Da ist es normal, wenn die Kinderzimmer etwas unordentlich sind, man über Farbtöne und Zimmereinrichtung diskutiert. Sofern aber die Hausordnung außer Kraft gesetzt wird, das Gebäude verkommt, der Garten einer Müllkippe gleicht – wenn die Dinge allem zuwiderlaufen, was ursprünglich Wert und Sinn von Haus und Garten ausmachte, dann bedarf es einer tiefgehenden Kritik dieser Kultur, dieser Art zu leben. Exponierte Denker der Konservativen Revolution fanden harte Worte für den Zustand ihrer Behausung. Paul Ernst sprach von »Entartung« und »Untergang der Gesittung«, Edgar Julius Jung von »fortdauernder Entseelung« und einer »zerfallenen Gesellschaft«: »Jeder Sinn für Ganzheit« sei verlorengegangen, die Gemeinschaft »entleert«.
Als eigentliche Ursache der Misere machten viele konservative Revolutionäre die in der Neuzeit einsetzende Säkularisierung aus, bis im 19. Jahrhundert die »Verbindung zwischen Glauben und Sein« verlorengegangen sei, »bis auf unsere Tage« (Jung). Das Ergebnis dieser »Religionslosigkeit« (Ernst) sei die Hybris des Menschen und der Tanz ums Goldene Kalb, die »Verwirtschaftlichung des Lebens« (Othmar Spann). Die Analyse war keine rein nationale: der Liberalismus bedeutete für Moeller van den Bruck die »Selbstauflösung der Menschheit«, Paul Ernst schien »die Menschheit immer trüber und düsterer« geworden, bis hin zur »Selbstzerstörung der Völker«. Die mächtige nationale Komponente, Stichwort Versailler Vertrag, war aufs engste verwoben mit übergreifender Kritik an funktionaler Mechanisierung, Vermassung und »Proletarisierung« (Ernst). Die Konservative Revolution zielte auf die Überwindung dieser »Kulturlosigkeit des zivilisatorischen Zeitalters« (Jung), es ging um den »Abbruch und Neubau der Gesellschaft« (Spann), um eine »Lebens‑, Gesellschafts- und Staatserneuerung« (Jung) – um nichts weniger als eine Revolution zur Hervorbringung gültiger Formen von Ordnung.
Die Formel der »Konservativen Revolution« hatte Hugo von Hofmannsthal 1927 mit einem Bild für die unruhigen Geister seiner Zeit verknüpft, mit den »Suchenden«: »Nicht Freiheit« sei es, »was sie zu suchen aus sind, sondern Bindung«. Ihnen gehe es um die »Ganzheit« – und auch Hofmannsthal stellte diese Such-Bewegung in den Kontext der Säkularisierung: Am Ende des 19. Jahrhunderts, »so wie der deutsche Geist es durchzumachen hatte, mit diesen immer neuen Anspannungen und Entspannungen, immer schärferen Reaktionen und Zusammenbrüchen …«, stand die »Erleuchtung: … daß das Leben lebbar nur wird durch gültige Bindungen«. Nicht Narzißmus und Solipsismus erfuhren hier ihre Rechtfertigung, sondern der große Strom der Überlieferung, die Einfügung des Ichs in ein größeres Ganzes, gebildet durch familiäre, regionale, geschichtliche, kulturelle, religiöse Bindungen, Rückbindungen. (Zweifellos ist Hugo von Hofmannsthal auch einer der vielen Väter der Identitären Bewegung.)
Was damals als Fortschritt und Modernisierung gefeiert wurde, nahm sich bei Hofmannsthal und seinen konservativen Mitdenkern anders aus: Ein zentraler Bestandteil »unserer Kultur seit hundert Jahren« sei die »Vergewaltigung der Natur«. Da konnte der Mensch selbst nicht ungeschoren davonkommen, und er ist es ja auch nicht. Die planvolle Vergewaltigung der Natur rief aber keine Empörung hervor, als Industriegesellschaft wurde sie zur bequemen Normalität, in der Annahme, »daß wir mit unseren Maschinen das Universum zu melken imstande seien«, so Ernst Jünger. Um 1939 war sein Bruder Friedrich Georg zu der Einschätzung gelangt, daß die Technisierung und Mechanisierung aller Lebensbereiche mit einem erdrückenden Maß an »Organisation« einhergehe, die den einzelnen zum Rädchen im Getriebe der Massengesellschaft herabwürdige. Hierher gehören auch René Guénons Reflexionen zur Massenproduktion, »deren alleiniges Ziel es ist, die größtmögliche Menge an Gegenständen zu produzieren, Gegenstände, die einander so exakt wie möglich gleichen, vorgesehen zum Gebrauch von Menschen, die man sich nicht weniger gleich vorzustellen hat«.
