Wer einmal verzaubert vor seinem Bild »Early Sunday Morning« von 1930 stand, weiß, daß er mehr als ein »Regionalist«, mehr als ein Maler bestimmter amerikanischer Szenerien ist. Auch die Formel »Maler der Einsamkeit des modernen Menschen«, auf die man sich nun geeinigt hat, faßt nicht alles. Die Gemälde Hoppers prägen sich uns so tief ein, weil sie Bilder in einem Sinne sind, der sich sonst weitherum verloren hat. Der Freund der Malerei ist heute in einer heiklen Lage. Einerseits werden ihm die Höhepunkte der modernen Malerei noch einmal intensiv vor Augen geführt: die Geburtstage der Meister der sogenannten »klassischen Moderne« vor und kurz nach dem Ersten Weltkrieg jähren sich nun zum hundertsten Male und bescheren uns die großen RetrospektivAusstellungen. Andererseits spüren wir, daß wir mit den Epigonen dieser Meister inzwischen in einer Sackgasse stecken. Die Zeitschrift Zeno hat kürzlich diese Sackgasse präzise definiert: »Nicht die Gegenstände treten als gegeben ins Bild, sondern die Mittel der Darstellung – wie es um diese steht, lehren Geometrie und Physik. Die Kunst delegiert das Wissen. Sie genügt sich selbst. Genügt sie dem Betrachter? Der weiß zu genau, wie oft sein Blick in den Galerien an den endlosen Reihen der Abstrakten vorbei an der zweitklassigen Behandlung irgendeines gegenständlichen Motivs haften bleibt. Die Gegenstände bedürfen der Kunst.«
Die Kunst bedarf ihrerseits der Gegenstände. Das beharrliche Ausschwitzen des Gegenständlichen hat der Kunst ihre feste Kontur genommen und sie zu einer fatalen Ausweitung des Kunstbegriffs verleitet. Wir sind heute an einem Punkt angelangt, wo alles Kunst ist. Der Künstler A stellt sich auf ein Podium und erklärt sich selber zur Kunst, Künstler B heftet auf eine sonst leere Galeriewand einen Zettel, auf dem der Besucher lesen kann: »Auch du bist Künstler«; der Künstler C erklärt seine Aussage, er mache keine Kunst, zur Kunst. Das mag witzig und mit dem pikanten Geruch des Tabu-Bruchs behaftet sein – aber bloß das erste Mal. Dann bleibt nur die Leere im Gegensatz zum Kunstwerk im bisherigen Sinn, dessen Wirkung auf uns sich jeden Tag erneuert.
Gegenstandsverlust und »schlechte Unendlichkeit« durch Zerdehnung des Kunstbegriffs sind zwei Seiten derselben Sache. Welche Fehler des Denkens, welche Schwächen der Einfühlung haben in diese Sackgasse geführt? So unvergeßlich ein Stilleben von Braque, ein Straßenbild Kirchners von 1913 sein mögen – wir spüren, daß in der modernen Malerei von Anfang an Faktoren wirksam waren, die in letzter Konsequenz dann an diesen toten Punkt geführt haben. Es ist ein ganzes Bündel von Faktoren – aber zwei davon waren entscheidend. Der eine war die Unfähigkeit, sich über den Zusammenhang von Inhalt und Form in der Malerei klar zu werden. Der andere war das Unvermögen, die Funktion eines Bildes zu begreifen. Wenn man diese beiden Syndrome aufstechen will, muß man sich allerdings verhalten, als hätte man nie ein Traktat über die moderne Malerei gelesen. Wer die im Umkreis dieser Malereien entwickelten Theorien oder auch nur die Richtungsbezeichnungen der einander mit immer größerer Schnelligkeit ablösenden Kunst-Ismen übernimmt, verwirrt sich unentrinnbar ins Netz. Gehlens Feststellung von 1960, ein modernes Kunstwerk bestehe zur Hälfte aus dem mitgelieferten Kommentar, ist dahin zu ergänzen, daß der Kommentar heute schon gut 90 Prozent ausmacht. Die Probe darauf kann man in München im Lenbach-Haus machen. Dort sind in einem eigenen Raum die umstrittenen beiden Leichenwaschtische von Beuys aufgestellt – den etwas anspruchsvollen Titel dieses »Ensembles« habe ich wieder vergessen. Zu welcher Tageszeit auch immer stößt man dort auf das gleiche Bild: ein andächtiger Kreis von Besuchern steht mit dem Rücken zu den Tischen an der gegenüberliegenden Wand und liest die dort angeschlagene sehr ausführliche Theorie dazu. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der das Kunstwerk selbst anschaut. Oder ist es gar nicht mehr das Kunstwerk?
