In den Geisteswissenschaften herrscht beredtes Schweigen, der Name Carl Gustav Jung ist kaum präsent: antimodern, mystisch, völkisch, gnostisch – um nur einige der Vorwürfe zu nennen. Was wahrscheinlich noch viel schwerer wiegt ist, daß Jung Adolf Hitler nicht als Psychopathen, sondern als mystischen Medizinmann und als Sprachrohr des kollektiven Unbewußten der Deutschen bezeichnete – denen er übrigens einen ausgewachsenen Minderwertigkeitskomplex attestierte. Dieser sei das Resultat einer geographisch bedingten inneren Zerrissenheit zwischen Ost und West und der vergleichsweise späten Entwicklung eines nationalen Bewußtseins – nachdem Engländer und Franzosen die Kolonien bereits unter sich aufgeteilt hatten. So erklärte Jung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, im Oktober 1938, dem amerikanischen Auslandskorrespondenten H.R. Knickerbocker die Seelenlage der Germanen. (»Diagnosing the Dictators«, in: C.G. Jung Speaking). Und nun habe wieder ihr alter Gott, der Sturm- und Brausegott Wotan, von ihnen Besitz ergriffen. Der schien »wirklich nur geschlafen zu haben im Kyffhäuser, bis die Raben ihm Morgenluft meldeten«. Wotan sei offenbar, trotz Christianisierung, eine nicht totzukriegende »Grundeigenschaft der deutschen Seele, ein seelischer ›Faktor‹ irrationaler Natur, eine Zyklone, welche den kulturellen Hochdruck abbaut und wegreißt«. Nietzsches Dionysos: eigentlich nichts anderes als eine Chiffre für Wotan, bewußt oder unbewußt. Der rastlose Wanderer, der große Zauberer, der Entfessler der Leidenschaften, der immer dann »wiederkommt, wenn der Christengott sich als zu schwach erweist«, er sei – das habe man wohl vergessen – »eine germanische Urgegebenheit, ein wahrster Ausdruck und eine unübertroffene Personifikation einer grundlegenden Eigentümlichkeit insbesondere des deutschen Volkes«, schreibt Jung in seinem berüchtigten Wotan-Aufsatz im Jahr 1936. Enthusiastisch warb Knickerbocker für die Thesen des Schweizer Nervenarztes und fand, er sei der Einzige, der wirklich verstünde, was in Deutschland vor sich ging.
Die darauf folgenden apokalyptischen Ereignisse schienen Jungs Vorahnung zu bestätigen. Nach Kriegsende war er es, der auf der absoluten Kollektivschuld aller deutschen Volksangehörigen insistierte. Nur durch die Begegnung mit den eigenen seelischen Abgründen, dem »Schatten«, sei eine Genesung denkbar – das könnte aber noch 100 Jahre dauern. Deutsche Bürger, die behaupteten, sie wußten von nichts, in Buchenwald mit Schrumpfköpfen und anderen Horror-Exponaten zu konfrontieren, fand Jung genau richtig. Als Deutsche müßten sich ausnahmslos alle, sogar die Widerstandskämpfer, mit ihrem kollektiven Unbewußten auseinandersetzen und ihre Schuld eingestehen (»The Post-War Psychic Problems of the Germans«, in: C.G. Jung Speaking). Heute wissen wir, daß die in Buchenwald ausgestellten Lampenschirme aus Menschenhaut schon damals eine Fiktion waren, daß Greuelpropaganda fester Bestandteil der britischen Kriegsführung ist und daß Jung von 1941 bis 1945 als »Agent 488« für die amerikanische Office of Strategic Services (OSS), den Vorläufer der CIA, arbeitete (Deirdre Bair: C.G. Jung. Eine Biographie). Seine Äußerungen über die Deutschen sind also mit Vorsicht zu genießen, und man könnte heute durchaus den Standpunkt vertreten: Geschieht diesem Oberpriester der Integrität und der authentischen Lebensführung ganz recht, wenn er in der Versenkung verschwindet – wenn da nicht so viele andere wertvolle Gedanken wären, die unter anderem Goethe und die deutsche Romantik in die moderne Psychologie hinüberretteten. Ein alternativer Ansatz wäre alchemistisch und damit auch jungianisch: Schädliches in sein Gegenteil verwandeln.
