Autorenporträt Dostojewski

»Dostojewski – das ist Rußland. Es gibt kein Rußland ohne Dostojewski«:

Was der rus­si­sche Sym­bo­list Ale­xej Remisow 1927, fünf­zig­jäh­rig, in der Pari­ser Emi­gra­ti­on fest­hielt, ent­spricht bis heu­te der Wahr­neh­mung des Rangs Fjo­dor Michai­lo­witsch Dos­to­jew­skis (1821–1881) durch das deut­sche Publi­kum. Nur weni­ge Dich­ter wer­den so inten­siv mit der Natio­nal­li­te­ra­tur ihres Vol­kes iden­ti­fi­ziert wie der Schöp­fer von Schuld und Süh­ne (1866), Der Spie­ler (1867) und Der Idi­ot (1869), Die Dämo­nen (1872) und Die Brü­der Kara­ma­sow (1880). Lie­ßen sich Lyrik und Vers­dich­tung so ein­dring­lich in ande­re Spra­chen über­tra­gen wie die Pro­sa der Roman­dich­tung, wäre Alex­an­der Pusch­kin als rus­si­scher Dich­ter­fürst von Goe­the­scher Dimen­si­on wohl auch hier­zu­lan­de so prä­sent wie in sei­ner Hei­mat und im Wer­ke Dos­to­jew­skis selbst. Die­ser näm­lich nann­te es die Krö­nung sei­ner öffent­li­chen Aner­ken­nung, daß er in sei­nem letz­ten, dem sech­zigs­ten Lebens­jahr die Ehre hat­te, in der Ver­samm­lung des Ver­eins der »Freun­de rus­si­scher Lite­ra­tur« eine Rede auf jenes Monu­men­tal­ge­nie hal­ten zu dürfen.

»In Pusch­kins Erschei­nen liegt für uns Rus­sen etwas zwei­fel­los Pro­phe­ti­sches«, hob Dos­to­jew­ski an und bean­spruch­te ihn damit zugleich als Kron­zeu­gen für sein eige­nes Ver­mächt­nis. Pusch­kin ste­he für die bei­den Haupt­ideen, die das künf­ti­ge Schick­sal Ruß­lands bestimm­ten: die Uni­ver­sa­li­tät Ruß­lands (die Fähig­keit also, sich in den Geist ande­rer Völ­ker hin­ein­zu­ver­set­zen, und die dar­aus sich erge­ben­de Kraft Ruß­lands zur »All­ver­söh­nung«) und die Umkehr zum Volk und das Ver­trau­en in sei­ne Kraft. Pusch­kin habe als ers­ter jenen nega­ti­ven, krank­haft ent­frem­de­ten Typ des gebil­de­ten rus­si­schen Men­schen dar­ge­stellt, der »an die Hei­mat und ihre auto­chtho­nen Kräf­te« nicht glau­be; und er habe als ers­ter künst­le­ri­sche Typen jener »rus­si­schen Schön­heit« auf­ge­zeigt, »die tief im Volks­emp­fin­den, unse­rem Erd­bo­den, ruh­te«. Damit ist das gro­ße The­ma ange­schla­gen. Es ist eine Beson­der­heit der rus­si­schen Geis­tes­ge­schich­te, daß Ruß­lands gro­ße Dich­ter nicht nur als Lite­ra­tur­schöp­fer ver­ehrt wer­den, son­dern zugleich als sitt­li­che Weg­wei­ser und Leh­rer. Der gro­ße Roman ist in Ruß­land – das kei­ne lan­ge eigen­stän­di­ge Tra­di­ti­on insti­tu­tio­na­li­sier­ter, aka­de­mi­scher Phi­lo­so­phie kennt – eine phi­lo­so­phi­sche Gat­tung. Sei­ne größ­ten Dich­ter erwer­ben die mora­li­sche Auto­ri­tät von Pro­phe­ten und Patri­ar­chen. Die­ser Rang ver­bin­det Dos­to­jew­ski mit sei­nem legi­ti­men Erben im zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert, Alex­an­der Iss­a­je­witsch Sol­sche­ni­zyn. Dos­to­jew­skis Wir­kungs­macht auf Lite­ra­ten und Den­ker inner­halb und außer­halb Ruß­lands beruht auf sei­ner weit­rei­chen­den, tief­schür­fen­den, kei­nen Abgrund scheu­en­den Gedan­ken­welt. Vor allem in sei­nen ein­gangs auf­ge­zähl­ten, in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts mit sei­nen tief­grei­fen­den poli­ti­schen Umwäl­zun­gen ent­stan­de­nen fünf gro­ßen Roma­nen ver­webt er mit dra­ma­ti­schen Pola­ri­sie­run gen und über­ra­schen­den Wen­dun­gen eine schier unend­li­che Viel­falt von Cha­rak­te­ren, oberfläch­li­che und über­ra­gen­de, Irren­de und Abgeklärte.