Mit dieser Frage sind wir mitten im Thema: Rolle des Gegenstandes im Bild, Funktion des Bildes. Auch hier steht wie bei jedem Unsinn, den Menschen anrichten, eine falsche Philosophie am Anfang. Hier ist es die zu oberflächliche Unterscheidung von »Inhalt« und »Form« – oder vielmehr ihre Trennung, das Auseinanderreißen von Inhalt und Form. Es wird mit einer Selbstverständlichkeit vollzogen, als wäre es das Natürlichste von der Welt. Die im Bild dargestellten Gegenstände unserer Umwelt gelten allenfalls noch als Vorwand zur Entfaltung des Kunstwerks; was dieses ausmache, seien die Linien, die Flächen, die Farben, ihre Verteilung und Vermengung, ihr Zusammenspiel – also eine vom »Inhalt« des Bildes losgelöste »Form«. Die erkennbaren Gegenstände als solche hätten mit dem Kunstwerk nichts zu tun, man könne deshalb auf sie verzichten. »Reine« Kunst entstehe vielmehr in einem von solchen Oberflächlichkeiten befreiten Spiel der Linien, Flächen und Farben. (Das Argument, zum Festhalten der Gegenstände genüge die Fotografie, wird zurückhaltender verwendet, seit man erkannt hat, wie sehr auch ein Foto die sichtbare Welt »gestaltet« und nicht bloß »reproduziert«.) Die Malerei ist seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Weg der Loslösung vom Gegenstand gegangen – auch wenn es immer wieder zu verzweifelten Versuchen einer Rückholung des Gegenstandes kam (zuletzt im Photorealismus seit Mitte der 60er Jahre). Die Großen am Anfang dieses Weges, etwa ein Cézanne oder ein Seurat, haben in einer Weise mit dem Gegenstand »gerungen« (das pathetische Wort ist am Platz), die eine letzte große Ehrung der sichtbaren Welt war. Wir müssen jedoch von der heutigen Situation aus urteilen, in der wir es nur noch mit kümmerlichen Epigonen jener Meister zu tun haben. Um uns herum hat sich die Malerei in eine Unmasse von dekorativem Teppichwerk oder dann in beliebige Psychogramme der einzelnen Maler ausgefasert: bloße optische und bloße subjektive Reize, die auf die Dauer nur noch Langeweile hervorzurufen vermögen.
Haben wir es uns mit dem »Gegenstand« vielleicht doch zu leicht gemacht? Welche mysteriöse Rolle spielt er in der Kunst? Ist er nicht so etwas wie das Sandkorn, das erst aus dem Gelee eine Perle wachsen läßt? Der Lübecker Kunsthistoriker Fritz Schmalenbach hat da Ordnung in verblasenes Denken gebracht. Und zwar in einem Aufsatz »Inhalt und Form bei einem Bild«, der 1979 in Heft 2 der Neuen Rundschau erschien; dreizehn Seiten angespannte Erkenntniskritik, die wir hier in ihre Endergebnisse raffen müssen. Im Kern zwei entscheidende Einsichten. Zum einen: »Inhalt« und »Form« sind korrelative Begriffe, die nur aufeinander bezogen einen Sinn haben. Zum andern: die Form eines Kruges in der Wirklichkeit ist nicht die Form des Bildes, in dem wir einen Krug erkennen. Die Form des Bildes sind für ihn aber auch nicht jene Linien, Flächen, Farben, sie ist für ihn vielmehr stets das »Wie eines Etwas«. Er scheidet die übliche Gleichsetzung von Inhalt und Abbildung aus, indem er die »Form eines Bildes als Form der gestellten Aufgabe« erkennt. Es geht Schmalenbach also um die »Von-etwas-Dimension der Form«.
