Ich erinnere mich an ein Bühnenprogramm im Rahmen der Frankfurter Buchmesse, Jahre her. Es war am Stand der Zeit. Zwei Frauen – wenn nicht klug, so doch schlau genug, Bestseller der Sparte Sachbuch zu produzieren – standen an ihren Mikrophonen. Die eine Redakteurin stellte das aktuelle Werk der anderen vor. Es war ein gutes Buch, ein sehr gutes. Die Autorin war (und ist) SPD-Mitglied. Sie hat zahlreiche Bücher verfaßt, die man mit Fug und Recht »kulturkritisch« nennen darf – über Frühsexualisierung, über die »Emanzipationsfalle«, über den adoleszenten Umgang mit neuen Medien.
Weil das öffentliche Messegespräch kein langweiliges Pingpong werden sollte, hakte die Kollegin kritisch nach: Was die andere zu dem eventuell denkbaren Vorwurf sagen würde, sie verfalle in ihrem Buch in … Kulturpessimismus? Da wurde es kurz ruhig. Es wurde ein- und ausgeatmet: »Nein. Das nicht. Das nie.« – »Ja, das darf nicht sein.« – »Stimmt. Dem müssen wir alle entgegenwirken. Kulturpessimismus, das wäre definitiv die schiefe Ebene.« – »Genau. Wir Journalisten haben gelernt, daß Kulturpessimismus in die verkehrte Richtung führt. Fritz Stern…« – »Genau, Fritz Stern. Pflichtlektüre. Kulturpessimismus geht gar nicht. So darf man mein Buch keinesfalls lesen. Nicht mit kulturpessimistischer Brille.« – »Eben. Und das ist wichtig, das zu betonen. Es geht in Ihrem Buch nicht um Kulturpessimismus.« – »Nein, ganz definitiv nicht.«
Zu lernen war: Kulturkritik geht immer, sie ist notwendig! Ganze Scharen von Feuilletonisten wären arbeitslos ohne Kulturkritik. Kulturkritik darf sich punktuell äußern, in der Klage über eine dumme Inszenierung, über laue Weinjahrgänge, über eine mißratene Musikaufnahme. Sie darf auch Stimmung machen gegen Tendenzen, gegen gestrichene Budgets, gegen Lesefaulheit, gegen Anspruchshaltungen und neue Moden – aber sie muß im Rahmen bleiben. Das heißt, sie darf nicht davon ausgehen, daß der Fortschritt an sich nicht für eine Besserung der Zustände sorgen wird. Kulturkritik hat inhärent progressiv zu sein, sonst ist sie reaktionär. Und die semantischen Nachbarn des reaktionären Denkmusters sind so bekannt wie verfemt.
Sachbuchautoren stöhnen unter der notorischen Verlagsvorgabe: »Die von ihnen beschriebene Lage ist, wenn auch realistisch, so doch denkbar düster! Notwendig wäre noch, als Appendix quasi, eine Art Zehn-Punkte-Programm, wie wir mit vorhandenen Mitteln zu einer Besserung des Zustands kommen könnten.« Schwarzmalerei ist nur in enggebahnten Bereichen erlaubt: in ökologischen Fragen, in puncto Datensicherheit vielleicht und in bezug auf »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«, aber nie in kulturellen Fragen, schon gar nicht in nationalem Rahmen. Kritisiert einer zu vehement, zu grundsätzlich das Regietheater, eine Bildungsreform oder eine neue Geschlechterdoktrin, naht zwangsläufg der spöttische Unkenruf: Ah, hier beschwört wieder einer den Untergang des Abendlandes! Gewünscht sind kritische Kulturoptimisten. Leute, die sagen: Schau, es ist natürlich nicht gut, wie es ist. Es ist eine schwierige Sachlage, klar. Aber es ist doch nur ein Segmentchen falsches Leben im Wahren! Fünf, sechs, zur Not ein Dutzend Handgriffe, und schon geht’s weiter bergauf!
