Die deutsche Kultur wurde der westlichen Zivilisation entgegengestellt, deutsches »Heldentum« dem angelsächsischen »Händlergeist«, die organisch gewachsene, traditional bestimmte und hierarchisch gegliederte Gemeinschaft der in beständiger Gegenwart lebenden, vom jeweiligen Zeitgeist bestimmten, technokratisch-egalitären Gesellschaft, die man gleichermaßen als Produkt des Kapitalismus wie auch als Ausdrucksform sozialistischer Utopien – der beiden feindlichen Brüder im Geiste des Ökonomismus – ansah. Die Vorgeschichte dieser Haltung reicht weit ins 19. Jahrhundert zurück, hat ihre Wurzeln in Spätromantik und Gegenrevolution; sie wird sodann von Lagarde und Langbehn breit entfaltet, nimmt Impulse Schopenhauers und Nietzsches auf und erfährt ihre radikale, oft überhitzt wirkende, aggressive oder ohnmächtig verzweifelte Ausgestaltung unter den Bedingungen des Ersten Weltkriegs, als die Mehrzahl der deutschen Intellektuellen ihr Land von Feinden umstellt, überfallen, geplündert und gedemütigt sah.
Die philosophischen Positionen von Ludwig Klages und Theodor Lessing gehören zweifellos in diesen Kontext; allerdings nehmen diese im Vergleich mit den meisten Zivilisationskritikern der Konservativen Revolution eine Sonderstellung ein: Erstens beziehen sie die Dichotomie nicht als typologische Grundierung auf den geopolitischen Gegensatz zwischen Deutschland und den Westmächten, sondern sie sehen die gesamte europäische oder europäisch bestimmte Welt in Verfall begriffen; und zweitens erhält dieser Verfall bei ihnen eine metaphysische und religionsphilosophische Begründung, deren Radikalität sie von jeder konservativen Gesellschaftskritik scheidet.
Ludwig Klages: Archäologe der Welt-Zerstörung
Heute ist der Philosoph, Graphologe und Charakterologe Ludwig Klages (1872–1956) am ehesten als früher Kritiker der Naturzerstörung und als Wegbereiter der Ökologiebewegung bekannt. Noch immer erstaunlich ist sein Beitrag zur Festschrift anläßlich des Treffens der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meißner 1913, in dem er, voll grimmigem Pathos, unter dem Titel »Mensch und Erde« die Ausrottung zahlloser Tierarten, die Abholzung der Wälder und die Vernutzung der Natur zur Rohstoffgewinnung anprangert: »Kaum aber, daß der ›fortgeschrittene‹ Europäer das Land betreten, so begann ein entsetzliches und sinnloses Morden, und heute ist es mit dem Bison aus und vorbei. … Im gleichen Stil werden schonungslos hingemordet Antilopen, Nashörner, Wildpferde, Kängurus, Giraffen, Strauße, Gnus in den tropischen, Eisbären, Moschusochsen, Polarfüchse, Walrosse, Seehunde in den arktischen Zonen. Eine Verwüstungsorgie ohnegleichen hat die Menschheit ergriffen, die ›Zivilisation‹ trägt die Züge entfesselter Mordsucht, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch. So also sehen die Früchte des ›Fortschritts‹ aus.« (Ludwig Klages: Mensch und Erde, S. 8) So ungewohnt dies damals klang, provozierte doch ein anderer Aspekt von Klages’ Philippika die Zeitgenossen noch mehr: seine Kritik am Christentum, das er für die beklagte Entwicklung mitverantwortlich machte. Und noch ein Punkt ist wesentlich: Klages kritisiert keine Umwelt-Zerstörung im Sinne einer modernen anthropozentrischen Betrachtungsweise, die weiterhin dem Maßstab des menschlichen Nutzens verpflichtet bleibt, sondern er bekämpft aus einer »ganzheitlichen« Sicht heraus die Zerstörung der Natur als Abtötung ihrer Seele, die in ihrer landschaftlich-»geopsychischen« Ausprägung die jeweilige regionale Kultur des Menschen prägte.
Die Landschaftsseele bestimmte die Seelenlandschaft. Wo hingegen der zivilisatorische Fortschritt um sich greife, werde »zerrissen … der Zusammenhang zwischen Menschenschöpfung und Erde, vernichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, das Urlied der Landschaft.« Heimatliche Verwurzelung ist also eine Voraussetzung von Kultur, die nur gedeihen kann, wo die Landschaft nicht nur »bebaut« und »gepflegt«, sondern auch »verehrt« wird. Kultur, wie sie sich im Abendland entwickelt hat, beruht zwar auf einer agrarischen Grundlage, ist aber nicht notwendig an diese gebunden: Auch der paläolithische Nomade hatte schon Kultur, indem ihm sein landschaftlicher Lebensraum mit den darin existierenden Tieren und Pflanzen ein Gegenstand der Verehrung war, der seine kulturellen Handlungen (etwa Totenbestattungen und Opferzeremonien) prägte – und selbst ein starker Bezug zur Heimat, die lediglich einen weiteren Raum umfaßte, war mit einer nomadischen Lebensweise vereinbar –; nur der moderne Arbeitsplatznomade kennt keine Kultur mehr, sondern konsumiert kulturelle Events wie andere Waren und Dienstleistungen. Dies heißt nicht, daß mit kulturellen Erzeugnissen nicht gehandelt werden darf – auch Künstler (oder Priester, denn letztlich beruht Kultur auf einer religiösen Grundlage) müssen von etwas leben –, aber der Warencharakter ist nicht ihr eigentlicher Zweck.
