Vor fünfzig Jahren, am 19. Juli 1964, starb Friedrich Sieburg. Er war einer der letzten großen und renommierten Kulturkritiker sui generis.
Diese Aussage sollte man ausleuchten. Ein Kulturkritiker sui generis: Das ist keiner, der Auswüchse tadelt (»immer mehr Nackte auf der Bühne«) oder an Symptomen mäkelt (»Buchhandlungen sterben aus«), sondern einer, der die Phänomene an der Wurzel packt, und zwar habituell und notorisch. Leitmotto: So also liegen die Dinge – und sollte es Zufall sein, daß es so und nicht anders ausschaut? Groß: Sieburg war kein Kleingeist. Nicht das Ressentiment führte ihm die Feder. Nicht der Neid auf die Spätergeborenen, die schon historisch weicher Gebetteten, denen der Wohlstand gebratene Hühnerschenkel ins Maul fliegen ließ. Zukurzgekommene gab und gibt es ja reichlich im Heer der Kulturkritiker, deren Weltekel sich aus einem Ungerechtigkeitsempfnden speist und die eben das Dekadenz heißen, dessen sie selbst nicht teilhaftig werden durften – die Ungnade des Schicksals, die dazu führt, daß man den Jüngeren oder Schöneren ihr Nutznießertum mit verklebten Argumenten verleidet. Renommiert: Sieburg war so populär wie umstritten. »Wenn deutsche Schriftsteller zusammensaßen und von Langeweile bedroht wurden, genügte es, seinen Namen zu nennen, um sogar den schläfrigsten auf den Plan zu rufen«, erinnerte sich Marcel Reich-Ranicki nach Sieburgs Tod und vor seiner eigenen Übernahme der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Sieburg selbst zwischen 1956 und 1963 innegehabt hatte. Einer der letzten: Mit Sieburg endete eine Generation. Sie starb nicht wirklich, sie gab ihre Federführung ab. Sein Todesjahr war jenes Jahr der Weichenstellung, das heute als »1968« gilt. Sieburg tat seine letzten Atemzüge zwischen denen Benno Ohnesorgs und Che Guevaras.
Die Zeit der umfassenden Kulturkritik war vorbei. Zumindest vollzog sich eine Art Wechsel der Brillenmode. Man trug als Kritiker nun Gläser für Kurzsichtige, mit linker Hand geschliffen. Sieburg war übrigens gar kein Brillenträger, sein Blick war scharf. Nachfolgenden Kulturkritikern seines Formats fehlte der Resonanzboden. Leute wie Armin Mohler (mit vergleichbar umfassender Bildung und ähnlichem Zugriff) schrieben bald nur noch für Nischen und Residuen. Man hielt sie klein, ihr Geltungsraum war verschwindend. Führte heute ein Redivivus in Sieburgs Geist und Sinne dessen Feder, man würde ihm ein Weblog gönnen und finden: gut durchdacht, gekonnt formuliert – aber wie unzeitgemäß!
Dabei prägte das Unzeitgemäße schon zu Lebzeiten Sieburgs Stil, obwohl er auf der Höhe seiner Zeit war, denn er nahm Entwicklungen, Tendenzen und Moden sehr genau wahr und beurteilte sie messerscharf. Sein Nachkriegswirken fand Raum in einer Zeit exakt vor jener Wasserscheide, die (öffentlich) Sagbares von Unsagbarem trennte. Seine Einlassungen hatten in den fünfziger und sechziger Jahren eine ähnliche Reichweite wie die des anderthalb Jahrzehnte jüngeren Joachim Fernau. Auch mag bei der Publikum in Teilen deckungsgleich gewesen sein. Beide schrieben für Leser, die ein deutliches Unbehagen an den neuen Zeiten verspürten: am Konsumbürger, am Mit- und Nachläufer, am Verfall von Sitte und Brauch, an den »niedrigen Zeitmächten, die den Menschen mit der Schlinge seines schlechten Gewissens fesseln und so um seine letzte Freiheit bringen wollen« (Sieburg). Fernaus Verkaufsschlager waren Volksbücher, sie wurden seinerzeit auch von Handwerkern und Volksschülern verstanden. Sieburgs feuilletonistische Notizen und seine Bücher (etwa seine Biographien zu Napoleon und Chateubriand oder die bereits 1935 erschienene zu Robespierre) rangierten ein Niveau höher. Fernau prägte die Bestsellerlisten, Sieburg den Diskurs. Das ist deshalb paradox, weil beide, der Preuße wie der Weltbürger, ihrer großen Leserschaft zum Trotze auf verlorenen Posten schrieben. Sie verteidigten beide eine verlorene Zeit, ein verloren zu gebendes Volk. Heute sind sie von gestern.