Fritz Schmalenbach begründete ein Unbehagen theoretisch, das weniger bewußt viele Kunstfreunde seit langem schon befallen hat. Es läßt sich in die Frage fassen: Verzichtet der Maler nicht auf seinen stärksten Verbündeten, wenn er sich auf die Auseinandersetzung mit der sichtbaren Welt um ihn herum gar nicht mehr einläßt? Um es noch einmal mit aller Deutlichkeit zu sagen: Das ist nicht eine Aufforderung, der Maler solle diese Umwelt einfach abbilden. Früher forderte man, der Maler müsse seine Umwelt »gestalten«. Heute kann man das nüchterner sagen: Er soll diese Welt in »seine Sprache« umsetzen – was eine sehr freie Umsetzung sein kann (aber nicht sein muß). Die Auseinandersetzung des Künstlers mit der (Um-)Welt lädt sein Werk mit Potenzen auf, die er aus sich allein nicht produzieren kann. Ist der Gegenstand verschwunden, knistert es eben nicht mehr. Man kann den Reichtum der Welt nicht in »reine« Form überführen, nicht in ein vom Gegenstand gelöstes Spiel der Linien, Flächen, Farben. Das »Etwas«, von dem die Bild-Form das »Wie« ist, sind dann nur die zufälligen Spannungen, Stimmungen und die angestrebten Gleichgewichtszustände, die sich gerade im malenden Individuum fnden. (Wobei natürlich die Vorstellung eines isolierten Individuums, in das nicht ständig die Umwelt hineinflutet, eine hermeneutische Hilfs-Konstruktion ist). Es ist eine gewaltige Überschätzung des Menschen zu glauben, ein einzelner aus dieser Spezies (und sei es ein »Genie«) enthalte den ganzen Reichtum der Welt in sich.
Auch die andere Frage, um die es hier geht, läßt sich beantworten, wenn man von einer realistischen Anthropologie ausgeht – die Frage: Was ist ein Bild? Auch hier sollte man sich vor jener Überschätzung des Menschen hüten. Aber der »Intelligibilitäts-Wahn« ist eine Versuchung, der gerade denkende Menschen schwer widerstehen können. Intelligibilität nennen die Philosophe die Identität von Denken und Sein – und wem würde nicht der Glaube schmeicheln, die Struktur der Welt, ja ihr »Mechanismus« spiegele sich getreu in unserem Kopf. Ein nüchterner Blick erkennt jedoch, daß der Mensch die Welt um ihn herum nicht überblicken, nicht durchschauen kann. Statt Transparenz nimmt er ein Chaos wahr – gegen das er sich jedoch zu behaupten sucht. (Ob die Welt wirklich ein Chaos oder aber ein geordnetes, sinnvolles Ganzes ist, hat er damit keineswegs beantwortet oder auch nur entschieden – es entzieht sich ganz einfach seiner Kenntnis.) Allein von diesem menschlichen Grundverhalten gegenüber der Welt aus kann man verstehen, was ein »Bild« ist – was überhaupt »Kunst« ist.
Der Künstler greift aus der Welt um ihn herum Einzelnes heraus, um es zu »bearbeiten«, zu formen und so als ein Geformtes dem als ungeformt empfundenen Ganzen entgegenzustellen. Das gilt für einen Palast oder für eine Kathedrale genauso wie für eine Plastik oder ein Bild – es gilt sogar für das Schmuckstück, das ich mir an den Finger stecke. Kunst ist also eine nicht von jedem Menschen ausgeübte besondere Art dessen, was jeder Mensch tut: sich in der Welt behaupten. (Oder: ihr Sinn geben.) Von dieser Anthropologie aus läßt sich auch ein eindeutiger Begriff des »Bildes« gewinnen. In dieser Sicht ist das Bild ein der Wirklichkeit abgewonnenes Konzentrat, das mir hilft, der als Ganzes diffus empfundenen Wirklichkeit standzuhalten. Deshalb gehört zum Bild die Abgrenzung – ohne sie würde es ja gerade in das zerlaufen, wogegen man sich behaupten will. Diese Begrenzung braucht nicht unbedingt ein Bilderrahmen zu sein – es kann auch ein sonst irgendwie erkennbares Ende des Bildes sein. Beim Wandbild etwa die Begrenzung durch die Architektur. Dann kann man sich ein ungerahmtes Gebilde auf freier Fläche vorstellen, das durch seine Konzentriertheit nach innen, vielleicht auch durch seine Gebautheit als Bild wirkt. Wesentlich ist, daß nur das, was innerhalb der – sichtbaren oder unsichtbaren – Abgrenzung liegt, was also »im Bild« ist, von Bedeutung sein kann. Das, was das Bild ausmacht, kann nicht außerhalb des Bildes liegen.