Der negative Dreh- und Angelpunkt, der Klages’ Philosophie mit seiner Kritik am Christentum sowie an der Aufklärung und Naturentfremdung verbindet, ist der Geist. Ihm steht als positives Prinzip die Seele gegenüber. Wie zentral für Klages dieser Gegensatz ist, zeigt sich daran, daß er ihn zum Titel seines Hauptwerks machte: Der Geist als Widersacher der Seele erschien von 1929 bis 1933 und umfaßt mehr als 1500 Seiten. Die Seele ist für Klages keine außerkörperliche Entität (wie in der religiösen Tradition), sondern ein leibliches Phänomen, die Erscheinung eines Charakters, der sich an lebendigen Objekten offenbart, zu denen Klages auch nichtorganisches »Leben«, etwa Landschaften und ökologische Zusammenhänge, zählt. Der Begriff »Geist« hat bei Klages eine schillernde Bedeutung, die sich vom rechnenden, messenden und in exakten Begriffen denkenden Intellekt bis hin zum jüdisch-christlichen Gott erstreckt, von dem letztlich nichts weiter ausgesagt werden könne als reine Identität: »Ich bin, der ich bin« (Elberfelder Bibelübersetzung von Ex. 3,14). Mit Hilfe des Geistes werde die Welt, in der es nur fließende Übergänge gebe, vermessen und – sowohl begrifflich als auch real – auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Eigentlich sei alles Natürliche ausgedehnt und dynamisch, in ständiger Bewegung begriffen und stetiger Veränderung unterworfen, aber der Geist als »außerkosmisches« Prinzip der Punktualität und Statik ziehe scharfe Grenzen, die er auf die Welt projiziere und dadurch deren Zergliederung und Verdinglichung herbeiführe.
Der Geist und dessen Produkte – die Dinge – stehen den Phänomenen von Seele, Leben und Leiblichkeit dualistisch gegenüber; es gebe keine höhere vermittelnde Instanz, und sie bildeten auch keine Polarität, die vielmehr nur für »Kosmisch-Lebendiges« charakteristisch sei, etwa Raum und Zeit, Nähe und Ferne, Tag und Nacht, Männliches und Weibliches.Von diesen ontologischen Grundannahmen aus läßt sich sowohl Klages’ Deutung der Natur- und Kulturzerstörung als auch seine dualistische Religionsphilosophie verstehen: Einerseits sucht er in seinem Werk die »Metaphysik des Heidentums« zu explizieren, eine pagane Theologie oder gar Scholastik, in der die Strukturen entfaltet werden, die dem mythisch-archaischen Denken (von den Natur- und zum Teil den klassischen Völkern der Antike bis hin zu den Dichtern späterer Zeiten, die sich noch die Befähigung zur Schauung bewahrt hätten) inhärent sind; andererseits dekonstruiert er die platonisch-christliche Tradition des Abendlandes, die in seinen Augen die Geschichte eines Verlustes der ursprünglichen Wirklichkeit zugunsten blutleerer Abstraktionen ist.
An Klages’ Geschichtsauffassung bleiben mancherlei Fragen offen: Woher stammt der »Einbruch« des Geistes in den Kosmos, der sich ein wenig wie eine »Invasion extraterristrischer Mächte« (Stefan Breuer) ausnimmt? Inwiefern kann der Geist als außerraumzeitliches Prinzip derart konkret und destruktiv auf die raumzeitliche Welt einwirken? Wie kann er, wenn Klages den Relativismus zurückweist und am Anspruch philosophischer Welterklärung festhält, die Wirklichkeit verstellen und doch wahre Erkenntnisse ermöglichen? Und was bleibt noch zu tun, wenn der Prozeß unumkehrbar und unsere gesamte Tradition eine Verfallsgeschichte ist? Der große Pessimist nannte zwar den Naturschutz seine »letzte Leidenschaft«, aber er gab auf die Frage nach dessen Wirksamkeit keine Antwort und sah die Menschheit ihrem Ende – oder der Verwandlung der Welt in einen globalen Maschinenpark – entgegentaumeln. Nur noch ein Wunder könne uns retten.