Fordismus und Tonnenideologie hinterließen ausgelaugte, entseelte Völker und Landschaften im militaristisch-totalitären Gleichklang, der neue Bindungen herbeidelirierte, doch nur deren Pervertierung unter Beweis stellte. Hugo von Hofmannsthal, Paul Ernst, Oswald Spengler waren verstorben, Edgar Julius Jung von den Nazis erschossen, Othmar Spann mundtot gemacht, die Zeit der Konservativen Revolution war vorbei, als Wilhelm Röpke 1941 ihren Spuren folgte, zentrale konservativ-revolutionäre Topoi aufgriff und die »pathologischen Entartungen unserer abendländischen Gesellschaft« analysierte. Ein »grenzenloser Relativismus« bedrohe nichts weniger als die »Lebensweisheit von Jahrtausenden«. Doch der »unüberbietbaren moralisch-intellektuellen Dekadenz«, den »Zersetzungs- und Verfallserscheinungen« im Westen stehe nur die »Tyrannis« gegenüber, sowjetischer oder nationalsozialistischer Spielart. Die Zeit sei geprägt durch einen »die Sinnlosigkeit überdröhnenden reinen Aktivismus und Dynamismus«. Auch Röpke nahm die »Vermassung« und »Proletarisierung« ins Visier, die er als »wirtschaftlich-soziale Abhängigkeit, Entwurzelung, Kasernierung, Naturentfremdung und Arbeitsverödung« begriff, zu denen der »Verfall der Familie« logisch hinzukomme. Die Anklänge an Hofmannsthal und Spann sind offensichtlich, wenn Röpke die Merkmale der »Bindung, Einbettung und Gliederung« der seit dem Mittelalter gewachsenen Gesellschaftsstruktur gegen die »Katastrophe« der Französischen Revolution und die neue Despotie des liberalen wie sozialistischen Ökonomismus verteidigt, der aus der Gesellschaft eine Maschine mache.
Obwohl er im Unterschied zu Spann nicht auf ständestaatliche Strukturen rekurrierte, betonte auch Röpke die Notwendigkeit eines wiederzugewinnenden Gemeinschaftsbewußtseins im Zuge politisch-ökonomischer Dezentralisierung. Dem Kollektivismus müsse durch »Entproletarisierung« begegnet werden; nicht »Stallfütterung«, sondern Eigenverantwortlichkeit zeitige eine »Boden- und Betriebsständigkeit« von Arbeitern und Angestellten, und nur verwurzelte und eingebettete Menschen fühlten sich auch für das große Ganze verantwortlich. Für Röpke lag der eigentliche Skandal in der »Selbstzufriedenheit, mit der man einer industriellen Entwicklung freien Lauf ließ, welche, in souveräner Mißachtung der vitalen Instinkte des Menschen und seiner elementarsten immateriellen Lebensbedürfnisse, durch die industriell-großstädtischen Arbeitsund Lebensformen zur Denaturierung der Massenexistenz führte«. Und so bestimmte er das Problem in der »rationalistisch-szientistischen Blindheit gegenüber den ewigen Gesetzen des Lebens, der Gesellschaft und des Menschen«.
Die Frage, wie man durch all das »hindurchkomme« (Friedrich Georg Jünger), war auch nach 1945 keineswegs beantwortet. Wilhelm Röpke verschärfte seine Kritik 1957 angesichts einer »fortschreitenden Verschlimmerung der Krise«, darin der Konservativen Revolution bis in die Tonlage verwandt: Man solle sich nicht über die »Kräfte der geistig-moralischen Zersetzung täuschen«, die im Namen der Modernität weiter an jener »Kümmerform« des Homo sapiens arbeiteten, an der »geistig-moralischen Zwergwuchsrasse, die sich willig, ja freudig, weil erlöst, zum Rohstoff des modernen kollektivistisch-totalitären Massenstaats gebrauchen läßt«. Um diesen düsteren Aussichten noch etwas entgegenzusetzen, gelte es, »Halt wiederzugewinnen«: »Wir können erst dann aufatmen, wenn der Mensch zu sich selber zurückgefunden hat und das feste Ufer seiner eigenen Natur, unverbrüchlicher Wertüberzeugungen und bindender Glaubensinhalte wiedergewonnen hat.« Doch schon 1849 bezweifelte Donoso Cortés, daß eine »heilsame religiöse Erneuerung« noch wahrscheinlich sei: »Ich habe leider noch nie ein Volk gesehen, das zum Glauben zurückgekehrt ist, nachdem es ihn verloren hatte.« Und so ist auch aus der »Wiedergeburt des Christentums«, auf die Edgar Julius Jung vor und Reinhold Schneider nach 1945 gehofft hatten, nichts geworden. Ihnen waren jene Zeitgenossen, die Cheeseburger schmatzend oder in ihre Mobiltelephone kreischend durch Notre-Dame, den Kölner Dom oder die Kathedrale von Santiago de Compostela trotten, noch nicht vertraut.
