vernichtet die Hoffnung auf neue Blüte, die sich schon ankündigte«, schreibt Gustav Wyneken 1921 im Nachgang jener Ereignisse, die seinen Abschied von Wickersdorf nach sich zogen. Doch kein Faß an schon länger gehüteten Vorurteilen, an Halbwissen oder kleinbürgerlicher Moralität ergoß sich, als im August 1921 vor dem Rudolstädter Landgericht der Prozeß wegen »unzüchtiger Handlungen« in zwei Fällen gegen ihn eröffnet wurde: vielmehr eine Welle der Sympathie aus ganz Deutschland. Sie ebbte auch nicht nach der rechtskräftigen Verurteilung ab, sondern wurde um so größer, denn hier werde nicht nur eine außerordentlich verdienstvolle Person auf infame Weise verunglimpft, sondern die ganze reformpädagogische Bewegung.
Seit zwei Jahrzehnten hatte der 1875 in Stade als evangelischer Pfarrerssohn geborene Wyneken versucht, seine geistige Führerschaft im Rahmen der reformpädagogischen Bewegungen zu behaupten. Erste reformbewegte Erfahrungen machte er als Lehrer in den Landeserziehungsheimen von Hermann Lietz. Doch schon bald entwickelte eine Gruppe junger Lehrer, die gegen Lietz opponierte, den Plan für eine neue Art der Schule. Wyneken wurde ihr Sprecher und bald, gemeinsam mit Paul Geheeb, ihr geistiger Führer. Der nachfolgende offene Bruch mit Lietz mündete am 1. September 1906 in das Gründungsdatum »seiner Schule«, der Freien Schulgemeinde (FS) Wickersdorf, – und die sollte Wyneken nun verlassen? Als Schulleiter mußte er gehen, doch er kehrte 1925 noch einmal zurück, um 1931 allerdings endgültig aus der FS Wickersdorf, seinem Lebenswerk, auszuscheiden. Anlaß gaben erneute Verdächtigungen päderastisch-pädophiler Art. Wyneken zog daraufhin nach Berlin, später nach Göttingen, wo er bis zu seinem Tod 1964 als freier Schriftsteller lebte. Und Wickersdorf?
1933 wurde die Schulgemeinde in eine staatliche Oberrealschule umgewandelt, 1946 in eine Einheitsschule, 1964 schließlich zur EOS mit Spezialisierungen in Musik und Kunst. Damit erhielten sich letzte Bruchstück des Gründungsgeistes und zugleich auch Hoffnungen einer Wiederbelebung, deren Bemühungen 1990 allerdings erfolglos blieben. Seit 1993 nutzt eine anthroposophische »Lebensgemeinschaft« das Grundstück und vertritt so zumindest eine Verästelung des Wynekenschen Gedankenkreises, der ihn mit Rudolf Steiner verbindet: das Modell einer monistisch-mythologischen »Weltanschauung«. Sie zu erfassen sah Wyneken nicht zuletzt in den Bestrebungen des »pädagogischen Eros«. Daß ihn seine Bemühung, diesen Eros zu verwirklichen, einst auf die Anklagebank bringen würde, hatte Wyneken nicht für möglich gehalten. Die Ursache des »infamen Urteils« vom Oktober 1922 erkannte er deshalb nicht nur in »ein paar Hassern«, sondern auch in einer augenscheinlichen Unkenntnis gegenüber den »erzieherischen Umgangsformen« der Freien Schulgemeinde, im Unwissen ihrer inneren Ausrichtung und der damit verbundenen Grundhaltung reiner »Jugendkultur«, denn die »›erotische‹ Beziehung zwischen dem Führer und dem Knaben … ist keine Befriedigung einer ›abnormen‹ Triebveranlagung, sondern eine … ganz und gar seelisch bestimmte Bindung«, schreibt er in einem Eltern-Rundbrief.
Paiderestia statt Pädophilie? Die »Gefolgschaften«, also die Mehrheit der Schüler, aber auch Lehrer und Eltern, hielten Wyneken die Treue, denn das »Bindungserlebnis« in den »Kameradschaften« bildete ein zentrales Element erzieherischer Prinzipien in Wickersdorf. Die nachfolgenden Worte wollen versuchen, den damit verbundenen Ideengang Wynekens sichtbar zu machen. An seinem Anfang steht die gegenseitige Bestimmung zwischen Werdendem und Gewordenem. Bestimmung meine dabei die freie Suche des »Educantus« zu dem ihm gemäßen Entwicklungsweg und seinem Wegbereiter, im wahrsten Sinne eines »Paidagogos«. Zugleich bedürfe es auch auf dessen Seite einer Entscheidung, denn es durfte nur der erwählt werden, der fähig dazu sei. Dem hellenischen Prinzip folgend, aber auch jenem der freien Germanen, soll nun Er-Ziehung aus der Be-Ziehung erwachsen, denn »wer ein wenig den freiheitlich gesinnten Teil unserer Jugend kennt, der weiß, daß sie sich gegen echte und geistige Autorität nicht sträubt, sondern sich leidenschaftlich nach ihr sehnt«.
