Filmstart 1944: »Opfergang«

Am 8. Dezember vor siebzig Jahren, als den Deutschen dämmerte, was ihnen bevorstand, schlug der Filmkunst... 

in Deutsch­land noch eine gro­ße Stun­de. Seit einem Vier­tel­jahr waren die Schau­spiel- und Kon­zert­häu­ser geschlos­sen. In Trüm­mern lagen auch zahl­rei­che Film­thea­ter. Die­se Umstän­de ver­lie­hen der Urauf­füh­rung von Veit Harlans Melo­dram Opfer­gang in Ham­burg eine sym­bo­li­sche Dimen­si­on. Den Zuschau­ern strahl­te von der Lein­wand in über­ir­disch schö­nen Farb­film­auf­nah­men eine Stadt ent­ge­gen, die drau­ßen längst zu Schutt zer­rie­ben war. Ohne die aktu­el­le Wir­kung wäre der Film mög­li­cher­wei­se nie in die Kinos gekom­men, da der Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter sich zunächst abge­sto­ßen von der ver­meint­li­chen Todes­ero­tik des Werks gezeigt hat­te. Als sich dann im Febru­ar 1945 der Erfolg beim Publi­kum eben­so abzeich­ne­te wie die Nie­der­la­ge Deutsch­lands, lob­te er gegen­über dem Regis­seur die bezwin­gen­de Dar­stel­lung der Todes­nä­he. Gedreht wur­de für Opfer­gang in Ham­burg, kurz vor den gro­ßen Angrif­fen, in der Zeit von August 1942 bis Janu­ar 1943. Erst im Febru­ar 1944 gab die Prüf­stel­le den Film frei. Eine ers­te öffent­li­che Auf­füh­rung erfolg­te im Okto­ber in Stock­holm, der Geburts­stadt Kris­ti­na Söder­baums, der Haupt­dar­stel­le­rin und Gat­tin des Regisseurs.

Zur Legen­de über den frü­hen deut­schen Kunst­flm gehört die Behaup­tung sei­nes gewalt­sa­men Abwür­gens – es sei­en nach 1933 in Deutsch­land angeb­lich nur noch hand­werk­lich bie­de­re Indus­trie­pro­duk­tio­nen ent­stan­den. Das inter­na­tio­na­le Kino­pu­bli­kum hat das damals anders gese­hen, eben­so die Fach­leu­te der Bran­che. Jean-Luc Godard wag­te 1990 sogar die Behaup­tung: »Der deut­sche Film der gro­ßen Ufa-Zeit ist der ein­zi­ge, der gegen Hol­ly­wood gekämpft hat … Nach dem Krieg ist das zusam­men­ge­bro­chen, aber der deut­sche Film hat sich wirk­lich euro­pä­isch gege­ben. Und er war der ein­zi­ge, der bei­na­he die Mit­tel dazu gehabt hat­te.« Zwei wesent­li­che tech­ni­sche und ästhe­ti­sche Her­aus­for­de­run­gen wur­den in die­ser Pha­se bewäl­tigt. Der Ton­film und ein Jahr­zehnt spä­ter der Farb­flm eröff­ne­ten der Film­kunst jeweils ein völ­lig neu­es Metier. Fritz Langs M. war 1931 noch ein unge­ho­bel­tes Expe­ri­ment vol­ler Lärm und Hys­te­rie. Fünf Jah­re spä­ter gelingt dann Veit Har­lan mit der Ver­fl­mung von Lew Tol­stois Erzäh­lung Die Kreut­zer­so­na­te zum ersten­mal eine über­zeu­gen­de Ver­bin­dung ruhi­ger Dia­lo­ge mit beweg­ten Figu­ren. Den Zuschau­ern wur­de eine noch nie dage­we­se­ne Emp­fin­dung von Nähe ver­mit­telt. Das Publi­kum war fas­zi­niert von die­sem neu­ar­ti­gen Kino. Der ers­te deut­sche Farb­flm, Georg Jaco­bys Frau­en sind doch die bes­se­ren Diplo­ma­ten (1941), war dann eher noch ein Bunt­film. Ein Jahr spä­ter gelang auch in die­sem Bereich Veit Har­lan der Durch­bruch: Die gol­de­ne Stadt wur­de der größ­te kom­mer­zi­el­le Erfolg jener Jah­re. Allein die stil­be­wuß­ten Ein­woh­ner des besetz­ten Paris bescher­ten La ville dorée einen Zulauf von gut einer hal­ben Mil­li­on Zuschauern.