Sie trans­por­tie­ren kei­nes­wegs allein sei­ne sla­wo­phi­len Über­zeu­gun­gen – auch der West­ler, Ratio­na­list und Libe­ra­le, der Mili­ta­rist, Revo­lu­tio­när, Sozia­list, Anar­chist und Nihi­list tre­ten authen­tisch und unge­fl­tert auf und wer­den in ein fas­zi­nie­ren­des Ideen­rin­gen geschickt. Damit hat er nicht nur die rus­si­sche, son­dern auch die euro­päi­sche Lite­ra­tur nach­hal­tig beeinflußt. Vor dem Hin­ter­grund des Dos­to­jew­ski­schen Kos­mos erscheint Tho­mas Manns Zau­ber­berg wie ein libe­ra­ler Abklatsch. Den Natu­ra­lis­ten, Sozi­al­kri­ti­kern und zeit­wei­se sogar den sowje­ti­schen Sozi­al­rea­lis­ten erscheint der Dos­to­jew­ski der Armen Leu­te, sei­nes Erst­erfolgs von 1846, und der Ker­ker­auf­zeich­nun­gen Aus einem Toten­haus (1862) als einer der ihren. Auf die zeit­ge­nös­si­schen Libe­ra­len ziel­ten die Dämo­nen, die die Zer­stö­rung des gesell­schaft­li­chen Gefü­ges einer Pro­vinz­stadt durch das Auf­tre­ten der »bösen Geis­ter« (dies der Titel der Neu­über­set­zung von Swet­la­na Gei­er) des Nihi­lis­mus als »Ver­rat« schil­dern; das zwan­zigs­te Jahr­hun­dert las das düs­te­re Gemäl­de des Zusam­men­bruchs einer Ord­nung von innen als sehe­ri­sche Vor­ah­nung des bol­sche­wis­ti­schen Umstur­zes, der Dos­to­jew­skis »Ohne Gott ist alles erlaubt« auf das blu­tigs­te zu bestä­ti­gen schien.

Her­mann Hes­se sah in den Brü­dern Kara­ma­sow eine Vor­ah­nung des Unter­gangs des euro­päi­schen Geis­tes. Dos­to­jew­skis Got­tes­ver­ständ­nis beeinfluß­te über Karl Barth die neue­re evan­ge­li­sche Theo­lo­gie. Sym­bo­lis­ten und Sur­rea­lis­ten, Exis­ten­tia­lis­ten und Psy­cho­ana­ly­ti­ker ent­deck­ten in Dos­to­jew­ski einen Vor­läu­fer und Anre­ger. Fried­rich Nietz­sche, des­sen Werk ohne die Abar­bei­tung an Dos­to­jew­skis Got­tes­be­griff nicht zu den­ken ist, notier­te, der gro­ße Rus­se sei »der ein­zi­ge Psy­cho­lo­ge, von dem er etwas zu ler­nen hat­te«. Dos­to­jew­ski selbst hält am Ende sei­nes Lebens fest, »man nennt mich einen Psy­cho­lo­gen. Das ist nicht rich­tig. Ich bin nur ein Rea­list in höhe­rem Sin­ne, das heißt: ich zei­ge alle Tie­fen der Menschseele«.