Sieburg, wiewohl von einem zunächst (eher) linken (als junger Mann, Infanterist und Fliegeroffizier im Ersten Weltkrieg, verfaßte er Verklärungspoesie über Luxemburg und Liebknecht), dann (eher) rechten und schließlich einem – zurückhaltend gesprochen – liberal-konservativen Standpunkt ausgehend, war kein Opportunist. Er glitt weder mit dem Hauptstrom, noch machte er es sich in lukrativen Nischen bequem. Er sagte, was zu sagen war. Von politischen Parteinahmen im engeren Sinne hielt er sich nach dem Krieg fern. Sein Freund Arno Breker berichtete, daß Sieburg einmal stillschweigend eine Festgesellschaft verlassen habe, weil dort eine politische Debatte entbrannt sei. Zur Not war Schweigen Gold – das betraf für Sieburg die Zeit zwischen 1939 und 1948. Die letzten drei dieser Jahre waren von einem Publikationsverbot geprägt, das die französische Besatzungsmacht verhängt hatte. Ausgerechnet! Sieburg war frankophil durch und durch, sein Buch Gott in Frankreich?, 1929 erstmals und fortan in Neuauflagen erschienen, ist bis heute eines seiner prominentesten Werke. Sieburg arbeitete seit 1925 (1932–1939 in Diensten der Frankfurter Zeitung) als Reporter in Paris, Joachim Fest nannte ihn den »meistbeachteten Auslandskorrespondenten der Zwischenkriegszeit.« Nach dem Krieg ist Sieburg vorgeworfen worden, er habe in seinem Frankreichbuch deutsche Kraft und Dynamik ausspielen wollen gegen französische Erschlaffung. Eine offenkundige Fehldeutung! Man wird eher in umgekehrter Senderichtung lesen müssen: Der Autor führte seinen Lesern in der Heimat vor, wie sehr es ihnen an Traditionsbewußtsein (»die Franzosen leben mit ihrer Geschichte wie mit einer Geliebten zusammen«), Stolz, Umgangsformen und literarischer Bildung fehlte.
Dieses Werk, das Sieburg berühmt machte, erschien zu jenem Zeitpunkt, als er, der 1893 im sauerländischen Altena geborene katholische Kaufmannssohn und promovierte Literaturwissenschaftler, sich gerade dem jungkonservativen Tat-Kreis um Hans Zehrer zugewandt hatte. Sieburgs nächstes Buch, Es werde Deutschland, erschien 1933. In dieser Zeit wird er zum Kontext der Konservativen Revolution gerechnet. Hier schon zeigt sich die Schwierigkeit, Sieburg schubladenhaft einzuordnen. Die Nationalsozialisten verboten 1936 das Werk, weil der Autor den Antisemitismus scharf geißelte. In der englischen Übersetzung (Germany – my country) hingegen bekennt sich Sieburg zum Nationalsozialismus, und er wird es später (in einer vielzitierten Rede von 1941) abermals tun. Er war dabei kein Parteigänger im engeren Sinne, er arbeitete in Ribbentrops Auslandsabteilung, residierte weiter in Frankreich und bereiste schreibend Afrika, Japan, Polen und Portugal. Eine freiwillige NSDAP-Mitgliedschaft ist umstritten.
1953 wurde Sieburg zum Professor ernannt, ab 1956 arbeitete er für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und wurde dort Literaturchef, wenngleich er seinen (nach großbürgerlicher Maßgabe eingerichteten) Wohnsitz in Württemberg nur unregelmäßig verließ. Die deutsche Gegenwartsliteratur, wie sie vor allem in Form der Gruppe 47 zutage trat, bekämpfte er so leidenschaftlich (»Zivilisationsliteraten«), das die Fetzen flogen. Alfred Andersch (dessen Bücher Sieburg gerade nicht in Bausch und Bogen verwarf) nannte den Kritiker daraufhin »die größte und stinkendste Kanalratte«, andere Mitglieder und Freunde der Gruppe 47 schickten – 2014 würde man das als plastischen shitstorm bezeichnen – Sieburg massenweise Gartenzwerge zu.