Von dieser strengen Auffassung des Bildes her kann die Diagnose für die moderne Malerei nur lauten, daß sie von der schleichenden Seuche der schlechten Unendlichkeit befallen ist. Sie hat nicht nur die wohltuende Begrenzung des Bildes gesprengt, sondern auch die Abgrenzung der Kunst von der Nichtkunst aufgehoben. Wenn aber alles Kunst ist, ist nichts mehr Kunst, oder Kunst nichts. In der Malerei wird die schlechte Unendlichkeit daran erkennbar, daß die Bilder nur noch Vorwand sind – Sprungbretter, um sich in irgendein abstraktes Räsonnement zu verlieren. Ob das erwähnte »Ensemble« von Beuys ein Bild oder eine Plastik ist, wird zur müßigen Frage: Seine Funktion war ja, bekannte Persönlichkeiten der Münchner Gesellschaft zu hochgestochenen und bis zur autobiographischen Entblößung gehenden Deutungen zu provozieren. Die Theorielastigkeit ist jedoch nicht das einzige Symptom des Zerfließens der Bilder. Der Abmarsch des Sinnes (in beiderlei Sinn des Wortes) aus dem Bild nimmt noch andere Formen an. Der amor vacui – der Hang zur Leere, zur Negation, der die Epoche kennzeichnet, ist paradoxerweise sehr erfnderisch im Entwickeln immer neuer Spielarten der Negation; wir scheinen darin noch nicht am Ende angelangt zu sein. Dieser Trend in der Kultur unserer Zeit fel mir in intensiverer Weise (auch quantitativ intensiver Weise) zuerst gegen Ende der 50er Jahre auf. Damals drückte ich mich noch weniger akademisch aus und sprach in jugendlicher Direktheit von der »Kunst des Lochs«.
In jenen Jahren begann sich die disziplinierende Wirkung der großen Meister der Moderne zu lockern. Der Verzicht aller Künste auf Weltprägung, Weltdeutung, ja Weltbewältigung (und damit »Lebenshilfe«), bisher nur in Ansätzen spürbar, begann sich epidemisch auszubreiten. Die Pionierkünste waren dabei jene, die vom Aufnehmenden am wenigsten Arbeit verlangen: das Theater und der Film. Man hörte sich fasziniert Theaterstücke an, deren einziger Inhalt darin bestand, daß die Darsteller auf jemanden warteten, der auch am Ende des Stückes noch nicht gekommen war und von dem man nicht wußte, ob es ihn überhaupt gab. Leeren Blikkes schauten die Schauspieler ins Nichts; was sie dachten, wurde nicht gesagt, aber man spürte, es war unendlich viel. Und der Film wußte das mit seinen Mitteln noch zu übertrumpfen. Ließ sich die Tiefe der Welt eindringlicher darstellen als durch das Verschwinden einer Person am Anfang des Filmes, die sich dann während der ganzen Dauer des Films nicht beim Regisseur zurückmeldet? In der Tat: das Loch als bevorzugtes Stilmittel. Und der Künstler, der später ein Loch wirklich kilometertief in die Erde graben lassen wollte, verspielte mit diesem »Naturalismus« die Pointe. Es hätte genügt zu sagen: Stellt euch vor – nein, hier ist ein Loch, das auf der anderen Seite der Erde wieder herauskommt …
Die Malerei hat es mit der Kunst des Lochs nicht so leicht. Gewiß, einer schlitzt seine Leinwände auf, der andere stellt seine Bilder mit dem Rücken zum Publikum, ein dritter hängt die Rahmen zwar richtig, doch zeigen sie nur eine weiße Leinwand. Aber die Malerei war viele Jahrhunderte lang eine recht sinnliche Kunst, und das hängt einigen ihrer Adepten bis heute an. Es gibt sogar einige wenige Maler, die noch wissen, daß man Weiß nicht einfach produzieren kann, in der man in der Farbschicht ein Loch offen läßt, durch das dann die weiße Leinwand durchwinkt. Das Malen von Weiß haben nur wirkliche Meister beherrscht; es galt dabei, das aufgesetzte Weiß durch ein ganze Skala anderer Töne zum Leuchten zu bringen. So hat die Malerei eine Reihe von Strategien entwickelt, die Kunst des Lochs in indirekter Weise zu praktizieren. Wir lassen einige von ihnen hier paradieren – wobei wir uns kurz fassen wollen, denn die Schaustellungen sind bekannt:
Strategie des Nein. Sie ist die simpelste aller Strategien. Man male eine brave, normale Landschaft und lasse dann einen Kessel Farbe drüber runterlaufen. Man nehme eine Photographie und verschmiere sie. Man kann auch nackte Männer malen, die auf dem Kopf zu stehen scheinen. Sieht man genauer hin, so merkt man, daß sie weder kopfstehen noch aufgehängt sind. Aber die Bilder sind am unteren Bildrand, wo die Köpfe sind, mit normaler Schrift signiert.