Die unmit­tel­ba­re und ein­dring­li­che Authen­ti­zi­tät, mit der er dies tut, ver­dankt sich nicht zuletzt inten­si­vem, eige­nem Durch­le­ben. Der schrei­ben­de jun­ge Leut­nant der 1840er Jah­re stand unter dem Einfluß des athe­is­ti­schen Sozia­lis­ten Belin­ski und fand Zugang zum Intel­lek­tu­el­len­zir­kel des Fou­rier-Anhän­gers und Revo­lu­tio­närs Michail Petra­schew­ski. 1849 mit vier­zehn wei­te­ren »Petra­schew­zen« ver­haf­tet, zum Tode ver­ur­teilt und erst auf der Hin­rich­tungs­stät­te begna­digt, durch­leb­te er Zucht­haus und Ver­ban­nung. Erst nach zehn Jah­ren wur­de ihm die Rück­kehr nach Peters­burg gestat­tet. Dos­to­jew­ski litt an epi­lep­ti­schen Anfäl­len wie sein Fürst Mysch­kin (Der Idi­ot), er ver­sank in den Kasi­nos der deut­schen Kur­städ­te in den Abgrün­den und Demü­ti­gun­gen der Sucht nach dem in Ruß­land ver­bo­te­nen Glücks­spiel. Aus einer auf­stiegs­be­wuß­ten Fami­lie des klei­nen Dienst­adels stam­mend, war Dos­to­jew­ski mate­ri­ell den­noch nicht abge­si­chert wie der Graf und Guts­be­sit­zer Leo Tol­stoi; Geld­not und der Zwang, um sei­ne Exis­tenz und den Unter­halt sei­ner Fami­lie zu schrei­ben, waren häuf­ge Beglei­ter. Sei­ne ange­schla­ge­ne Gesund­heit ver­an­laß­te ihn wie­der­holt zu Auf­ent­hal­ten in den Kur­or­ten Deutsch­lands und der Schweiz, deren Men­schen ihm wenig behagten.

Schein­hin­rich­tung, Haft und Ver­ban­nung waren der Wen­de­punkt sei­ner Über­zeu­gun­gen und sei­ner eige­nen »Hin­wen­dung zum Volk«. Aus den Intel­lek­tu­el­len­zir­keln war er gewor­fen in »die unmit­tel­ba­re Berüh­rung mit dem Volk, die brü­der­li­che Ver­ei­ni­gung mit ihm im gemein­sa­men Unglück; die Ein­sicht, daß man selbst zu Volk gewor­den, somit gleich­ge­stellt, ja, sogar auf sei­ne nie­ders­te Stu­fe hin­ab­ge­drückt war«. Aus dem radi­ka­len Intel­lek­tu­el­len wur­de der Sla­wo­phi­le Fjo­dor Dos­to­jew­ski, der sich zur Drei­ei­nig­keit von Ortho­do­xie, hei­li­ger Erde und rus­si­schem Volk bekennt und sich gegen jene west­le­ri­schen Intel­lek­tu­el­len wen­det, die glaub­ten, »Euro­pä­er« wer­den zu müs­sen, indem sie das Eige­ne ver­ach­ten. Vom Wes­ten aber nicht ernst genom­men, muß­ten sie schließ­lich zu Ver­nei­nern Euro­pas und para­do­xer­wei­se zu »wah­ren Rus­sen« wer­den. In sei­ner Pusch­kin-Rede bezeich­net er die Tren­nung in »West­ler« und »Sla­wo­phi­le« als »ein ein­zi­ges gro­ßes Miß­ver­ständ­nis, wenn auch ein his­to­risch not­wen­di­ges«, das es zu über­win­den gel­te. Das west­li­che Euro­pa leh­ne Ruß­land ab, weil jenes wie­der­um Ruß­lands Hin­wen­dung zu Euro­pa seit der Petri­ni­schen Öff­nung als Usur­pa­ti­on ableh­ne und ihm miß­traue, denn es brin­ge eine »ande­re Idee« in die Mensch­heit. Ruß­land müs­se erst sei­ne eige­ne Form, sein eige­nes Wort fnden, um ande­ren auf Augen­hö­he zu begeg­nen. Rus­se wer­den heißt aber zuerst, »auf­hö­ren, sein eige­nes Volk zu verachten«.

