Immer stärker geraten dabei die diplomatischen Machenschaften Frankreichs und Rußlands hinter den Kulissen der offiziellen Politik in den Mittelpunkt der Diskussion. Eine Reihe von Neuerscheinungen legt Zeugnis davon ab. Der französische Professor für Wirtschaftsgeschichte und Journalist Philippe Simonnot befaßt sich in seinem Essay (Die Schuld lag nicht bei Deutschland. Anmerkungen zur Verantwortung für der Ersten Weltkrieg, Berlin 2014) mit der vertuschten Verantwortung Frankreichs am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Ein wichtiges Mittel dabei war der Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrages, dessen Aufhebung alle Regierungen der Weimarer Republik forderten.
Während die französische Linke diese Forderung unterstützt habe – für sie lag im kapitalistischen System die tiefere Ursache des Krieges –, standen alle Pariser Regierungen auf dem Standpunkt, es könne keine deutsch-französische Annäherung geben, wenn die Schuld der kaiserlichen Regierung für den Ausbruch des Krieges in Abrede gestellt werde. Gerade die These der Kriegsschuld sei es aber gewesen, welche die deutsche Nation zusammenschweißte. Durch Versailles sei Bismarcks Schöpfung, die deutsche Einheit, noch gestärkt worden. Alle Gedankenspiele auf französischer Seite nach einer Friedensordnung analog zum Westfälischen Frieden von 1648 »mit den deutschsprachigen Ländern« hatten so keine Chance auf Realisierung: Man bestand in Paris lieber auf Deutschlands »Kriegsschuld« – und die daraus abgeleiteten Reparationsforderungen – als auf eine Restitution der deutschen Vielstaaterei. Der Widerstand gegen die Schuld-These kam in Frankreich von linker Seite. 1920 machte der Publizist Gouttenoire de Toury in einer minutiösen Studie diplomatischer Depeschen deutlich, daß Frankreich den zaristischen Panslawismus als Vehikel genutzt hatte, um einen Revanche-Krieg mit Deutschland um Elsaß-Lothringen auszulösen. Staatspräsident Poincaré habe das Schicksal Frankreichs in die Hände der russischen Regierung gelegt, des korruptesten Regimes der Erde.
Egal ob Deutschland kaiserlich, republikanisch oder von Nazis beherrscht war, Frankreichs Politik diente der Einkreisung des »Erbfeindes«. Alfred Fabre-Luce wies in dem Buch La Victoire von 1924 darauf hin, daß Frankreich Rußland bereits frühzeitig einen »unbedingten Beistandspakt« angeboten habe und daß die russische Mobilmachung vor der österreichischen und deutschen erfolgt sei. Poincaré habe Rußland im Juli 1914 Carte blanche gegeben, um den Krieg auszulösen, wann es ihn auslösen wollte. Fabre-Luce nimmt hiermit fast 90 Jahre früher die Thesen des grundlegenden Werkes von Sean McMeekin (Rußlands Weg in den Krieg) vorweg: Nicht Deutschland und Österreich lösten den Krieg aus, sondern Rußland und Frankreich. Der Diplomatiehistoriker Stefan Scheil schreibt in seiner jüngsten Publikation (»Mitten im Frieden überfällt uns der Feind«. Vergessene Wahrheiten des Ersten Weltkrieges – Die Schuld der Sieger in den Debatten der zwanziger Jahre, Berlin 2014), daß sich Wissenschaft wie Öffentlichkeit bis vor kurzem in der Überzeugung gut eingerichtet hätten, der Erste Weltkrieg sei im wesentlichen ein deutscher »Griff nach der Weltmacht« gewesen. Das überwältigende, nach 1919 gesammelte Material, das dieser These widerspricht, wurde als »parteiisch« oder »apologetisch« abgetan.
Scheil präsentiert nun eine Reihe von Originalbeiträgen zur Debatte der 1920er und 1930er Jahre. Er hat dafür unter anderem das 1935 erschienene Buch Krieg ist ein Betrug des US-Generals Smedley ausgewertet, der – analog zum Bericht eines US-Senatsausschusses – feststellt, daß die Verantwortung für den Kriegseintritt der USA 1917 allein bei der Rüstungsindustrie und den Banken gelegen habe, die bei einer Niederlage von England und Frankreich auf die Rückzahlung ihre Kredite hätten verzichten müssen. Des weiteren führt der Autor die britische pressure group um Robert Vansittart und Eyre Crowe an, die die Behauptung der Unvermeidlichkeit eines Konflikts mit Deutschland propagierten, weil das Kaiserreich das Empire wirtschaftlich zu überflügeln drohte. Es folgen die Memoiren des englischen Kriegsministers Richard Haldane, der in den Jahren 1905 bis 1912 die britischen Expeditionsstreitkräfte schuf, die im Krieg die linke Flanke der französischen Armee deckten, dann die einflußreichen elitären Gruppen, die in den Londoner Clubs – an Parlament und Öffentlichkeit vorbei – antideutsche Politik machten, der Landesverrat des SPD-Führers August Bebel, Quellenfälschungen in amtlichen »Gelbbüchern« und die mit russischem Geld initiierte Lenkung der französischen Presse zur Manipulation der Volksmeinung. Er veröffentlicht die russisch-französischen Geheimverträge zur Kriegführung gegen die Mittelmächte sowie die Vereinbarungen zur Aufteilung deutschen und österreichischen Territoriums. Stefan Scheil zeigt, daß der nach 1945 eingeschlagene deutsche Sonderweg der Geschichtsforschung auf die Ignorierung wesentlicher Quellen und auf eine einseitig auf Deutschland fokussierte Betrachtungsweise zurückzuführen ist.
