schreibt der Autor Hans Sedlmayr: »In den Jahren und Jahrzehnten vor 1789 hat in Europa eine innere Revolution von unvorstellbaren Ausmaßen eingesetzt: die Ereignisse, die man als ›Französische Revolution‹ zusammenfaßt, sind selbst nur ein sichtbarer Teilvorgang dieser ungeheuren inneren Katastrophe. Es ist bis heute nicht gelungen, die dadurch geschaffene Lage zu bewältigen, weder im Geistigen, noch im Praktischen.«
Die Katastrophe, auf die Sedlmayr hier anspielt, übersteigt historische Dimensionen. Es handelt sich vielmehr um ein mythisches Ereignis, indem jene Kräfte zum Durchbruch gelangen, die den Menschen nicht mehr als Ebenbild Gottes anerkennen und somit all jene Strukturen in Frage stellen, die auf der Ebenbildlichkeit beruhen. Dem voraus ging der Universalienstreit, dessen Anfänge in die Scholastik des späten Mittelalters zurückreichen. Die Frage, die Theologen und Philosophen beschäftigte, war, ob die Allgemeinbegriffe (Universalien) nur in Gedanken existierten oder ob sie substantielle Entitäten darstellten, oder anders ausgedrückt: ob den Erscheinung gewordenen Dingen eine Idee vorhergehe, oder ob sie allein vom Menschen gemacht oder erfunden seien. Die Nominalisten waren der Meinung, daß die Universalien nur abstrakte, aus dem Bemühen um die Systematisierung der Lebenswelt gewonnene gedankliche Konstrukte seien. Die Realisten oder Universalisten – unter ihnen Thomas von Aquin – vertraten hingegen die Position Platons, daß den Universalien ein substantielles Dasein zuzusprechen sei. Sie würden unabhängig von den erscheinenden Einzeldingen existieren. Der Streit wurde letztlich zugunsten der Nominalisten entschieden. Das war insofern folgerichtig, als die aufkeimenden modernen Naturwissenschaften, die sich als »neutral« bezeichnen, sich von einem übergeordneten Moment lossagen mußten. Die Naturwissenschaft, vor allem aber die damit verbundene Denkhaltung, sieht nur die Erscheinungen; die Gestalt der Dinge und der dahinter stehende Schöpfungsakt werden ausgeklammert oder in perfder Art in die Erscheinungen miteinbezogen, indem sie auf Energieformen reduziert werden.
Daß die Idee der Erscheinung vorausgehe, war seit jeher unbestritten. So wird im Johannesevangelium (mit Bezug auf die Genesis) davon gesprochen, daß am Anfang das Wort gewesen sei, und alles sei durch das Wort geworden. Im Gebet werden nicht die Erscheinungen, sondern es wird das Wort, das hinter den Erscheinungen steht, angesprochen; der König bekleidet sein Amt durch Gottes Gnaden (Dei gratia), und auch das Sprichwort »Wenn man vom Teufel spricht, kommt er« weist darauf hin, daß durch die Sprache – durch Benennung – die Dinge in die Gegenwart geholt werden können. Die von einer Gestalt oder einer Idee getrennten Erscheinungen treten zwangsläufg isoliert auf. Sie sind rein mechanischer Natur, und sie unter liegen den titanischen Gesetzen der Wiederholung. Die Kopie ist ebenso ein Zeichen dieser Entwicklung wie die unablässige Ergreifung des Raumes. Wachstum, das immer auch seelisch zu verstehen ist, ist unter diesen Voraussetzungen ausgeschlossen. Kompensatorisch und verschleiernd tritt die Expansion – die maßlose, auf dem Schneeballprinzip basierende Ausweitung – an dessen Stelle. Zu erkennen sind diese Phänomene vor allem daran, daß sie, obwohl das Formale heute überall im Vordergrund steht, formlos sind und keine Mitte besitzen: Sie wuchern wie ein Geschwür.