Die rus­si­sche Natio­nal­idee fndet Dos­to­jew­ski in der Fähig­keit zur »all­mensch­li­chen Ver­ei­ni­gung«, die wie­der­um in der Ortho­do­xie begrün­det lie­ge. Volk und Gott hän­gen für Dos­to­jew­ski eng zusam­men. Für Dos­to­jew­ski ist das rus­si­sche Volk das recht­gläu­bi­ge Volk, das auch Nicht­sla­wen ein­schließt. Das unter­schei­det ihn von den zeit­ge­nös­si­schen Pan­sla­wis­ten – auch wenn er in sei­nem Tage­buch eines Schrift­stel­lers (1873–1881) das Ein­tre­ten Ruß­lands für die ortho­do­xen Sla­wen unter tür­ki­scher Herr­schaft im Bal­kan­krieg von 1877/78 vehe­ment begrüßt. Es unter­schei­det ihn aber auch vom pri­mär poli­ti­schen Sla­wo­phi­lis­mus Dani­lew­skis, des­sen Ideen in den Dämo­nen von der Roman­per­son des Scha­tow ver­tre­ten werden.

Dos­to­jew­skis Idea­li­sie­rung des ein­fa­chen rus­si­schen Men­schen, des Bau­ern, ver­bin­det und trennt ihn vom gro­ßen Zeit­ge­nos­sen Tol­stoi, des­sen Meis­ter­schaft in der Gestal­tung von Cha­rak­te­ren er aner­kennt, wäh­rend er gleich­zei­tig Skep­sis gegen­über des­sen libe­ra­len Posen und äußer­li­chem Refor­mer­tum durch­bli­cken läßt. Das Ver­trau­en in die Kraft des Vol­kes hat im zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert nicht nur Sol­sche­ni­zyn geprägt, des­sen Leben und Werk vie­le bemer­kens­wer­te Par­al­le­len zu Dos­to­jew­skis auf­wei­sen, son­dern auch die schon zu Sowjet­zei­ten in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren ein­set­zen­de rus­si­sche Bewe­gung »Wie­der­ge­burt«, die sich etwa in der Erneue­rung der Bau­ern­li­te­ra­tur durch die Schu­le der »Dorf­schrift­stel­ler« mani­fes­tiert. Nach dem Ende der Sowjet­uni­on wur­de Dos­to­jew­ski zum meist­ver­leg­ten rus­si­schen Autor, und im Zuge der Kon­so­li­die­rung Ruß­lands seit Beginn des 21. Jahr­hun­derts fnden auch sei­ne poli­ti­schen und welt­an­schau­li­chen Schrif­ten und Gedan­ken wie­der stär­ke­re Resonanz.

Schon in der Rede des letz­ten KPdSU-Gene­ral­se­kre­tärs Michail Gor­bat­schow in Kras­no­dar, in der die­ser 1986 das rus­si­sche Volk als »die letz­te Zuflucht, das letz­te Reser­voir der Spi­ri­tua­li­tät« bezeich­ne­te, fin­den sich Züge des spe­zifsch Dos­to­jew­ski­schen Mes­sia­nis­mus. Der rus­si­sche Kom­mu­nis­ten­chef Gen­na­di Sju­ga­now bezieht sich eben­so ehr­fürch­tig auf Dos­to­jew­skis Ver­mächt­nis wie die kon­ser­va­ti­ve Monats­schrift Nasch sow­re­men­nik (»Unser Zeit­ge­nos­se«), die betont, Natio­nen leb­ten aus einem gro­ßen Gefühl und einer all­um­fas­sen­den Idee und nicht allein von Bör­sen­spe­ku­la­tio­nen und der Sor­ge um den Rubel­kurs. Und wenn der Neo-Eura­si­er Alex­an­der Dugin die beson­de­re rus­si­sche Zivi­li­sa­ti­on beschwört, die weder euro­pä­isch noch asia­tisch, son­dern ortho­dox sei, und den umfas­sen­den Cha­rak­ter der Ortho­do­xie im Gegen­satz zum aus­gren­zen­den west­li­chen Katho­li­zis­mus her­aus­stellt, ist auch das von Dos­to­jew­ski eingegeben.