In seiner neuesten Studie faßt der Historiker Walter Post (1914 – Der unnötige Krieg, Gilching 2014) zunächst die lange Vorgeschichte der »Ur-Katastrophe« des 20. Jahrhunderts zusammen. Detailliert zeigt er, wie die Einkreisung des Deutschen Reiches ablief, die mit der Annäherung Rußlands an Frankreich in den 1890er Jahren ihren Anfang nahm. Damit wurde das Fundament der Bismarckschen Friedensordnung, die Hegemonie der drei Kaiserreiche Deutschland, Österreich und Rußland über Europa, gesprengt. Ausführlich beschreibt Post die diplomatischen Abläufe im Juli 1914, die mit einer Kette von Kriegserklärungen endeten. Obwohl die Krisen vor 1914 immer gütlich beigelegt werden konnten, versagte nun die Diplomatie, weil vor allem Paris und St. Petersburg die Lage forcierten und vor Krieg nicht zurückschreckten. Er geht dann wie Stefan Scheil auch auf den Kampf der Geschichtsforscher um die richtige Deutung des Krieges ein. Entgegen der heute vorherrschenden Meinung war nach 1918 die Kriegsschuldfrage keinesfalls im Sinne des Versailler Diktats beantwortet, vielmehr begann die historische Forschung sehr schnell, die wahren Ursachen des Krieges darzulegen. Den Anfang machte die revolutionäre Sowjetunion, die brisante Akten des Zarenreiches veröffentlichte und so den Schuldvorwurf der Sieger an die Adresse des Kaiserreiches mit harten Fakten widerlegte.
Aber auch in den USA und besonders in Deutschland belegten Historiker, daß der Weltkrieg nicht das Ergebnis des deutschen Strebens nach Weltmacht, nicht Folge der Tirpitzschen Flottenrüstung oder des Präventivkriegsdogmas des Großen Generalstabs gewesen ist. Vielmehr wird deutlich, wie sehr die Mittelmächte der Entente politisch und rüstungstechnisch unterlegen waren. Es hat verwundert, daß unter den vielen Veröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg kaum ein Werk den komparatistischen Ansatz verfolgte. Das dickleibige Buch von Wolfgang Effenberger und Willy Wimmer (Wiederkehr der Hasardeure: Schattenkrieger, Kriegstreiber, stille Profiteure 1914 und heute, Höhr-Grenzhausen 2014) versucht verdienstvoll, die Politik der Großmächte um die Wende zum 20. Jahrhundert mit der der Gegenwart zu vergleichen.
Effenberger fühlt sich der heute eher belächelten Objektivität verpflichtet, nach der ein Historiker sich seines »Nichtwissens« bewußt sein soll, in die Vorstellungswelt einer Epoche eintauchen müsse und seine Schlüsse nicht aus der Rückschau und dem Stand der heutigen Wissenschaft ziehen dürfe. Um die politischen Konstellationen um 1900 verständlich zu machen, rekapituliert er knapp die europäischen Machtkämpfe seit der Reformation im 16. Jahrhundert, beschreibt die Ereignisse bis Kriegsausbruch und »Amerikas Griff zur Weltmacht«. Er beleuchtet die Rolle des 1858 geborenen Charles Richard Cane, eines schwerreichen US-Unternehmers mit Wirtschaftsinteressen auf dem Balkan, der den Freiheitskampf der slawischen Völker unterstützte. Die Parallelen zu George Soros oder Warren Buffet in der Gegenwart springen ins Auge. Auch das Attentat als Mittel der Politik findet seit Sarajevo immer noch Anwendung. 1914 diente es als Initialzündung für den Krieg, dasselbe gelte für den New Yorker Anschlag vom 11. September 2001. Für den Autor lenken mächtige wirtschaftliche Interessen die politischen Entscheidungsprozesse in ihrem Sinne, 1914 ebenso wie 2014. Im zweiten Teil resümiert der CDU-Politiker Wimmer die weltpolitische Entwicklung seit Zusammenbruch der Sowjetunion. Er kritisiert die westlichen Interventionen in Serbien, im Nahen und Mittleren Osten sowie in der Ukraine. Für ihn stehen hinter den Kriegen der Gegenwart dieselben Interessengruppen, die schon für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich waren. Diese aber konkret und beweiskräftig zu benennen, fällt den Verfassern schwer.