Es darf keine trockenen Äste geben, schon gar keinen morschen Stamm, die Rede soll allenfalls von Zweiglein sein, die hie und da der Beschneidung bedürfen. Die Sibylle unseres Jahrhunderts, nachnamens Berg, faßte das gültige Verdikt in ihrer Spiegel-Online-Glosse einmal so zusammen:»Kulturpessimismus ist keine Antwort auf die Veränderung der Welt, sondern das Jammern Sterbender.« Der Kulturpessimist sitze laut Berg in »keifender Verbitterung« wie jene Leute im Café, die über den Teenager, blöde über sein Gerät gebeugt, herziehen. Dabei, so Berg, gebe es »kein Besser-oder-schlechter, es gibt eine Entwicklung. Und die kann gut werden. Vielleicht formieren sich die ›Piraten‹ neu und sind die erste Partei, die wirkliche Demokratie bewirken kann. Was gerade passiert, ist Evolution, sage ich dem älteren Paar an meinem Tisch, das immer noch über die Verblödung der Jugend redet, man kann sie nicht aufhalten, ohne sich lächerlich und unglücklich zu machen. Tretet den Piraten bei, die brauchen ein paar Erwachsene, macht mit, solange es noch geht. Und verdammt noch mal, hört auf, euch zu empören.«
So soll man es sehen! Auf Twitter führt man sogar einen sogenannten Hashtag »#Kulturpessimismus«. Die Ironie der Geschichte will es, daß hier ausgerechnet Gunnar Sohn seinen Senf abgibt, jener Mensch, der 1998 Criticón, das altgediente Organ des Kulturpessimismus, übernahm und abwirtschaftete. Sohn: »Statt mit kulturpessimistischen Digital-Debatten wertvolle Zeit zu verplempern, sollten wir unser Hirn etwas mehr anstrengen, um Sinnvolles auf die Beine zu stellen. Beispielsweise in der Bildungspolitik, wo wir uns nicht mit den Potentialen des vernetzten Lernens beschäftigen, sondern sinnlose Strukturdebatten führen. Dabei wäre es wichtig, sich besonders in der Bildungspolitik mit den Vorzügen des vernetzten Lernens auseinanderzusetzen.«
Mit der Figur des Kulturpessimisten ist heute kein Blumentopf zu gewinnen. Peter Richter, Amerika-Korrespondent der Süddeutschen, sieht ihn so: Der Kulturpessimist sei »ein verschrobener Mensch, der morgens sorgenvoll sein Haupt über dieses ›Internet‹ wiegt und nachmittags 118 Euro für einen handgeschmiedeten Spaten bei Manufactum hinlegen geht, denn dort gibt es sie noch, die guten Dinge, ansonsten geht alles grundsätzlich abwärts, wie auf einer Treppe von M. C. Escher. Man hat Kerlchen mit spitzem Bäuchlein unterm Pullunder vor Augen, geistige Cordhosen, die gern wie Thomas Mann schrieben, zunächst einmal aber nur dessen Figuren ähneln, viel jünger, als man meinen würde.«
Und von solchem Typen soll eine Gefahr ausgehen? Welche denn? Fritz Sterns Buch Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland ist ein Dauerbrenner. Stern, gebürtiger Breslauer, 1938 mit seiner Familie in die USA emigriert, wurde 1953 mit dieser Arbeit promoviert. 2005 wurde das Buch zuletzt aufgelegt. Ralf Dahrendorf schrieb in seinem Vorwort zu deutschen Ausgabe von 1963, daß cultural despair einen »Komparativ der Kulturkritik« meine, und daß es hierbei um eine Kritik an der modernen Gesellschaft als solcher gehe. Jener Kulturpessimismus finde sich dort, wo »Wissenschaftsfeindschaft, Haß auf die Technik, Diffamierung der großen Zahl, emphatischer Naturliebe, völkischer Vorurteile« das Wort geredet werde.
Stern selbst sah in seinem Vorwort zur Ausgabe von 1974 eine »verschwommen linksgerichtete Auffassung« sich auf gefährliche Weise mit dem genuin rechten Protest gegen die – aus seiner Sicht unter allen Umständen zu verteidigende – Moderne verbinden. Kulturpessimismus war für ihn ein »pathologisches« Phänomen. Er sah in dieser Haltung eine Krankheit, die im persönlichen (psychischen) Leiden ihrer Träger wurzelte. Als Krankheitsträger machte er die sogenannte Konservative Revolution (KR) der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts aus, und hier namentlich drei Keimschleudern: Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck. Stern sieht sie in der Tradition des (bereits als gefährlich erachteten) deutschen Idealismus stehen: »Die geistig Unzufriedenen waren es, die sich oft der Ideologie der konservativen Revolution zuwandten.« Die drei werden prototypisch als »neue Art des entfremdeten Intellektuellen in der modernen Welt« betrachtet: »Konservativ waren sie aus Sehnsucht, revolutionär aus Verzweiflung.«
Fritz Sterns Buch, keineswegs wissenschaftlich unredlich, ist eigentlich eine kompakte Dreifachbiographie mit bündigen Vor- und Schlußworten. Sie hat die historische KR als einen ideellen Wegbereiter des Nationalsozialismus zum Thema und war kaum als Mahnruf für alle Zeiten gedacht. Die deutschsprachige Wikipedia erwähnt unter der Rubrik »Kulturpessimistische Werke« weder Langbehn noch de Lagarde oder Moeller van den Bruck, sondern (neben einschlägig Verdächtigen wie Spengler und Evola) Horkheimer und Adorno sowie weithin unbekannte Autoren wie Peter Kafka und Robert Heilbroner. Das hilft wenig. Sobald ein Denker, Autor oder Politiker seine Zustandskritik zu grundsätzlich faßt, dräut die Frage, ob da nicht Rechtspopulismus oder gar Kulturpessimismus anklinge. Und das ist spätestens in unseren Tagen als Gretchenfrage zu verstehen.