Die heu­ti­ge, auf Dos­to­jew­skis Spu­ren wan­deln­de rus­si­sche Sinn­su­che jen­seits einer plum­pen Imi­ta­ti­on des euro­päi­schen Wes­tens hat ihre his­to­ri­sche Par­al­le­le zur Wir­kung des gro­ßen Rus­sen auf das deut­sche Den­ken im Ange­sicht des Zei­ten­bruchs und der epo­cha­len Nie­der­la­ge Deutsch­lands im Ers­ten Welt­krieg. »Wir sind Revo­lu­tio­nä­re für etwas ande­res, das wir bis jetzt selbst noch nicht wis­sen, aus einer eige­nen Not­wen­dig­keit her­aus, sozu­sa­gen Revo­lu­tio­nä­re aus Kon­ser­va­tis­mus«, schrieb Dos­to­jew­ski 1876 in sei­nem Tage­buch eines Schrift­stel­lers. Tho­mas Mann griff das Wort 1921 auf, Moel­ler van den Bruck, der schon 1917 eine Edi­ti­on der Poli­ti­schen Schrif­ten Dos­to­jew­skis ein­ge­lei­tet und die 1906 bis 1922 im Piper-Ver­lag erschie­ne­ne ers­te deut­sche Über­set­zung des Gesamt­werks durch die Liv­län­de­rin Eli­sa­beth Kaer­rick (Pseud­onym E. K. Rah­sin) maß­geb­lich unter­stützt hat­te, mach­te den Begriff popu­lär: Die deut­sche »Kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on« hat­te in Dos­to­jew­ski nicht nur einen Namens­ge­ber, son­dern ihre Inspiration.

Fas­zi­niert zitiert Tho­mas Mann in sei­nen Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen Dos­to­jew­skis ver­wun­der­te Fest­stel­lung: »Soll­te es wahr sein, daß der kos­mo­po­li­ti­sche Radi­ka­lis­mus auch in Deutsch­land schon Wur­zel gefaßt hat?« Dos­to­jew­ski zieht eine Linie über zwei Jahr­tau­sen­de vom Wider­stand des Armi­ni­us gegen die römi­sche Inva­si­on über das Auf­be­geh­ren Luthers gegen das Papst­tum bis zu Bis­marcks Kul­tur­kampf und cha­rak­te­ri­siert Deutsch­land als »das pro­tes­tie­ren­de Land«. Der wesent­lichs­te Zug die­ses »gro­ßen, stol­zen und eigen­ar­ti­gen Vol­kes«, das sich »nie­mals mit der äußers­ten west­li­chen Welt hat ver­ei­ni­gen wol­len«, sei, daß es sich »seit dem ers­ten Augen­blick sei­nes Auf­tre­tens in der geschicht­li­chen Welt« dem uni­ver­sa­lis­ti­schen Herr­schafts­an­spruch Roms und sei­ner Erben, der katho­li­schen Zivi­li­sa­ti­on und sei­ner säku­la­ri­sier­ten For­men, der Gleich­heits­ideo­lo­gie des Libe­ra­lis­mus und Sozia­lis­mus, wider­setzt habe. In der »Legen­de vom Groß­in­qui­si­tor« (dem Fie­ber­traum des »Euro­pä­ers« unter den Kara­ma­sow-Brü­dern) spitzt Dos­to­jew­ski die­sen Herr­schafts­an­spruch ins Meta­phy­si­sche zu, indem er zeigt, daß ein Para­dies auf Erden in einen Nihi­lis­mus, in die Fän­ge des Anti­christs führt.

