in Deutschland noch eine große Stunde. Seit einem Vierteljahr waren die Schauspiel- und Konzerthäuser geschlossen. In Trümmern lagen auch zahlreiche Filmtheater. Diese Umstände verliehen der Uraufführung von Veit Harlans Melodram Opfergang in Hamburg eine symbolische Dimension. Den Zuschauern strahlte von der Leinwand in überirdisch schönen Farbfilmaufnahmen eine Stadt entgegen, die draußen längst zu Schutt zerrieben war. Ohne die aktuelle Wirkung wäre der Film möglicherweise nie in die Kinos gekommen, da der Propagandaminister sich zunächst abgestoßen von der vermeintlichen Todeserotik des Werks gezeigt hatte. Als sich dann im Februar 1945 der Erfolg beim Publikum ebenso abzeichnete wie die Niederlage Deutschlands, lobte er gegenüber dem Regisseur die bezwingende Darstellung der Todesnähe. Gedreht wurde für Opfergang in Hamburg, kurz vor den großen Angriffen, in der Zeit von August 1942 bis Januar 1943. Erst im Februar 1944 gab die Prüfstelle den Film frei. Eine erste öffentliche Aufführung erfolgte im Oktober in Stockholm, der Geburtsstadt Kristina Söderbaums, der Hauptdarstellerin und Gattin des Regisseurs.
Zur Legende über den frühen deutschen Kunstflm gehört die Behauptung seines gewaltsamen Abwürgens – es seien nach 1933 in Deutschland angeblich nur noch handwerklich biedere Industrieproduktionen entstanden. Das internationale Kinopublikum hat das damals anders gesehen, ebenso die Fachleute der Branche. Jean-Luc Godard wagte 1990 sogar die Behauptung: »Der deutsche Film der großen Ufa-Zeit ist der einzige, der gegen Hollywood gekämpft hat … Nach dem Krieg ist das zusammengebrochen, aber der deutsche Film hat sich wirklich europäisch gegeben. Und er war der einzige, der beinahe die Mittel dazu gehabt hatte.« Zwei wesentliche technische und ästhetische Herausforderungen wurden in dieser Phase bewältigt. Der Tonfilm und ein Jahrzehnt später der Farbflm eröffneten der Filmkunst jeweils ein völlig neues Metier. Fritz Langs M. war 1931 noch ein ungehobeltes Experiment voller Lärm und Hysterie. Fünf Jahre später gelingt dann Veit Harlan mit der Verflmung von Lew Tolstois Erzählung Die Kreutzersonate zum erstenmal eine überzeugende Verbindung ruhiger Dialoge mit bewegten Figuren. Den Zuschauern wurde eine noch nie dagewesene Empfindung von Nähe vermittelt. Das Publikum war fasziniert von diesem neuartigen Kino. Der erste deutsche Farbflm, Georg Jacobys Frauen sind doch die besseren Diplomaten (1941), war dann eher noch ein Buntfilm. Ein Jahr später gelang auch in diesem Bereich Veit Harlan der Durchbruch: Die goldene Stadt wurde der größte kommerzielle Erfolg jener Jahre. Allein die stilbewußten Einwohner des besetzten Paris bescherten La ville dorée einen Zulauf von gut einer halben Million Zuschauern.
Die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung nahm den 115. Geburtstag des Regisseurs in diesem Herbst zum Anlaß einer kleinen Retrospektive. Neben Die Kreutzersonate und Die goldene Stadt wurde Immensee (1943) gezeigt, der von derselben Herstellungsgruppe parallel zu Opfergang gedreht wurde. Opfergang hat sich seine Aura bis heute erhalten. Die Verfilmung der Erzählung von Rudolf G. Binding erweist sich besonders wählerisch in bezug auf Requisite und Garderobe. Diese bewirken berauschende Komplementärkontraste der Farben – so etwa, wenn Aelskling Flodéen (Kristina Söderbaum) im langen roten Kleid als Bogenschütze auf der grünen Wiese steht oder die Tönung ihrer Haut als Reiterin in neutraler Badebekleidung auf einem Schimmel sich vor dem Blau von Meer und Himmel abhebt. Ein derart verselbständigtes Spiel mit den Farben wurde erst zwei Jahrzehnte später von Michelangelo Antonioni in seinem ersten Farbflm, Il deserto rosso, wieder aufgenommen. Antonioni sagte damals, er finde den Gedanken abwegig, einen Film entweder in Farbe oder in Schwarzweiß zu drehen, da die Farbe kein nebensächliches Detail sei. Harlans bester Film zeigt sich von dieser Einsicht bereits völlig durchdrungen.
Der deutsche Film trat mit diesem Werk wieder in die quirlende Phase jenes Wagemuts, der bereits die Anfänge in den zwanziger Jahren geprägt hatte. Harlan war so etwas wie der Murnau des Farbtonfilms. Ästhetisches Neuland betrat er im Schrittmaß eines Klassikers. In die von Farbe und Musik verursachte Aufregung stellte er eine ruhige, fast unbewegliche Kamera, die sich kaum von den Schauspielern löst. Und weil sie nicht hektisch durch alle Ecken streift, sondern gewissenhaft die Menschen beobachtet, erlangen die Filmbilder eine große Autorität.
