternehmen des Königshauses« geführten Kolonie Belgisch-Kongo war das Abschlagen von Händen. Die Könige Leopold und Albert bezogen aus der Kolonie einen jährlichen Erlös von 3,5 Millionen Francs. Jetzt wurde einfach der Spieß umgedreht und die Deutschen fälschlicherweise dessen bezichtigt, was die Belgier in Afrika kurz zuvor selbst praktiziert hatten. Auch die US-Amerikaner handelten in ihrem Kolonialkrieg auf den Philippinen nicht anders als die Deutschen, das hinderte sie aber nicht daran, sich moralisch über »die Barbarei« der deutschen Armee in Belgien zu empören.
Die von einem Teil der jüngeren Forschung behauptete »Massenhysterie« und »Franctireurs-Projektionen« bei deutschen Truppen, die sich vor etwas ängstigten, was es gar nicht gegeben habe, bezeichnet Friedrich mit nachvollziehbaren Argumenten als Konstrukt, dem die Quellen eindeutig widersprechen, und führt Aussagen betroffener deutscher Soldaten, Anweisungen belgischer Regierungsorgane und Berichte der belgischen Presse an. Friedrichs Arbeit (14/18 – Der Weg nach Versailles, Berlin 2014) besticht durch seine Vergleiche mit ähnlichen Konstellationen in anderen historischen Epochen. Belgien 1914, Dresden 1945 und Afghanistan 2014 weisen Parallelen auf: Mit dem Mittel des Terrors wird versucht, den Krieg zu beenden, und auch der Angriff einer Drohne tötet neben dem im Pkw sitzenden Taliban-Führer unterschiedslos alle in seinem Umkreis befndlichen Personen. Friedrichs essayistische Darstellung konfrontiert den Leser mit etlichen Gedanken- und Argumentationssprüngen, häufig wird Bezug genommen auf Zeiten, die vor oder nach den hier geschilderten Ereignissen liegen. Wer nicht einigermaßen historisch bewandert ist, wird manchen Exkursen kaum folgen können. Nicht selten bleiben Zitate unbelegt. Das Buch richtet sich daher nicht so sehr an den informationshungrigen Laien, sondern eher an Leser, die vom trockenen und geschraubten Stil der Katheder-Historiker die Nase voll haben.