Jen­seits der Gehäs­sig­kei­ten, die Dos­to­jew­ski in Brie­fen und Schrif­ten bis­wei­len über geld­gie­ri­ge Deut­sche (und Schwei­zer) äußert, die ihm begeg­net sei­en (Urtei­le, in denen man auch ein Echo eige­ner Ernied­ri­gun­gen infol­ge pre­kä­rer fnan­zi­el­ler Ver­hält­nis­se sehen darf), jen­seits auch der Idea­li­sie­rung des rus­si­schen ein­fa­chen Men­schen, der auch im Trunk in sei­nem Unglück dem – berauscht noch mehr zur Prahl­sucht nei­gen­den – Deut­schen über­le­gen sei, hat Dos­to­jew­ski also im deut­schen Volk einen See­len­ver­wand­ten des rus­si­schen erkannt. Es habe zwar sei­ne poli­ti­sche Ein­heit und einen eige­nen staat­li­chen Orga­nis­mus her­ge­stellt, aber – wie das rus­si­sche – »sein eige­nes Wort« noch nicht gefun­den und aus­ge­spro­chen, und sei den­noch im Her­zen »immer über­zeugt, daß es noch ein­mal imstan­de sein wer­de, die­ses neue Wort zu sagen und mit ihm die Mensch­heit zu füh­ren«. Deutsch­land, heißt es an ande­rer Stel­le, »braucht uns nicht zu einem zeit­wei­li­gen poli­ti­schen, son­dern zu einem ewi­gen Bünd­nis … Zwei gro­ßen Völ­kern, uns und ihm, ist es bestimmt, das Ange­sicht der Welt zu verändern«.

Tho­mas Mann fand hier den Aus­gangs­punkt sei­ner Unter­schei­dung zwi­schen west­li­cher »Zivi­li­sa­ti­on« und deut­scher »Kul­tur«. In der Deu­tung der Nie­der­la­ge nach dem Welt­krieg erhiel­ten Dos­to­jew­skis Wor­te einen neu­en Sinn. Im Recht der jun­gen Völ­ker bezeich­net Moel­ler van den Bruck Dos­to­jew­ski als den »letz­ten poli­ti­schen Den­ker«. Marx sei der vor­letz­te gewe­sen, er habe »in Zif­fern« gedacht, Dos­to­jew­ski aber den­ke »in Men­schen«. Dos­to­jew­ski habe erkannt, daß der Mensch nicht nur an ideo­lo­gi­schen »Irr­tü­mern des Ver­stan­des« erkrankt sei, gegen die der Dich­ter mit sei­nem Kampf gegen Ratio­na­lis­mus, Libe­ra­lis­mus und West­ler­tum zu Fel­de zog, son­dern an »Irr­tü­mern des Her­zens« als Fol­ge der mate­ria­lis­ti­schen Ideo­lo­gie. In einem sozia­lis­ti­schen Jahr­hun­dert sei Dos­to­jew­ski der »ein­zi­ge Sozia­list« gewe­sen. Und Oswald Speng­ler notier­te im Unter­gang des Abend­lan­des, Dos­to­jew­skis christ­lich-ortho­do­xem rus­si­schem Sozia­lis­mus sei es nicht um äuße­re sozia­le Ver­bes­se­run­gen gegan­gen wie dem Libe­ra­len Tol­stoi, son­dern um see­li­sche Gesun­dung. Dar­in liegt zwei­fel­los die Bot­schaft sei­ner Aus­nah­me­ge­stal­ten wie der des Aljoscha Kara­ma­sow, der, äußer­lich am Gesche­he­nen unschul­dig, die inne­re Ver­ant­wor­tung annimmt, um alle von der Schuld zu erlö­sen. Dar­in auch besteht letzt­lich die »neue, eigen­stän­di­ge Idee«, die Ruß­land nach Dos­to­jew­ski der Welt zu geben habe und der der mate­ria­lis­ti­sche Wes­ten eben­so miß­traut wie der Eigen­art der nie ganz dazu­ge­hö­ren­den Deutschen.

Ob der Dich­ter recht behal­ten wird, wie Moel­ler pro­phe­zei­te, mag im unge­wis­sen lie­gen. Wahr bleibt Dos­to­jew­skis uner­schüt­ter­li­che Über­zeu­gung: »Die Mensch­heit kann nicht ohne hoch­her­zi­ge Ideen leben.«

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