Als Albrecht Froben (Carl Raddatz) von einer Fernostreise zurückgekehrt ist, kann er sich nicht so leicht wieder einfügen in die gediegene Hamburger Gesellschaft. Ihn fasziniert die rätselhafte Nordländerin Aels Flodéen, welche über den Sommer auf dem Nachbargrundstück wohnt. Dann heiratet er seine milde Cousine Octavia (Irene von Meyendorff), die den kameradschaftlichen Umgang mit einer ihr wesensfremden Frau duldet. Alle Beteiligten bezähmen ihre Leidenschaften, die darum nur desto wilder in ihnen aufkochen. Als die erkrankte Aels das Bett hüten muß, reitet Albrecht zum täglichen Gruß vor ihrem Fenster vorbei. Sie bittet ihn, ihr Kind aus dem Hafenviertel zu bergen, wo Typhus ausgebrochen ist. Froben steckt sich an. Statt seiner reitet nun Octavia im Männerkostüm grüßend am Tor vorbei. Mit surrealen Überblendungseinstellungen und jenseitiger Musik steuert der Film einem Ende von Verkleidung, Entsagung und Fiebertraum entgegen. Der Eros ist die vorwaltende Macht der Handlung. Die Personen handeln in Opfergang weder kümmerlich noch tollkühn. Durch die Selbstverleugnung gelangen die Figuren zu ihrem Selbst. Das Leben ist großartig, und die Lebenden werden dagegen immer kleinlauter, je mehr sich ihnen davon enthüllt. »Wir lieben uns, mein Freund. Und es wird schlimm.«, sagt Aels.
Die Entsagung ist keine Prüderie. Sie ist heroisch verhaltene Leidenschaft. Ruhepole entstehen dort, wo die Kräfte durch ihre Überlagerung gelähmt sind. Nur weil der Trieb nicht zur vorläufigen Erlösung in einem bestimmten anderen findet, ist er nicht inhuman, oder gar ein Todestrieb. Gewiß ist der Tod allgegenwärtig. Er ist die andere Seite der Medaille. Harlan unternimmt hier einen Drahtseilakt zwischen dem allgemeinen Empfinden der Gefährdung inmitten eines katastrophal sich neigenden Krieges und der unverminderten Präsenz einer prachtvollen Welt. Auch dieser Zusammenbruch ereignet sich im Frühjahr. Der Geruch der Verwesung mischt sich mit dem der erblühenden Veilchen und Narzissen. Die in der Agonie halluzinierende Aels fragt die Erscheinung von Albrecht Froben: »Bist du es wirklich?« Der erwidert darauf: »Wer kann sagen, was wirklich ist?« Es ist ein Film für Erwachsene, die ahnen oder erfahren haben, was hinter ihren Illusionen liegt.
Opfergang ist ein Nachklang jener großen deutschen Kultur, die Einfühlung und Beherrschung zu verbinden wußte. Der Regenbogen über dem Leuchtturm von Hiddensee und das bewegte Meer erinnern an Caspar David Friedrich. Schon dieser verwendete keinen symbolistischen Zeichensatz, um irgendwelche philosophischen Botschaften damit zu verschlüsseln. Seinen Werken liegt die Gewißheit zugrunde, daß die sichtbare Welt an sich bedeutungsvoll ist. Es ist eine Bedeutung, die sich nicht anders ausspricht als in der unverstellten Sichtbarkeit der Dinge selbst. Wie die frühen deutschen Stummflme aus dem Geist der romantischen Schauergeschichten von E. T. A. Hoffmann erwachsen, so kommt vieles an Veit Harlans farbiger Weltschau von Goethes Entsagenden und seiner Vorstellung einer beweglichen Ordnung her. Aber auch die Wahlverwandschaften kommen dabei in den Sinn. Dem Kinopublikum war das damals noch gegenwärtiger als heute.
Zur Reihe »Carte Blanche« lädt das Filmmuseum Frankfurt am Main seit Jahren bekannte Filmleute dazu ein, ihren Wunschfilm vorzustellen. 2012, zu seinem sechzigsten Geburtstag schenkte sich der Regisseur und zehnfache Grimme-Preisträger Dominik Graf eine Aufführung von Opfergang. In der Einleitung verwies er pflichtgemäß auf das problematische Umfeld der Entstehung des Meisterwerks, um fortzufahren: »… dennoch bitte ich um Gnade für diesen Film. Harlan erreicht hier eine Kunsthöhe, die wir im deutschen Film seither gar nicht mehr toppen konnten. Farbenspiele, Lichtreflexe versprech’ ich ihnen, die sie so noch nie gesehen haben.« Um sein Plädoyer für Harlans Meisterschaft in ordnungsgemäße Beziehung zu setzen, taucht er am Schluß ein weiteres Mal den schwarzen Tuschpinsel ein: »Goebbels haßte den Film aufgrund seiner Morbidität und abgründigen sinnlichen Atmosphäre. Ich denke, man sollte Harlan vielleicht die Ehre antun, diese überragenden Qualitäten in seinen Arbeiten, und da gibt es einige davon, irgendwann anzuerkennen. Viel Vergnügen.« Richtiger hieße es, »wieder anzuerkennen«, denn Opfergang war ein absoluter Blockbuster, ein Riesenerfolg auch im Ausland. Die Zahlen der Kinobesucher in der Schweiz beispielsweise überwogen jene der zeitgleich laufenden amerikanischen Produktionen bei weitem.