Sieburg war mit seiner geschliffenen Polemik ein Solitär der nichtlinken Publizistik. Wolf Jobst Siedler, ein Freund unter vielen Feinden, nannte Sieburg einmal einen »linksschreibenden Rechten«. Was soll das heißen? Wie schreibt man links? Fernau schrieb ja auch nicht im »rechten« Ton. Dessen Stil war flapsig bis an die Schmerzgrenze, von zeitaktueller Volkstümlichkeit, er verzichtete geradezu betont auf Prüderie. Man könnte sagen, mit heutiger Diktion: Fernau holte seine Leser dort ab, wo sie standen. Dazu ließ Sieburg sich nicht herab. Sein Publikum war eine intellektuelle Elite, der die Worte vergangen waren. Sieburg polterte nicht, er hatte deutliche Maßstäbe, aber keinen erzieherischen und keinen heischenden Ton. Kein Text von ihm atmet Verkniffenheit. Sieburg war ein brillanter Stilist, seine Feder und seine Gedanken sind von elastischer Gespanntheit. Die faktenhuberische Beweisführung eines gekränkten Bescheidwissers war ebensowenig seine Sache wie der zu Langeweile und Dogma neigende Duktus herkömmlicher Konservativer. Weniger aus Sturheit denn mit würdiger Gelassenheit pflegte er sich zwischen jene Stühle zu setzen, die die gesellschaftliche Nachkriegsordnung bereithielt.
»Daß unsere Lage aussichtslos ist, weiß ich seit langem. Ein Wahrheitsfanatiker«, so schrieb Sieburg in seinem grandiosen Aufsatz »Die Kunst, ein Deutscher zu sein« (1954), »würde den Geängstigten wahrscheinlich anherrschen: ›Entweder du hältst den allgemeinen Untergang für unvermeidlich, dann verlange keinen Trost, sondern bereite dich vor – oder du bist entschlossen, alle und alles um jeden Preis zu überleben, dann höre auf, an den üblen Vorzeichen genüßlich herumzuschlecken, und frage die Philosophen nicht!‹ Aber ich bin weit davon entfernt, mit dem Kopf gegen die Wand rennen zu wollen, an der schon härtere Naturen als ich gescheitert sind, der geringe Stand, dem ich als geistiger Mensch angehöre, duldet keine Fanatiker in seinen Reihen, wo wir doch auf Geschmeidigkeit angewiesen sind, solange wir die Schwächeren sind. Wir sind überhaupt nichts und haben keine Veranlassung, die Inhaber der Macht auf den Pfad der Wahrheit zu bringen. Sie sollen sehen, wie sie fertig werden, und uns leben lassen.« Die Unantastbarkeit des inneren Kerns: das war der Punkt, von dem aus Sieburg schrieb.
2010 beklagte mit Ijoma Mangold ein nachgeborener Kollege des großen Kritikers, daß Friedrich Sieburg »der Nachwelt ziemlich abhanden gekommen« sei. Schließlich sei von dem Bestsellerautor historischer Monographien heute kein Buch mehr im Handel erhältlich. Das war unmittelbar vor Thea Dorns großartiger Neuedition der ursprünglich 1954 erschienenen Lust am Untergang (Sezession 38/2010). Man muß hierzu ergänzen, daß der bedauernswerte Sieburg-Mangel nicht am fehlenden verlegerischen Interesse liegt. Die Erbwalter Sieburgs – namentlich Alexandra Senfft, die »Stiefenkelin« Sieburgs – verweigern die Rechte, was als Faktum doppeldeutig genug ausgedrückt sein mag. Frau Senfft, was den Sachverhalt etwas tragisch macht, ist zugleich Autorin des großartigen Buchs Schweigen tut weh (Sezession 21/2007). Hierin hatte die Doppelenkelin zweier Männer (nämlich Sieburgs und des 1947 erhängten Hanns Ludins) eine fulminante Betrachtung opportunistischer Vergangenheitsbewältigung geliefert.