Strategie des Zufalls. Sie ist ein wenig anspruchsvoller. Wenn ich nicht mehr in die Welt auszugreifen vermag, so ist die Versuchung groß, Abläufe in Gang zu setzen, deren Ergebnisse ich nicht im voraus weiß. Der eine füllt bunte Glaskugeln zwischen zwei Glasscheiben und freut sich über die Konfigurationen, die dabei entstehen. Der andere gießt eine heißflüssige Masse über Höcker und delektiert sich an den eleganten Erstarrungsschleifen. Selbst die hochkomplizierten OP-Installationen mit Glühbirnen und Spiegeln, mit klirrenden Glasketten und motorisierter Bewegung erwecken den Eindruck, der Künstler habe ausprobieren wollen, welche Effekte dabei herauskommen. Aber all das hat die Gesetzmäßigkeit des Zufalls, die zerstreut, nicht konzentriert. So köstlich die Reize sein mögen – bald meldet sich die Langeweile. Denn wir vermissen das wirkliche Bild, in dem ein anderer Mensch, stellvertretend für uns, mit seiner ganzen Kraft ein Stück Wirklichkeit seine Form gibt.
Strategie des Zitats. Am einfachsten geht das mit der Collage. Man nehme eine Odaliske von Ingres und montiere sie in das Foto eines Autorennens: »Das haut hin«. Man kann es auch diskreter machen, mehr sophisticated. Ich erinnere mich eines mehrstündigen Besuchs in der großen Max-Ernst-Schau vor zwei Jahren. Es dauerte lange, bis ich merkte, daß jedes Bild ein Zitat aus der Kunstgeschichte war. Das lag daran, daß Max Ernst keine plumpe Stilparodie betreibt; er erfindet sogar ganz neue Techniken, er schrubbt und zupft, um hinter seinem Wald, um drei Ecken herum, den von Caspar David Friedrich aufleuchten zu lassen. Was aber, wenn er an einen Besucher gerät, der die Vorbilder im Louvre oder im Rijksmuseum nicht kennt? Sind die Reize einmal verflogen, so bleibt eine Ansammlung leerer Bilderrahmen zurück.
Eine solche Ansammlung leerer Rahmen hat allerdings ihr Gutes. Sie lenkt unseren Blick auf die Meister, die den Weg der Moderne gegangen sind, aber gleichwohl versucht haben, Bilder zu schaffen. In sich konzentrierte, in sich ruhende und dadurch ausstrahlen Bilder, die uns nicht bloß zerstreuen, nicht bloß reizen. Bilder also, in denen wir ohne Haß und ohne Frustration die Wirklichkeit bestehen. Braque hat solche Bilder gemalt, oder etwa Oskar Schlemmer, ja sogar der grobschlächtige Léger.
Vor allem steigt vor dem Hintergrund der entleerten Rahmen das Bild (wieder der Doppelsinn) eines anderen großen, noch zuwenig in unser Bewußtsein gedrungenen Malers auf, dessen Opus ebenfalls in diesem Sommer zum ersten Male in Deutschland zureichend zu sehen ist (in München diesmal): Giorgio Morandi, 1890 in Bologna geboren, 1964 ebenda gestorben. Er gehörte zu den italienischen Pionieren der Moderne, stieg aber schon in der Mitte der 20er Jahre aus dem Betrieb aus und zog sich in sein Atelier wie in ein Kloster zurück. Er malte dort all die Jahre bis zu seinem Tod die gleichen Büchsen und Flaschen, in immer wieder leicht variierter Konfguration. Es sind Bilder, die sich nicht nach außen verlieren, sondern ganz in sich sind. Es sind Beschwörungsbilder, Meditationsbilder in einer Zeit, die glaubte, ungestraft mit dem Bild Schindluder treiben zu können.