Die Fried­rich-Wil­helm-Mur­nau-Stif­tung nahm den 115. Geburts­tag des Regis­seurs in die­sem Herbst zum Anlaß einer klei­nen Retro­spek­ti­ve. Neben Die Kreut­zer­so­na­te und Die gol­de­ne Stadt wur­de Immensee (1943) gezeigt, der von der­sel­ben Her­stel­lungs­grup­pe par­al­lel zu Opfer­gang gedreht wur­de. Opfer­gang hat sich sei­ne Aura bis heu­te erhal­ten. Die Ver­fil­mung der Erzäh­lung von Rudolf G. Bin­ding erweist sich beson­ders wäh­le­risch in bezug auf Requi­si­te und Gar­de­ro­be. Die­se bewir­ken berau­schen­de Kom­ple­men­tär­kon­tras­te der Far­ben – so etwa, wenn Aels­kling Flo­dé­en (Kris­ti­na Söder­baum) im lan­gen roten Kleid als Bogen­schüt­ze auf der grü­nen Wie­se steht oder die Tönung ihrer Haut als Rei­te­rin in neu­tra­ler Bade­be­klei­dung auf einem Schim­mel sich vor dem Blau von Meer und Him­mel abhebt. Ein der­art ver­selb­stän­dig­tes Spiel mit den Far­ben wur­de erst zwei Jahr­zehn­te spä­ter von Michel­an­ge­lo Anto­nio­ni in sei­nem ers­ten Farb­flm, Il deser­to rosso, wie­der auf­ge­nom­men. Anto­nio­ni sag­te damals, er fin­de den Gedan­ken abwe­gig, einen Film ent­we­der in Far­be oder in Schwarz­weiß zu dre­hen, da die Far­be kein neben­säch­li­ches Detail sei. Harlans bes­ter Film zeigt sich von die­ser Ein­sicht bereits völ­lig durchdrungen.

Der deut­sche Film trat mit die­sem Werk wie­der in die quir­len­de Pha­se jenes Wage­muts, der bereits die Anfän­ge in den zwan­zi­ger Jah­ren geprägt hat­te. Har­lan war so etwas wie der Mur­nau des Farb­ton­films. Ästhe­ti­sches Neu­land betrat er im Schritt­maß eines Klas­si­kers. In die von Far­be und Musik ver­ur­sach­te Auf­re­gung stell­te er eine ruhi­ge, fast unbe­weg­li­che Kame­ra, die sich kaum von den Schau­spie­lern löst. Und weil sie nicht hek­tisch durch alle Ecken streift, son­dern gewis­sen­haft die Men­schen beob­ach­tet, erlan­gen die Film­bil­der eine gro­ße Autorität.

Als Albrecht Fro­ben (Carl Rad­datz) von einer Fern­ost­rei­se zurück­ge­kehrt ist, kann er sich nicht so leicht wie­der ein­fü­gen in die gedie­ge­ne Ham­bur­ger Gesell­schaft. Ihn fas­zi­niert die rät­sel­haf­te Nord­län­de­rin Aels Flo­dé­en, wel­che über den Som­mer auf dem Nach­bar­grund­stück wohnt. Dann hei­ra­tet er sei­ne mil­de Cou­si­ne Octa­via (Ire­ne von Mey­en­dorff), die den kame­rad­schaft­li­chen Umgang mit einer ihr wesens­frem­den Frau dul­det. Alle Betei­lig­ten bezäh­men ihre Lei­den­schaf­ten, die dar­um nur des­to wil­der in ihnen auf­ko­chen. Als die erkrank­te Aels das Bett hüten muß, rei­tet Albrecht zum täg­li­chen Gruß vor ihrem Fens­ter vor­bei. Sie bit­tet ihn, ihr Kind aus dem Hafen­vier­tel zu ber­gen, wo Typhus aus­ge­bro­chen ist. Fro­ben steckt sich an. Statt sei­ner rei­tet nun Octa­via im Män­ner­kos­tüm grü­ßend am Tor vor­bei. Mit sur­rea­len Über­blen­dungs­ein­stel­lun­gen und jen­sei­ti­ger Musik steu­ert der Film einem Ende von Ver­klei­dung, Ent­sa­gung und Fie­ber­traum ent­ge­gen. Der Eros ist die vor­wal­ten­de Macht der Hand­lung. Die Per­so­nen han­deln in Opfer­gang weder küm­mer­lich noch toll­kühn. Durch die Selbst­ver­leug­nung gelan­gen die Figu­ren zu ihrem Selbst. Das Leben ist groß­ar­tig, und die Leben­den wer­den dage­gen immer klein­lau­ter, je mehr sich ihnen davon ent­hüllt. »Wir lie­ben uns, mein Freund. Und es wird schlimm.«, sagt Aels.