Wir müssen also verzichten auf Sieburgs Renaissance. Das paßt, jedenfalls zur Sieburgschen Prophetie. Immerhin haben wir ein großes Angebot antiquarischer Werke und eben, durch Dorn überaus verständig einund ausgeleitet, die neun Sieburgschen Texte zur deutschen Lust am Untergang. In den hier enthaltenen Essays wie »Vom Menschen zum Endverbraucher« und »Wir sind tugendhaft« versprüht Sieburg seinen polemischen Geist. Es ist die Handschrift eines Rasiermessers, nur notdürftig verpackt in die Weichheit wehmütigen Wohlwollens. Niemand habe Glück mit Deutschland! rief er aus, wenn er von dieser Heimat sprach, »die uns zwischen Stolz und Furcht schwanken« lasse. Man dürfe gleichwohl nicht sein wie »jener kleingläubige Apostel, der ausrief: ›Ich kenne diesen Menschen nicht.‹ An Deutschland zu leiden und es doch nicht entbehren zu können, ist von jeher unser Los gewesen.« Kaum einer hat die Zäsur zwischen dem Vorkriegsdeutschen (dessen Wesen jahrhundertelang zu Recht stets gleichzeitig bewundert und gehaßt wurde) und dem »Bundesdeutschen«, dem »Restdeutschen« in solcher Schärfe beschrieben wie Friedrich Sieburg. Der Restdeutsche, durch »Umschulungsversuche und Gewissensexperimente, die seit 1945 wie ein Trommelfeuer auf ihn niedergingen«, am Rande der Erschöpfung, sei weniger »satt« denn »lethargisch« zu nennen. Sieburg sah den Punkt genau, warum es so kommen mußte: Nie sei ein Volk so überfordert worden wie das deutsche bei seinem Zusammenbruch. Das Zusammenspiel zwischen materieller Normalisierungsnotwendigkeit und dem Anspruch eines »elementaren Ausbruchs kollektiver Buße« habe zu dem Paradox geführt, daß nun am gefährdetsten Punkt der Welt der unbekümmertste Typ Mensch zu hausen scheine, der »nur an seine Motorräder, Rundfunkgeräte, Ferienreisen und Eigenheime denke« und gierig nach jedem neuen Massenkonsumgut greife. Die Kulturtechniken der SMS und des »Twitterns« waren ein halbes Jahrhundert entfernt, als Sieburg eine Generation heraufziehen sah, die »nach Hautcreme riecht, sich nach Vitamintabellen ernährt… und mit optischen Eindrücken so überschwemmt wird, daß sie beginnt, das Sprechen zu verlernen, dessen Ausdrucksmöglichkeit auf einen kleinen Vorrat und auf wenige hundert Worte zusammengeschrumpft ist.« Wir Deutschen hätten unsere Geschichte eher vergessen als revidiert: »Wir haben die Verdrängung der Klassiker, die auf geringen Widerstand stieß, zum Programm gemacht. Die Unfähigkeit, eine echte Überlieferung zu bilden, hat ihre Weihe durch das dümmste unserer Schlagworte, das Wort von der ›restaurativen Tendenz‹ empfangen. … Unter dem Vorwand, daß die alten Zustände nicht wiederkommen dürften, wurde die Erinnerung an die zeitlosen Werte ausgelöscht und die Barbarei hoffähig gemacht. Gar zu gern möchte man wissen, ob diejenigen, die uns die Macht nahmen und uns empfahlen, wieder zum Volk der Dichter und Denker zu werden, noch guten Glaubens waren oder ob sie die Leere ahnten, die hinter der einstürzenden Machtfassade stand. Nun, es war ihre Sache nicht, für das Unvergängliche zu sorgen.« Sieburg zog Parallelen zwischen dem jüdischen und dem deutschen Volk, die heute unerhört scheinen. Beide seien so bedroht wie bedrohlich, beide unfähig, sich beliebt zu machen, beide seien den Völkern so unentbehrlich wie lästig, beide neigten sowohl zu Aggression wie zu Selbstmitleid, beide seien in ihren hervorragenden Vertretern unerreicht musikalisch, gedankenkühn und analytisch begabt.
Von einer »geheimnisvollen Verbindung« gar spricht Sieburg: »Rätselhaftes Völkerschicksal, das uns, solange wir groß und mächtig waren, diesen Gefährten gab und das uns stürzte, als wir ihn zu vernichten suchten.« Nun, es gibt uns noch. Thea Dorn hat in ihrer lobenswerten Neuauflage eine hübsche Sentenz als Schlußwort gefunden: Wer bereit sei, sich selbst auf hohem Niveau zu verausgaben, dem sei die Lust am Untergang schon fast vergangen.