Die Sonne als Vor-Bild
Von Goethe stammt das Zitat: »Wär nicht das Auge sonnenhaft / Die Sonne könnte es nie erblicken.« Wir haben es hier mit Ebenbildlichkeit respektive mit einem Vergleich zu tun, der dem Auge sonnenhafte Qualitäten beimißt. Und tatsächlich ist das Auge eine kleine Sonne. Was bei dieser Kern und Korona, sind beim Auge Sehloch und Iris. Und so erblickt das Auge alles, was diesem Prinzip entspricht – dem Prinzip von Mitte und der sie umgebenen Teile –, und es vermag die entsprechenden Erscheinungen einzuordnen – sie als schön zu empfnden, wenn sie dieser Regel entsprechen, oder als häßlich zu erkennen, wenn sie davon abfallen. Natürlich läßt sich der Mensch auch täuschen. Vorstellungen oder auch Ideologien ersetzen das Empfinden, und so manches, was im Grunde häßlich wäre, wird als schön oder, wo es die Kunst betrifft, als ästhetisch bezeichnet.
Sonnenhaft oder ebenbildlich ist die gesamte Erscheinungswelt. Alles Gewachsene besitzt einen Kern und Teile, die diesen Kern umgeben. Das Atom hat einen Kern und eine Elektronenhülle; Zellen weisen, vereinfacht gesagt, einen Zellkern, ein Zellskelett und eine Zellmembran auf, die der Abgrenzung dient; eine Blüte weist in ihrer Mitte den Fruchtknoten und die Staubblätter auf, umgeben werden sie von den Kelchblättern. Und der Mensch besitzt einen Rumpf, von dem die Glieder ausgehen, mit denen er sich bewegt. Aber auch das, was der Mensch erschafft, entspricht diesem Grundsatz. Beim herkömmlichen Haus etwa gruppieren sich um die Küche die verschiedenen Kammern, das Haus selbst ist von Nebengebäuden oder vom Garten umgeben; die Mitte des Dorfes stellt das Rathaus dar, der Platz davor und die Kirche. Und der Stadt, die einst geschlossen in Erscheinung trat und somit als Kern angesehen werden kann, sind Dörfer und landwirtschaftliches Land vorgelagert. Nämliches gilt für die Politik. Der König oder seinesgleichen verkörperte seit jeher die Mitte eines Volkes, während die Fürsten bis hin zu den einzelnen Bürgern diese Mitte umgaben. Daß eine Mitte in sich ruht, während das sie Umgebende in Bewegung ist, wird beim Schach besonders deutlich: Der König darf pro Zug nur ein Feld fahren, während Dame, Springer, Pferd und Turm einen fast unbegrenzten Aktionsradius besitzen.
Das Gefüge an sich, bestehend aus Kern und Hülle, ist mit dem Leben, seinen Erscheinungsformen und seinen Voraussetzungen auf Gedeih und Verderb verbunden. Alle Hochkulturen, die Großes schufen, alle denkerischen und künstlerischen Leistungen, die als wesentlich bezeichnet werden können, sind diesem Prinzip untergeordnet, mehr noch, sie erhöhen dieses Prinzip, indem sie es preisen und verehren.
Abweichungen
Doch seit dem Beginn der Neuzeit, deutlich erkennbar jedoch seit der Französischen Revolution und dem Einsetzen der Industrialisierung, wird von diesem Grundsatz abgewichen: Die Idee, die den Dingen einst vorherging – man könnte sie auch eine Gottheit nennen –, ist verloren. Dadurch kann in die Struktur der Dinge eingegriffen werden. Was hier vor sich ging und unaufhaltsam weiter geschieht, kann exemplarisch an einer mittelalterlichen Burg verdeutlicht werden. Sie stellt eine Mitte dar, weil sie als Wohnort des Ritters der standesgemäße Wohnsitz eines Adeligen ist. Baulich wird sie zur Mitte, weil sich am Fuß der Burg Handwerker und Bauern ansiedeln und Märkte bilden. Das Bewegte umgibt nun das In-sich-Ruhende – der Kern hat die sich um ihn bewegenden Teile erhalten. Sobald jedoch die Mitte aufgehoben wird, indem etwa der Adel, der auf Abstammung, Leistung und göttliche Fügung gründet, dem »profanen« Bürgertum zu weichen hat, steht der Markt am Fuß der Burg ohne Ausgangspunkt und Ziel da. Es entsteht der »totale Markt«, der eigengesetzlich und maßlos ist. Es ist dies unter anderem die Geburtsstunde des Liberalismus.
