sezession: Adriano, Sie gelten als einer der Erfnder des sogenannten Turbodynamismus. Was ist das für eine Kunstrichtung?
Scianca: Um ehrlich zu sein: Diesen Ruhm habe ich nicht verdient. Ich habe zwar die Entstehung des Turbodynamismus begleitet, aber ich bin mit Sicherheit nicht der Erfnder. Der Turbodynamismus entstand aus dem Schaffensdrang einer Künstlergruppe, verknüpft mit den metapolitischen Aktionen von CasaPound Italia in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst sowie deren Sprache, ihren Riten, ihren Heiligen und ihren Einrichtungen, die vor allem diese Kunst selbst und ihre parasitäre Rolle in der Gesellschaft am Leben nähren. In Hinblick auf diese Aspekte kann der Turbodynamismus in Wahrheit keine richtige »Kunstrichtung« sein, zumal es nirgendwo einen klar umrissenen Kanon von Regeln gibt, anhand derer sich entscheiden läßt, ob ein Werk als »turbodynamistisch« gelten kann oder nicht. Es geht viel mehr darum, die Kunst gleichermaßen in unserem Sinne zu revolutionieren. Sie soll die Museen verlassen, wieder mit dem Alltag konfrontiert werden, inklusive der Gefahr – kurz: mit dem richtigen Leben. Diese Kunst soll allerdings ebensowenig das »Gute« oder die »Menschenrechte« verkörpern, so wie sie auf die leicht zu entfachenden Skandale verzichtet, deren Urheber meinen, sie könnten alle Probleme lösen, indem sie Babypuppen in einem Park erhängen, um die alten Mütterchen zu erschrecken. Und all das geschieht natürlich, ohne daß man sich allzu ernst nimmt. Tatsächlich wird im »Manifest des Turbodynamismus« präzisiert, der Kult der Gefahr und die Begeisterung für die Aktion haben allein den Zweck, sich anschließend in der Bar (Kneipe) mit den Freunden rühmen zu können oder die Krankenschwestern zu beeindrucken. Ich bin kein Künstler, aber ich bin überzeugt, daß die Turbodynamisten Recht haben.
sezession: Das klingt zugleich ziemlich existentiell und ziemlich unernst. Gefährlich zu leben, Leute zu provozieren und Bürger zu verschrekken, ist noch keine Kunst – es sei denn, Sie hängen jener Definition an, die jeden Menschen für kunstfähig hält.
Scianca: Nein, das genügt für Kunst natürlich nicht. Und in der Tat geht es hier vor allem darum, wie wir bereits gesagt haben, eine bestimmte, narzißtische Idee, eine bürgerliche Konzeption der Kunst zu zerstören. Der Künstler muß wieder auf die Straße gehen, was nicht bedeutet, daß jedermann, der auf der Straße steht, gleich ein Künstler ist. Tatsächlich ist der Turbodynamismus kein künstlerischer Kanon, sondern ein vorbereitender Schock. Er ist »existentiell«, wie Sie es sagten. Der Turbodynamismus ist etwas, was dem Kunstwerk vorausgeht und etwas, auf das sich der Künstler in der Weise einzulassen hat, wie er über sich selbst denkt und wie seine Beziehung zur Welt ist. Darauf folgt dann die wahre und wirkliche Kunst. Hier zählen das Talent und das Können. Es gibt eine weitverbreitete Idee, derzufolge der moderne Künstler kein Könner mehr sein müsse. Was für ein Mißverständnis der Logik der künstlerischen Avantgarde. Jeder weiß, daß Picasso im realistischen Zeichnen hervorragend war, bevor er sich für die kubistische Zergliederung entschied. Marinetti schrieb auf eine chaotische Art und Weise, ohne Interpunktion, aber er hat uns auch sprachlich gekonnte, absolut klassische Übersetzungen von Tacitus hinterlassen. Um ein wahrer Künstler zu sein, genügt es nicht, eine originelle Idee zu haben, man muß zuallererst gut sein. Es ist notwendig, die traditionellen Stilrichtungen zu beherrschen, bevor man sie zerstört.
sezession: Im Rahmen der CasaPound Italia, deren Kulturbeauftragter Sie sind, gibt es Künstler, die den Turbodynamismus betreiben, nicht wahr? Ist das ein Kollektiv oder sind es einzelne Künstler? Und: Können Sie eine der Aktionen beschreiben?