Die angesprochene Leidenschaft ist nach Wyneken jedoch vor allem geistiger Natur. Es gelte, »dem Geist zu dienen« und so im Sinne einer keuschen Sinnlichkeit ein »Lebensband« zu schmieden, einen »sehr innigen Liebesbund eines Führers mit seiner Jugend«, der frei von jeder »bordellmäßigen Begriffsjuristik« sein müsse. Sein Kernbegriff ist »Eros« – ein wechselseitiges Streben der einander Zugewandten, das, was sie als geistigen und emotionalen Mangel erkennen, auszugleichen. Wohl gebe es keinen Eros ohne körperliche Anziehungskraft, doch auf Sinn und Richtung komme es an, denn reine Sexualität kann auch ohne Eros bestehen, während der Eros ein schöpferischer Aufstieg zum schlechthin Schönen und ritterlich Edlen sei. Dort jedoch, wo sich das Schöne an Körper und Geist begegnet, werde es in einem geistigen Sinne fruchtbar, denn diese »sinnliche Gewißheit« (Hegel) sei die unmittelbarste Darstellung der absoluten Identität des »Geistes«. Geist und Leib jedoch bilden für Wyneken keine Dualität, denn im »geistigen Erlebnis« trete etwas hinzu, das erlebt werde und das »letzten Endes ein Zustand unseres Inneren, eine Selbstwahrnehmung des Ichs ist«. Damit erscheint ein gesundes Körpergefühl Ausdruck des geistigen Sollens, das im Gegensatz zum ungeistigen, rein physisch wahrgenommenen »Triebleben« stehe.
Pädagogisch wirksam ist der Eros für Wyneken nur dort, wo »Jugendkultur« und »geistige Führung« in Übereinstimmung stehen. Jugendkultur zeige sich dabei einerseits in jugendgemäßen Lebensformen, die sich unverstellt ohne jede Gängelei von den Lebensgewohnheiten der Alten unterscheiden, zum anderen sei sie zugleich als Maxime aller Erziehung eine Grundhaltung des »Dienstes am Geist«. Führungsanspruch des einen erwachse hierbei aus eigenen Gesetzen, »aus eine[r] bestimmte[n] prästabilierte[n] Form menschlicher Beziehungen«. Und so sei es der Art einer echten Jugendkultur gemäß, daß sie ihre geistigen Führer selbst erwählt. Der wahrhaft erwählte Erzieher als »Träger des Geistes« sei schließlich berufen, diese Wahrhaftigkeit auch in der Jugend zu wecken – im Knaben etwa ist es das Mannhafte, das heldische Ideal, eine Frömmigkeit des Geistes, die mit allen Sinnen zum Ausdruck komme. Der »Jugendführer« ist dabei für Wyneken Form-Gebender, nicht im Sinne einer banalen, fälschlicherweise »platonisch« genannten, freundschaftlichen Verbindung, die nach außen hin geradlinig, aber nach innen wenig schöpferisch erscheint, sondern im Sinne einer gewaltigen, geradezu intimen Gläubigkeit, »in einem Kreis auserwählter Jugend, die mit dem Führer aufs innigste verbunden, etwas ahnt und erlebt von seiner eigentlichen Sendung, von seinem geistigen Gesetz, von dem neuen Leben, das es bringt«.
Nietzsches Zarathustra galt Wyneken als ein Modell der Führerschaft des »Geistes«. Zugleich stand Stefan George für Wyneken unweigerlich als geistiger Gewährsmann eines »Eros paidikos« fest, doch kritisierte dieser die ihm zu körperbetonte Führungsweise Wynekens. Stärkerer Halt schien sich im Austausch mit Hans Blüher zu fnden. Aber auch hier standen »virile Männerhelden« gegen die »Schönheit des Knabenkörpers«, ein Verdikt, das Wynekens Verhängnis wurde und bis in unsere Zeit als unverzeihlich gelten muß. Als Pädagoge habe er, so etwa der Berliner Tagesspiegel, sexuelle Konnotationen in seiner pädagogischen Arbeit »philosophisch legitimiert und zur gefährlichen Grundlage seiner Schule gemacht«. »Der Pädophile Wyneken« sei in autokratischer Manier gar symptomatisch für die gesamte Landschulheimbewegung gewesen, resümiert der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers. Am Ende stehe deshalb unwiederbringlich der Abschied vom »pädagogischen Eros«, da er per se gefährliche sexuelle Übergriffe induziere, wie man sie 2010 erneut in den Mißbrauchsfällen der von Paul Geheeb gegründeten Odenwaldschule vor Augen geführt bekam. »Der Rhetoriker Wyneken inszenierte sich selbst … Paul Geheeb [wollte eher] als liebender Kinderfreund gesehen werden«, aber auch sein »Eros« war päderastisch-pädophiler Natur, wie einst der 19jährige Klaus Mann seinem Vater anvertraute.
Es bleibt ein schmaler Grat, dessen Anfang durchaus kulturkritisch-pädagogische Implikationen enthielt, dessen Fortgang jedoch schon die Zucht zugunsten der Lust zu lösen begann. Die 1968er-Erben dieser Tradition formten daraus schließlich jene ekelhafte Entgrenzung, wie sie sich bis in die Gegenwart durch Frühsexualisierung in Bildungseinrichtungen, Lobbyisierung widernatürlicher Sexualpraktiken oder Androgynisierung von Geschlechtszugehörigkeit deutlich macht und bis heute das gesunde Aufwachsen einer neuen Generation bedroht.