Im besonderen die Maximen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – sind Zeichen einer maßlos gewordenen, einer entmitteten und nicht mehr auf einer Ebenbildlichkeit beruhenden Welt. Nicht umsonst sieht Sedlmayr in ihr den Keim der ungeheuren Katastrophe. Freiheit bedeutet hier die Ignorierung aller Grenzen, Gleichheit führt zur Unterschiedslosigkeit, und die Brüderlichkeit führt zwangsläufig in den totalen Kollektivismus. Prägnantes Bild für diese Entwicklung ist der Sturz des Königs. Dieser wurde nicht einfach abgesetzt, sondern enthauptet.
Fortschritt und Wachstum
Als wäre eine Kettenreaktion in Gang gesetzt worden, werden nun Mitten eliminiert, wodurch das, was die Mitten einst umgab, zu wuchern beginnt. Die Städte dehnen sich aus, sie werden zu Geflechtsteppichen, während die einstigen örtlichen Mitten zu ortlosen Zentren dieser Gebilde werden. Ohne ruhende Mitte wird das Bewegte dominant, und so wird die Mobilität zum eigentlichen Wahrzeichen dieser Entwicklung. Man ist mobil, ist unentwegt unterwegs, aber wohin man auch kommt, es sieht überall gleich aus. Regionale Eigenständigkeiten lösen sich auf, und die Familie, ursprünglich eine souveräne, gewachsene Gemeinschaft, wird richtiggehend zerschlagen. Weil durch den Verlust der Mitte auch jedes Maß verlorengeht, steigt die Bevölkerungszahl weltweit fast exponentiell an. Und der Markt, der nun alles beherrscht, generiert zwei Begriffe, die synonym für diese Entwicklung stehen: Fortschritt und Wachstum. Dabei hat der Fortschritt im heutigen Sinn, obwohl das Gegenteil behauptet wird, nur selten etwas mit einem qualitativen Gewinn zu tun. Es ist nicht die Neuerung, die der Fortschritt anstrebt, sondern die Nivellierung.
So kann es kein Gewinn sein, daß die Hausmusik dem Recorder wich; daß das Geschichtenerzählen, das Gespräch und das Briefeschreiben von Fernseher, E‑Mail und Mobiltelephon verdrängt wurden. Und genausowenig ist es ein Gewinn, wenn in der Literatur nicht mehr erzählt, sondern nur noch Vorgänge beschrieben werden, wenn in der Musik das Atonale zelebriert und in der Malerei das Ungegenständliche, Geometrische und Konzeptionelle jeden Ausdruck verhindern. Alle diese Neuerungen, die technischer Art sind oder rein auf Techniken gründen, machen den Menschen geflechts- oder netzfähig, und damit dies geschieht, muß er seine Identität verlieren, er muß ausdruckslos, urteilslos und isoliert sein. Dazu kommt das Wachstum, das ein Geflecht braucht, um nicht in sich zusammenzufallen. Während in einem gesunden System das Umfeld zur Mitte immer in einem adäquaten Verhältnis steht, gleicht das mittenlose Umfeld einem Tumor, der erst dann zum Stillstand kommt, wenn ihm keine Energie oder kein Leben mehr zur Verfügung steht.
Ein weiteres Merkmal des verhinderten Schöpfungsaktes ist die Reproduktion. Während sich Ebenbildliches in die Zeit vervielfältigt, wobei Originales entsteht, wird bei der Reproduktion das immer Gleiche in Massen hervorgebracht. Die Quantität erhebt sich über die Qualität. Daß in einem solchen System auch der Mensch reproduziert, das heißt geklont, werden soll, ist naheliegend.