Dessen ungeachtet bleibt Röpkes Einsicht gültig, die Marktwirtschaft müsse eingebunden sein »in eine höhere Gesamtordnung«, jenseits von Angebot und Nachfrage. »Was nützt aller materieller Wohlstand, wenn wir die Welt gleichzeitig immer häßlicher, lärmender, gemeiner und langweiliger machen und die Menschen den moralisch-geistigen Grund ihrer Existenz verlieren? Der Mensch lebt eben nicht von Radios, Autos und Kühlschränken, sondern von der ganzen unkäuflichen Welt jenseits des Marktes und der Umsatzziffern, von Würde, Schönheit, Poesie, Anmut, Ritterlichkeit, Liebe und Freundschaft, vom Unberechnenden, über den Tag und seine Zwecke Hinausweisenden, von Gemeinschaft, Lebensbuntheit, Freiheit und Selbstentfaltung.« Zudem ahnte Röpke, wie sehr das Bevölkerungswachstum die Erde »in einen Ameisenhaufen« verwandeln und die ökologischen Probleme verschärfen würde: die schon von Hugo von Hofmannsthal beschriebene »Vergewaltigung der Natur« versteige sich »zu den abscheulichsten Exzessen«. Um dem entgegenzusteuern, bekräftigte Röpke seine »Therapie der Dezentralisation, der ›Wiederverwurzelung‹, der ›Entmassung‹ und der ›Entproletarisierung‹«, er beschwor bürgerliche Werte, individuelle Anstrengung, Sparsamkeit, selbstverantwortliche Lebensplanung, Familiensinn, Sinn für die Überlieferung und die nachwachsende Generation, allesamt Ausdruck eines dem sozialstaatlichen »Proletarismus« im Weg stehenden christlich-humanistischen Wertgefüges.
Auf diese Tradition hatte auch Reinhold Schneider stets vertraut, doch schien ihm gegen Ende seines Lebens die Geschichte zur Farce geworden, zum »Selbstmord der Welt«. Eben hier setzte Herbert Gruhl an, die allgemeine »Selbstmordpolitik« sezierend, als er Schneiders Überlegungen mit Kerngedanken von Hugo von Hofmannsthal, Oswald Spengler, Friedrich Georg Jünger und Wilhelm Röpke verknüpfte. Gruhls Kulturkritik – Ein Planet wird geplündert (1975), Das irdische Gleichgewicht (1982) und Himmelfahrt ins Nichts (1992) – steht somit auf den Schultern eines nüchtern-analytischen Segments der Konservativen Revolution, freilich ohne deren nationalen Furor der 1920er Jahre. Über Hofmannsthal hatte Gruhl promoviert, von Jünger übernahm er die Kritik an der Mechanisierung des Lebens, von Röpke unter anderem die Idee der »Ökonomokratie«. Gruhl zerpflückte die Rhetorik eines scheinbar unendlichen Fortschritts und Wachstums, gnadenlos kanzelte er die Unverantwortlichkeit der bedenkenlosen Umweltzerstörung ab, einer Politik, die einfachste Naturgesetze bewußt ignoriere. Der Zusammenhang von Verschwendung, sinnlosesten Konsumartikeln und globaler Uniformität wird bei ihm entfaltet. Der Mensch dürfe nicht der »Eskalation der ökonomischen Schamlosigkeit«, nicht der »industriellen Religion« erliegen, die zuletzt die Erde zugrunde richten würden, sondern müsse das »Bündnis mit der Natur« wiederherstellen. »Dann muß der Mensch allerdings auf selbstherrliche Freiheiten verzichten. Verzichten gegenüber Gott, dem er wieder die Ehre gibt, oder, wenn er dazu nicht bereit ist, gegenüber der Natur, indem er ihre Gesetze anerkennt. Seine Würde und seine Kultur wird er jedoch nur wiedererlangen, wenn er beides tut: Gott in der Natur und die Natur in Gott zu verehren und sich beiden zu beugen.«
Was wäre bezeichnender für die bis heute andauernde geistige Situation, daß Herbert Gruhl an scheinbar so unterschiedlichen Kräften wie seiner eigenen CDU und den sich links positionierenden Grünen scheiterte, die keine »Zweifler« duldeten? Das Steuer wurde, es ist bekannt, nicht herumgeworfen. Zwar pflegt die Herbert Gruhl-Gesellschaft heute das Vermächtnis dieses unorthodoxen Vordenkers, bietet einen Anknüpfungspunkt, wie es auch die Scheidewege tun, jene einst von Friedrich Georg Jünger und Max Himmelheber gegründete Zeitschrift für skeptisches Denken. Doch Ökonomismus und Wachstumsfixiertheit, EU-Dirigismus und Gleichförmigkeit, Umweltzerstörung und Weltverödung, »Proletarismus« und Technikwahn sind heute beherrschender als jemals zuvor – und so bleibt die fundamentale Kritik an ihnen ebenso dringlich. Denn daß wir heute »an derselben Krankheit« leiden, »an der schon die Weimarer Republik kaputtgegangen ist«, nämlich am allgemeinen »Wert-Relativismus«, hat selbst der Historiker Michael Stürmer einmal eingestreut. Ja, »wir sollten wissen, wo das alles enden muß, wenn wir es nicht aufhalten«, mahnte Wilhelm Röpke, doch dieses Aufhalten käme schon einem Wunder gleich.