Wie könnten wir uns von Jung die Heilung dessen, was wir in Ermangelung eines besseren Begriffs »Volksseele« nennen wollen, zurückholen, die uns das von ihm propagierte Kollektivschuld-Dogma bis heute verwehrt? Dank des von Jung hochgeschätzten Paracelsus, des Begründers der Giftkunde, wissen wir ja: ubi malum, ibi remedium. Das hatte er wahrscheinlich von den Kräuterhexen. Die kannten noch die wirklich wissenswerten Naturgesetze, zum Beispiel: daß man häufig neben der Giftpflanze im Wald auch gleich die das Gegengift enthaltende Heilpflanze antrifft.
Seelenverlust, Trauma, Dissoziation
Eine Frage, die man gleich zu Anfang stellen könnte, wäre, ob die Volksseele überhaupt noch da ist. Angesichts des seelenlosen Erscheinungsbildes der BRD – egal wo man hinschaut: Politik, Architektur, Geistesleben, Volkskultur – erscheint die Frage durchaus berechtigt. Fast alle Naturvölker kennen den Begriff des Seelenverlusts, der als eine der größten Gefahren für den Menschen und Ursache für viele Krankheiten gilt. In Jungs Schriften ist diese Vorstellung sehr präsent – viel mehr als der bei Freudianern geläufigere Begriff des Traumas, der seelischen Verletzung. Zu behaupten, daß Jung mehr auf das Seelenverständnis der Naturvölker als auf das Theoriegebäude Sigmund Freuds gab, wäre keineswegs übertrieben. Beide Begriffe versuchen, ein einschneidendes, als seelische Gewalt erlebtes Schockerlebnis zu erfassen, das sich nachhaltig auf die psychische und körperliche Gesundheit auswirkt und die Lebenskraft einschränkt. Natürlich wäre die physische Zerstörung der Heimat durch flächendeckenden Bombenterror ein solches Erlebnis, ebenso wie die gewaltsame Entwurzelung aus der angestammten Heimat, nicht zu vergessen die gewaltsame Teilung des Landes mittels einer Betonmauer und die nach Kriegsende verabreichten Erniedrigungen, die man uns bis heute wohldosiert in die geistige Nahrung mischt.
Im Grunde handelt es sich beim Seelenverlust um den Verlust von Kraftquellen. Während Schamanen von Krafttieren und Schutzgeistern sprechen, die einen Menschen aus verschiedenen Gründen verlassen können, spricht die moderne Psychologie von »Dissoziation«. Seelenteile oder Anteile der Persönlichkeit spalten sich ab und sind dem Bewußtsein nicht mehr zugänglich. Man geht davon aus, daß es sich dabei zunächst um eine Überlebensstrategie der Psyche handelt, die aber, wenn sie sich nicht korrigiert, zu Krankheit führen kann. Der Schamane hilft dem Kranken mit Gesängen und Ritualen, sich an die Krafttiere zu erinnern, sie zu visualisieren und zu bitten, wieder zurückzukommen. Die analytische Psychologie bietet verwandte Techniken an, bei Jung wäre das die »aktive Imagination« und das Auffinden einer »heilenden Fiktion«: Das erst 2009 veröffentlichte, aufwendig illustrierte Rote Buch ist Dokument seiner eigenen Selbstheilung und Selbstwerdung, die nach seinem Bruch mit Freud vonnöten war.
