Den Versuch einer Antwort auf die Frage postnationalstaatlicher Ordnung unternimmt Michael Wolffsohn, der bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Münchner Bundeswehruniversität wirkte. In seiner jüngsten Veröffentlichung Zum Weltfrieden rät er zu einem System aus Föderalismen, das akute Krisen – etwa die weltpolitisch besonders bedeutsame in Palästina – aufheben oder zumindest eindämmen könnte.
Dieser Fall verdient schon deshalb Beachtung, weil jedes Krisenmanagement herkömmlicher Art bei solch festgefahrenen Konflikten versagte. Ebenfalls verknüpft mit dem Terminus »Föderalismus« ist die gegenwärtige Projektionsfläche linksrevolutionärer Träume nach dem neuen Anlauf für eine befreite Gesellschaft unterhalb eines Staatswesens: Rojava (kurdisch für »Westen«, gemeint sind die kurdischen Gebiete Syriens).
Dort, also je nach Blickwinkel: in Westkurdistan oder in Nordsyrien, versucht sich die undogmatische kurdische Linke derzeit unter dem Schlagwort »Demokratischer Konföderalismus« am Aufbau einer staatsfernen Gesellschaft von unten. Dieses konföderal-autonomistische Konzept, das auf den PKK-Gründer Abdullah Öcalan zurückgeht, kann Signalwirkung auf den gesamten Nahen und Mittleren Osten ausüben – und gegebenenfalls darüber hinaus.
Daß die praktische Umsetzung des theoretischen Revolutionsprojektes zumindest in den drei nordsyrischen kurdischen Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê derzeit überhaupt angegangen werden kann, geht auf den »Ordnungszerfall« (Volker Perthes) zurück, der den konfliktträchtigen Mittleren Osten momentan – folgenschwer für die Region, aber auch für Europa – mit aller Härte trifft. Die nationalstaatliche Ordnung der arabisch-nahöstlichen Welt entstand nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Auflösung des Osmanischen Reiches; die Grundlagen schuf das britisch-französische System Sykes-Picot mit seiner Ignoranz gegenüber tribalen, ethnischen und religiösen Verhältnissen.
Nun steht dieses staatliche Gefüge kurz vor dem Kollaps, die drei »Schlüsselländer der arabischen Welt« (Haluk Gerger), Syrien, Irak und Ägypten, werden von einer Barbarisierungsspirale heimgesucht – ein Umstand, der besonders das traditionell multiethnische und multireligiöse Syrien darben läßt, das unter der Ägide des säkularen Präsidenten Baschar al-Assad bei allen zweifellos vorhandenen Widersprüchen doch einen erfolgreichen und in breiten Schichten populären Stabilitätsanker darstellte.
Man muß diese von außen – von den sunnitischen Golfstaaten, der Erdogan-Türkei und westlichen Geheimdiensten – entfesselte und bis heute subventionierte »vorsätzliche Zerstörung Syriens« (Karin Leukefeld) als Teil eines geopolitischen Ringens um die Neuordnung des Nahen Ostens zwischen – grosso modo – amerikanischen und russischen, sunnitischen und schiitischen Kräften ansehen, das gerade für die circa 30 Millionen Kurden unverhoffte Handlungsspielräume öffnet.
Kurdistan ist gleich vierfach geteilt, die Siedlungsgebiete erstrecken sich auf türkisches, iranisches, irakisches und syrisches Staatsterritorium, wobei in Syrien – obwohl dort nur 1,5 Millionen Kurden leben – zunächst die wichtigste Schlacht der kurdischen Bewegung im besonderen und für die geostrategische Konfliktsituation im allgemeinen geschlagen wird, da, wie der türkische Politikwissenschaftler Haluk Gerger akzentuiert, »dieses Land (…) das historische, politische und geistige Zentrum des arabischen Nahen Ostens ist«. In Syrien liegt etwa die überwiegend kurdische Stadt Kobanê; bisweilen standen Dutzende Kamerateams auf einem Hügel in der Türkei, von dem aus der IS-Vormarsch rund um diese Grenzstadt live in europäische Wohnzimmer übertragen wurde.
Bis dato verband man mit der in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und deren verbündeten Kräften – in Syrien sind das vor allem die Partei der demokratischen Einheit (PYD), die Volksverteidigungskräfte (YPG) sowie deren Frauenverbände (YPJ) – vorwiegend Anschläge auf meist türkische Personen und Einrichtungen. Seit dem Fanal von Kobanê, das das geographische und strategische Zentrum des mittleren der drei territorial nicht miteinander verbundenen syrisch-kurdischen Kantone darstellt, gelten die kurdischen Kräfte als wirkmächtigste Truppe gegen neofundamentalistische Allianzen vom Schlage IS und dem Al-Kaida-Ableger Nusra-Front.