Die Ent­sa­gung ist kei­ne Prü­de­rie. Sie ist hero­isch ver­hal­te­ne Lei­den­schaft. Ruhe­po­le ent­ste­hen dort, wo die Kräf­te durch ihre Über­la­ge­rung gelähmt sind. Nur weil der Trieb nicht zur vor­läu­fi­gen Erlö­sung in einem bestimm­ten ande­ren fin­det, ist er nicht inhu­man, oder gar ein Todes­trieb. Gewiß ist der Tod all­ge­gen­wär­tig. Er ist die ande­re Sei­te der Medail­le. Har­lan unter­nimmt hier einen Draht­seil­akt zwi­schen dem all­ge­mei­nen Emp­fin­den der Gefähr­dung inmit­ten eines kata­stro­phal sich nei­gen­den Krie­ges und der unver­min­der­ten Prä­senz einer pracht­vol­len Welt. Auch die­ser Zusam­men­bruch ereig­net sich im Früh­jahr. Der Geruch der Ver­we­sung mischt sich mit dem der erblü­hen­den Veil­chen und Nar­zis­sen. Die in der Ago­nie hal­lu­zi­nie­ren­de Aels fragt die Erschei­nung von Albrecht Fro­ben: »Bist du es wirk­lich?« Der erwi­dert dar­auf: »Wer kann sagen, was wirk­lich ist?« Es ist ein Film für Erwach­se­ne, die ahnen oder erfah­ren haben, was hin­ter ihren Illu­sio­nen liegt.

Opfer­gang ist ein Nach­klang jener gro­ßen deut­schen Kul­tur, die Ein­füh­lung und Beherr­schung zu ver­bin­den wuß­te. Der Regen­bo­gen über dem Leucht­turm von Hid­den­see und das beweg­te Meer erin­nern an Cas­par David Fried­rich. Schon die­ser ver­wen­de­te kei­nen sym­bo­lis­ti­schen Zei­chen­satz, um irgend­wel­che phi­lo­so­phi­schen Bot­schaf­ten damit zu ver­schlüs­seln. Sei­nen Wer­ken liegt die Gewiß­heit zugrun­de, daß die sicht­ba­re Welt an sich bedeu­tungs­voll ist. Es ist eine Bedeu­tung, die sich nicht anders aus­spricht als in der unver­stell­ten Sicht­bar­keit der Din­ge selbst. Wie die frü­hen deut­schen Stumm­fl­me aus dem Geist der roman­ti­schen Schau­er­ge­schich­ten von E. T. A. Hoff­mann erwach­sen, so kommt vie­les an Veit Harlans far­bi­ger Welt­schau von Goe­thes Ent­sa­gen­den und sei­ner Vor­stel­lung einer beweg­li­chen Ord­nung her. Aber auch die Wahl­ver­wand­schaf­ten kom­men dabei in den Sinn. Dem Kino­pu­bli­kum war das damals noch gegen­wär­ti­ger als heute.

Zur Rei­he »Car­te Blan­che« lädt das Film­mu­se­um Frank­furt am Main seit Jah­ren bekann­te Film­leu­te dazu ein, ihren Wunsch­film vor­zu­stel­len. 2012, zu sei­nem sech­zigs­ten Geburts­tag schenk­te sich der Regis­seur und zehn­fa­che Grim­me-Preis­trä­ger Domi­nik Graf eine Auf­füh­rung von Opfer­gang. In der Ein­lei­tung ver­wies er pflicht­ge­mäß auf das pro­ble­ma­ti­sche Umfeld der Ent­ste­hung des Meis­ter­werks, um fort­zu­fah­ren: »… den­noch bit­te ich um Gna­de für die­sen Film. Har­lan erreicht hier eine Kunst­hö­he, die wir im deut­schen Film seit­her gar nicht mehr top­pen konn­ten. Far­ben­spie­le, Licht­refle­xe ver­sprech’ ich ihnen, die sie so noch nie gese­hen haben.« Um sein Plä­doy­er für Harlans Meis­ter­schaft in ord­nungs­ge­mä­ße Bezie­hung zu set­zen, taucht er am Schluß ein wei­te­res Mal den schwar­zen Tusch­pin­sel ein: »Goeb­bels haß­te den Film auf­grund sei­ner Mor­bi­di­tät und abgrün­di­gen sinn­li­chen Atmo­sphä­re. Ich den­ke, man soll­te Har­lan viel­leicht die Ehre antun, die­se über­ra­gen­den Qua­li­tä­ten in sei­nen Arbei­ten, und da gibt es eini­ge davon, irgend­wann anzu­er­ken­nen. Viel Ver­gnü­gen.« Rich­ti­ger hie­ße es, »wie­der anzu­er­ken­nen«, denn Opfer­gang war ein abso­lu­ter Block­bus­ter, ein Rie­sen­er­folg auch im Aus­land. Die Zah­len der Kino­be­su­cher in der Schweiz bei­spiels­wei­se über­wo­gen jene der zeit­gleich lau­fen­den ame­ri­ka­ni­schen Pro­duk­tio­nen bei weitem.

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