Die Therapeutin Sandra Ingerman, die im Grunde denselben Ansatz vertritt wie Jung, ist im Laufe ihrer therapeutischen Arbeit zur Erkenntnis gelangt, daß das von Freud empfohlene »Erinnern und Durcharbeiten« wenig Heilung verspricht, solange man das traumatische Erlebnis in den Vordergrund der Betrachtung stellt. Stattdessen hilft sie ihren Patienten, sich aktiv an das eigene Wesen zu erinnern, sich die eigene Natur bewußt zu machen, sich heilende Geschichten zu erzählen und verlorene Seelenanteile wieder einzusammeln. Die Tatsache, daß wir uns im öffentlichen Diskurs gar nicht fragen dürfen, wer wir eigentlich sind und was uns ausmacht, ist so besehen eigentlich kriminell. Ziel der wohl immer noch anhaltenden »Re-education« ist ja, daß wir unserer Volksseele abschwören und aufhören, wir selbst zu sein, also so zu sein, wie wir als Volk und als Angehörige dieses Volkes, das ja eine historisch gewachsene Größe ist, naturgemäß nun einmal sind. Daß dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist, ist aber eigentlich auch klar. Einer tausend Jahre alten Eiche kann man schließlich nicht einfach einreden, sie müsse ab jetzt eine Quitte sein. Auf persönlicher Ebene würde eine derartige Umerziehung zwangsläufig in die Neurose führen, die nach Jung nämlich dann eintritt, wenn einem die »Selbstwerdung« verwehrt wird, wenn man nicht seiner inneren Wahrheit gemäß leben darf oder man es sich selbst nicht gestattet.
Aktive Imagination und heilende Fiktion
Daß uns mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs offensichtlich Kraftquellen verlorengegangen sind – viele Volksangehörige waren so verzweifelt, daß sie Selbstmord begingen –, wird niemand ernsthaft in Frage stellen. Daß wir die jetzt dringend wieder benötigen, um uns den aktuellen Herausforderungen zu stellen, liegt eigentlich auch auf der Hand. Daß durch die »Re-education« ein großer Teil des Volkscharakters aus dem Bewußtsein verdrängt wurde, wird auch niemand anzweifeln. Wenn wir also postulieren, daß so etwas wie Seelenverlust auf kollektiver Ebene stattgefunden hat, müssen wir als nächstes auch der unangenehmen Tatsache ins Auge sehen, daß unsere natürlichen Selbstheilungskräfte, etwa durch Schöpfen aus geistigen Kraftquellen, die die Hervorragendsten unserer Ahnen der Volksgemeinschaft hinterlassen haben, dadurch behindert werden, daß die diskursive Realität von einem masochistischen – aus einem anderen Blickwinkel: sadistischen – historischen Narrativ beherrscht wird. Das müßte Jung wohl auch einsehen, wenn er noch am Leben wäre.
Daß dieses Narrativ uns manipulierbar und erpreßbar macht und nicht nur Deutschland schadet, sondern ganz Europa, hat jüngst der amerikanische Autor Colin Liddell in seinem Essay zur Notwendigkeit der moralischen Aufrüstung Deutschlands hervorgehoben. Es ist eigentlich völlig offensichtlich, daß sich ein einseitiges Schuldnarrativ auf Dauer schlecht als identitäts- und sinnstiftender Mythos eignet und daß ein enger Zusammenhang bestehen muß zu den gravierenden politischen Fehlentscheidungen, einem dramatischen Geburtenrückgang und einer allgemeinen Zunahme von Depressionen. Die Art und Weise nämlich, wie man sich seine eigene Herkunft erzählt, hat enorme psychische Konsequenzen – das wird heute auch von Psychologen anerkannt, die sich auf die Therapie von »Kriegsenkeln« spezialisiert haben, etwa Sabine Bode. Sie empfehlen ihren Patienten, ein positives Narrativ zu entwickeln, sich an die Errungenschaften ihrer Vorfahren zu erinnern, sich trotz physischer Entwurzelung imaginäre Wurzeln und Kraftquellen zu erschließen. Da Kriegsenkel-Therapeuten beim individuellen Schicksal ansetzen, aber nicht die Autorität besitzen, das übergeordnete Narrativ in Frage zu stellen, können sie im Jungschen Sinn nicht als echte Heiler in Erscheinung treten. Gerade Jung hat ja im Gegensatz zu Freud mit Nachdruck betont, daß die historischen Umstände, in die ein Mensch hineingeboren wird, die »historischen Dominanten«, das individuelle Bewußtsein ganz entscheidend prägen und beeinflussen.