Scianca: Ja, bei CasaPound gibt es ein turbodynamistisches Kollektiv von Künstlern. Die erste turbodynamistische Aktion war das Anbringen von rund zehn, etwa 2 × 2 Meter großen und farbenfrohen Bilder mit dem Porträt eines der größten Dichter Europas, Robert Brasillach. Diese mit Schablonen erstellten Werke, begleitet von dem Zitat »Je suis partout« (»Ich bin überall«), wurden in der Nacht in unmittelbarer Nähe von kulturell und künstlerisch bedeutenden Gebäuden angebracht. Aber ich will auch an die wechselnden Abbildungen gigantischer Videoprojektionen erinnern. Diese wurden an die Fassaden von Monumenten, Medienzentren/ Medienhäusern, den Sitz der Region Latium und das Museum der Modernen Kunst in Rom geworfen.
sezession: Was ist daran nun typisch turbodynamistisch? Der Inhalt kanns ja nicht sein, man könnte Brasillach doch einfach durch Ehrenburg, Churchill oder Klaus Mann ersetzen. Also: Woran erkennen wir, daß das ein Kunstwerk des turbodynamistischen Kollektivs sein muß? Haben die Künstler hinterher im CasaPound-Pub »Cutty Sark« vor den Mädchen geprotzt?
Scianca: Die ganze Aktion ist typisch turbodynamistisch. Das beginnt mit der Selbstsicherheit, mit der man eigenmächtig etwas setzt, und dieser Voluntarismus ist überhaupt die Grundlage dieser Kunst. Der Turbodynamismus eignet sich den Relativismus der Kunst an, um Kunst zu schaffen, setzt sich aber gleichzeitig gegen das Relative der anderen durch. Und natürlich haben sich die Künstler nach der Aktion vor den Mädchen im Pub gerühmt, zumindest glaube ich das, aber ich denke nicht, daß sie es im »Cutty Sark« gemacht haben.
sezession: Also: Der Turbodynamismus kennt keine Demut und keine Mitte, sondern ist eine aggressive, metapolitisch aufgeladene Prozedur, und vor allem ist er weder müde noch pessimistisch. Wird er von außen wahrgenommen? Wird das als Kunst wahrgenommen oder sogar als eigene Stilrichtung? Wie war beispielsweise die Reaktion auf das Projekt »Der Turbodynamismus fndet die Leiche von Bin Laden wieder«?
Scianca: Als wir mit dem Turbodynamismus begannen, wurde gleichzeitig ein ideologisches Manifest im Retro-Stil erstellt, ähnlich einer Bekanntmachung an die Bevölkerung des 19. Jahrhunderts. Es wurde an viele Wände Italiens angebracht. Das sorgte für einiges Aufsehen. Und auch heute zitieren Leute, die CasaPound Italia angreifen wollen, einzelne Stellen dieses Textes. Es scheint, als wäre dieses Manifest eine Einladung zur Kritik an uns und nicht in erster Linie eine kulturelle Provokation. Das ist sehr amüsant. Aus einem etwas intelligenteren, künstlerischen Blickwinkel wurde auch in den Medien über die Aktionen der Turbodynamisten gesprochen, mit weit weniger Aggressivität natürlich und auch nur selten. Künstlerisch ernstgenommen zu werden, ist unmöglich, wenn man nicht eine ganz bestimmte Sprache spricht und sich nicht den etablierten Gruppen öffnet, die wirklich über kulturelle Macht verfügen. Aber der Turbodynamismus ist ja eben gegen all dies angetreten. Und womöglich will er auch gar nicht ernst genommen werden.