Theodor Lessing: Aktivist der Not-Bewältigung
Die Philosophie von Klages’ Jugendfreund Theodor Lessing (1872–1933) kann so verstanden werden, daß er, von ähnlichen Prämissen ausgehend, die ethischen Konsequenzen in den Blick nimmt und die Möglichkeit eines zukünftigen »richtigen Lebens« offenhält. Er teilte mit Klages nicht nur die Grundanschauung vom möglichen »Untergang der Erde am Geist« (so der Untertitel seines Hauptwerkes Europa und Asien in der fünften und endgültigen Ausgabe von 1930), sondern auch manche Leidensgeschichte, etwa eine unglückliche Kindheit, die Neigung zur Schlaflosigkeit (als biographischer Voraussetzung des Leidens am rastlos tätigen Denkapparat), die bedrohte Existenz als »freischwebender Intellektueller« (Klages hielt sich mit graphologischen Gutachten, Lessing als Journalist und Privatdozent über Wasser) – und dennoch gerieten sie in so verschiedene Lager, daß der eine, geistesgeschichtlich zu Unrecht, oft zu den Wegbereitern des Dritten Reiches gezählt wird, während der andere in seinem Marienbader Exil einem Auftragsmord des soeben an die Macht gelangten NS-Regimes zum Opfer fel. Vor allem sein Buch über den Massenmörder Haarmann und sein Essay über Hindenburg (beide 1925) hatten Lessing zu einem prominenten, von völkischer und deutschnationaler Seite heftig bekämpften Exponenten linker Gesellschaftskritik gemacht, ohne daß er einem klassischen Flügel der Linken hätte zugerechnet werden können.
Neben der unterschiedlichen Denkhaltung, die sich bei Klages in einem starken Systematisierungsdrang äußerte, während sein früherer Weggefährte die philosophische Essayistik und Tagespublizistik bevorzugte, gehören Lessings Abstammung aus dem assimilierten jüdischen Bildungs- und Besitzbürgertum, sein »jüdischer Selbsthaß« und die immer wieder betonte Fremdheit seiner Heimatstadt Hannover zu den Voraussetzungen, die ihn schließlich Aufklärung und Moderne bejahen, ja sogar eine technokratische Weltzivilisation herbeiwünschen ließen. Eine Rückkehr zu den Wurzeln und die Feier des heidnischen Mythos verboten sich dem – seinem Selbstbild gemäß – Entwurzelten, der es als künftige Aufgabe des Menschen ansehen mußte, »den Tiger zu reiten« (Julius Evola). Seiner »Philosophie der Not« gemäß ist der Intellekt das Werkzeug des menschlichen Mängelwesens, um seine existentielle Welt-Ausgesetztheit zu kompensieren, und was in der antiken Achsenzeit mit dem Auftreten Buddhas, Sokrates’, Pythagoras’, Laotses und Konfuzius’ als abstrakte Weltbemächtigung begann, muß als Schicksal und Aufgabe zu Ende geführt werden. »Kultur ist jener Vorgang, dank dessen ein Teil des Seins (des brahma), nämlich der Geist (buddhi, der Geweckte), sich aufwirft zum Gewaltherrn und zum Erlöser des Lebens.« (»Antaios oder Herakles«) Den Klagesschen Dualismus weist Lessing ausdrücklich zurück, da »das Geistige, das aus der Natur strahlt und ihr entquillt, sich in Form der Kultur, d.h. der Menschheitsgeschichte, aus dem Lebenselement herauszulösen trachtet.« Mit Nietzsche sagt er auch, daß »Geist ein Leben ist, welches in das Leben schneidet«; die Entfremdung läßt sich aufgrund dieser ursprünglichen Zusammengehörigkeit nicht überwinden, und Lessing kann daher nur zu der Forderung gelangen, »dort Anwalt des Lebens, hier Anwalt der Not« zu sein, also, durchaus im konservativen Sinne, immer dort gegenzusteuern, wo das eine Prinzip das andere zu übermächtigen droht.
Sein Pathos ist das eines existentialistischen »Trotzdem!«, das ähnlich auch aus seinem bekannten Werk über die Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen spricht, in dem er darlegt, daß jeder Versuch, historischen Sinn festzustellen, lediglich auf der interessegeleiteten Projektion des Interpreten beruhe – und doch liegt der Selbstwiderspruch auf der Hand, wenn er andererseits die Geschichte als »notentborene« Emanzipationund letztendliche Weltüberwindung des Geistes betrachtet. Nicht immer wirken diejenigen Gedanken, die ein Philosoph selbst für seine eigentlichen Leistungen hält, auf die Nachwelt am bestechendsten, sondern ihre Konsequenzen: bei Klages die eindringliche Warnung vor der ökologischen Katastrophe, bei Lessing die prophetische Voraussicht auf das heutige Medienzeitalter mit seiner Herstellung einer totalen Öffentlichkeit – und bei beiden die fundamentale Kritik der modernen Zivilisation einschließlich deren Voraussetzungen im christlich-abendländischen Geist.