Die historisch bedingte Seelenlage des Kollektivs wirkt sich also auch immer auf das Einzelschicksal aus. Der wirklich kollektiv wirksame mystische Heiler ist nach Jung Schamane, Arzt und Künstler zugleich, seine Aufgabe ist die psychische und physische Heilung der ganzen Gruppe, und meistens sucht er sich diese Rolle nicht aus, sondern wird von höheren Kräften – der Natur – dazu auserkoren. Es ist erstaunlich, daß diese Kriegsenkelspezialisten eher geneigt sind, die aus der psychoanalytischen Shoah-Forschung stammende Theorie der Vererbung von Traumata zu übernehmen und mit Patienten kraftspendende Familiengeschichten zu entwickeln, als sich die Frage zu stellen, welche katastrophalen Auswirkungen ein übergeordnetes, völlig einseitiges historisches Narrativ haben könnte, das obendrein nicht einmal angezweifelt werden darf. Es wird nichts helfen, wir müssen unsere Phantasie ankurbeln: ein neues Narrativ muß her. Colin Liddell hat in seinem Text ja darauf hingewiesen, daß ein gemäßigteres, objektives historisches Narrativ schon völlig ausreichen würde. Wie Jung betont, kann »der Mensch (…) seine Nichtigkeitserklärung nicht für immer hinnehmen. Irgendwann kommt es zu einer Gegenreaktion. Ein sinnentleertes Leben erträgt der Mensch nicht« (Jung, Face to Face). Das war als Kritik an der Moderne formuliert, aber es läßt sich problemlos auf unsere Situation übertragen. Und es müßte doch auch im Interesse der sogenannten Sieger sein, daß die Gegenreaktion gemäßigt ausfällt.
A propos: anders als in Deutschland ist die Phrase »controlling the narrative« in den USA in Politik und Medien sehr geläufig. Wie jede PR- Abteilung weiß, muß man eine Geschichte so erzählen, daß sie die eigenen Interessen bedient, und zwar bevor sie jemand anders anders erzählt. Uns Deutschen mag diese Haltung aufgrund eines kulturell tief verankerten und besonders ausgeprägten Wahrhaftigkeitsstrebens natürlich völlig fremd und unsympathisch sein, aber das darf uns nicht davon abhalten, zu erkennen, daß andere Völker, zumal jene, die einen Vorteil aus unserer Niederlage ziehen, ein anderes Verhältnis zur Wahrheit und zum »storytelling« haben. Und sich natürlich unsere Geschichte so erzählen, daß sie ihnen Kraft spendet, wenngleich auf unsere Kosten.
Coda
C.G. Jungs Beschreibungen des deutschen Charakters und der deutschen Seele sind auch insofern mit Vorsicht zu genießen, als Jung sich nach seinem Bruch mit Freud zunehmend dem Druck ausgesetzt sah, sich zu rechtfertigen und sich vom nationalsozialistischen Deutschland zu distanzieren. Man könnte auch vermuten, daß ihm als Schweizer, der in einem reformierten Pfarrhaus großgeworden war, der dionysische Zug im Germanischen tatsächlich nicht ganz geheuer war. Aber nicht nur in Bezug auf »Seelenverlust« bietet Jungs Werk interessante Impulse: Auch seine Zeitkritik ist immer wieder eine Bereicherung – insbesondere seine Kritik an der Moderne, einschließlich der modernen Kunst, und am materialistischen Wissenschaftsbegriff. Ebenso interessant ist seine von großer Wertschätzung geprägte Beschäftigung mit vormodernen und außereuropäischen Kulturen, bei gleichzeitigem Wissen darum, daß eine Heilung der europäischen Zivilisation nicht durch Rückgriff auf das I Ging oder die Upanishaden, sondern nur aus einer Besinnung auf verschüttete Denktraditionen in der eigenen Kultur erfolgen kann. Bei all dem besonders einnehmend ist die ihm eigene Bescheidenheit, die auch sein Selbstverständnis als Arzt prägte.