Analog oder digital
In einer Welt, in der die Erscheinungen Mitten aufweisen, wird entsprechend gedacht und gehandelt. Der Vergleich – Vergleichen setzt Gemeinsames voraus, bedingt jedoch eine Unterscheidbarkeit der Dinge – wird zur Erkundung des Wesens und der Beschaffenheit eines jeweiligen Objektes herangezogen. Das ist analoges Denken. Wer analog denkt, steht immer mit den Dingen in Beziehung, verliert die Welt nie aus den Augen. In der heiligen Schrift etwa wird von Gleichnissen gesprochen, similia similibus curentur ist eine Analogie, und noch bei Ernst Jünger sind der Vergleich oder die Annäherung eminent – sie nehmen eine zentrale Stellung in dessen Werk ein.
Ohne bezugschaffende Mitte steht eines isoliert neben dem anderen. Monokulturen, Geflechte und auch Netze, insbesondere soziale Netze, entstehen. Der Vergleich im Goetheschen Sinn wird dabei hinfällig – das analoge Denken wird durch das digitale ersetzt. Nicht nur die Technik setzt auf digitale Systeme, wie etwa in der Musikaufnahme und ‑wiedergabe oder der Photographie, nein, auch die Politik handelt nach dem digitalen, von allen Wirklichkeiten isolierten Prinzip und schafft dadurch immer neue Probleme, ohne je eines lösen zu können. Selbstredend wird auch die Bildung verdigitalisiert. Es entsteht der digitale Typus. Dieser hat eine unendliche gespeicherte Datenmenge zur Verfügung, aber es fehlen ihm die Bilder. Er ist nicht mehr fähig, zu denken, denn das Denken ist ein analoger Vorgang. Selbstredend etabliert sich die Wissensgesellschaft, und Maximen wie jene des lebenslangen Lernens werden zur Tugend erklärt, obwohl es sich dabei doch nur um eine lebenslange Wissensansammlung handelt.
Zyklen
»Der Mensch, der kein Maß hat«, sagt Friedrich Georg Jünger, »behält etwas Unfertiges. Es haftet ihm an, weil das Wollen den ihm zugeordneten Bereich des Erreichbaren überschreitet. Solche Menschen scheinen, wenn sie ihren Anlauf nehmen, am stärksten und ganz unüberwindlich zu sein. Dann aber verfehlen sie ihr Ziel und stürzen ins Leere; sie fallen in die unterirdischen Räume hinab.« Es handelt sich hier um den titanischen Menschen, der sich der Götter und des Schicksals entledigt hat. Dieser Mensch sucht die »schrankenlose Freiheit und Unabhängigkeit«. Aber ohne Maß kann es keine Größe geben. »Maß ist etwas Ebenbildliches, das heißt, niemand kann sich selbst Maß sein und bleiben. Im Begriff des Maßes steckt das Verhältnis von Urbild und Ebenbild, und daraus ergibt sich Gültigkeit.«
Seit dem Sieg der Nominalisten, im besonderen aber seit der Französischen Revolution sind die Dinge nicht mehr auf ein Urbild bezogen, womit sie ihre Ebenbildlichkeit einbüßen. Das wird besonders daran deutlich, daß Mitten aufgehoben oder gar zerschlagen werden. »Was aber die Kunst betrifft (im Grunde betrifft dies jedoch alles, was der Mensch hervorbringt)«, resümiert Hans Sedlmayr, »so wird es zunächst vielleicht noch nicht möglich sein, vielleicht noch lange nicht, etwas in die leere Mitte zu setzen. Dann aber muß wenigstens das Bewußtsein davon lebendig bleiben, daß in der verlorenen Mitte der leer gelassene Thron … steht. Diejenigen, denen dieses Bewußtsein gegeben ist und die es bewahren, werden die ›Neue Zeit‹ sehen, auch wenn sie sie noch nicht betreten dürfen.« Diese neue Zeit kündigt sich an, wenn die Zeit der Titanen abgelaufen ist. Zeus, der im verborgenen heranwuchs, beendet ihre Herrschaft.
Seine Macht ist ungeheuer, doch sie hat, wie Friedrich Georg Jünger weiter ausführt, nichts Drückendes, Einengendes und das Leben Verkümmerndes an sich, »und sie muß, wie das höchste Erhabene überhaupt, als Ruhende gedacht werden.« Zeus wird demnach zum Stifter neuer Gefüge und Mitten.