Abgesehen davon, daß der stärkste und unerbittlichste Feind der sunnitischen Terroristen die seit Oktober von russischen Luftschlägen gestützte syrische Armee ist, haftet dem staatslosen Rojava-Experiment der Makel an, seine bloße Existenz den USA zu verdanken. Denn es waren US-Angriffe auf IS-Nachschubwege und die amerikanische Unterstützung für zur Hilfe eilende Peschmerga-Kämpfer aus Südkurdistan (Nordirak), die Kobanê vor dem Fall retteten.
Der letzte Schritt auf dem Weg zur Stabilisierung der Front gegen den IS waren also jene kurdischen Milizen, die gerade nicht beim Rojava-Aufbau beteiligt sind, diesem gar kritisch bis feindlich gegenüberstehen. Denn Rojava ist fest mit der Ideenwelt des PKK-Serok Abdullah Öcalan verbunden, dem viele irakische Kurden unter anderem aufgrund ihrer weiterhin feudal ausgerichteten Stammesgesellschaft oppositionell gegenüberstehen. Treibende Kraft sind PKK-Sympathisanten, deren Kaderpartei bis zur Jahrtausendwende eine marxistisch- leninistische Formation war und zum Ziel hatte, einen zentralistischen kurdischen Nationalstaat zu schaffen.
Soweit bewegte sich die kurdische Befreiungsbewegung im Rahmen des herkömmlichen Nationalstaatsgedankens. Der auf der Gefängnisinsel Imralı inhaftierte Öcalan begann jedoch bereits ab 1999 – geschult am US-amerikanischen libertären Theoretiker Murray Bookchin – die Idee des »Demokratischen Konföderalismus« (auch: »Demokratischer Kommunalismus«) auszuarbeiten, die dem Staat als solchem grundsätzlich eine Absage erteilt, also auch dem potentiell kurdischen Nationalstaat.
Grundthema der Öcalan-Anhänger in Rojava und anderswo ist daher nicht die Schaffung einer kurdischen Nation, sondern die Selbstverwaltung der Individuen in einer anzustrebenden nichtkapitalistischen, ökologischen, »geschlechtergerechten« Gesellschaft ohne Allmacht des Staates. Der Begriff der Konföderation bezieht sich dabei auf die Zusammenarbeit autonomer Entitäten unterhalb eines Staatswesens, im konkreten Fall Rojavas also der drei Kantone. Diese werden momentan von den PKK-nahen YPG/YPJ und kleineren verbündeten Milizen kontrolliert und militärisch gesichert.
Rojava wird von Damaskus geduldet, zumal dort lebende Assad-loyale Minderheiten (überwiegend Angehörige der christlichen assyrischen, armenischen, chaldäischen und aramäischen Volksgruppen) durchaus effektiv vor den Nachstellungen islamistischer Terroristen geschützt sind. Ohnehin ist es diese überkonfessionelle, überethnische Komponente, die das aktuelle Westkurdistan-Projekt vom marxistisch-zentralistischen Befreiungsnationalismus der »alten« PKK des Kalten Krieges scheidet. Im »Gesellschaftsvertrag von Rojava« wird allen ethnischen, sozialen, kulturellen und nationalen Gruppen völlige Gleichberechtigung zugesagt; Ziel sei die völlig freie Entfaltung eines jeden Individuums innerhalb eines auf Freiwilligkeit beruhenden pluralistischen Gebildes, das kein Staatswerdungsprojekt sein soll.
Derartige Ideen erinnern nicht zufällig an die im Kommunistischen Manifest formulierte Marx-Engels-Utopie der »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« In der Assoziation wird dann nicht regiert wie in einem peu à peu abzuschaffenden Nationalstaat, sondern, so die Theorie Öcalans, konsensorientiert »selbstverwaltet«, was auch Güterverteilung und die Eigentumsfrage betrifft.
Bis zum Absterben des Staates ist es jedoch ein langer Weg, und die ersten praktischen Schritte Rojavas werden aktuell in Form von basisdemokratisch gewählten Straßen‑, Block‑, Stadt- und Gemeinderäten gestaltet. Seit 2014 wird der radikaldemokratische »Gesellschaftsvertrag« als Handlungsanweisung gelesen: Anders als im bisherigen syrischen Nationalstaat soll es mehrere Amtssprachen geben, alle Einwohner Rojavas sind gleichberechtigt, es gibt Frauenquoten und Diskriminierungsverbote.
Gefängnisse sind gemeinsame Resozialisierungsanstalten, staatliche Kräfte wie die Polizei sind formal abgeschafft, und eine Sicherheitskraft kann jedes Gesellschaftsmitglied sein. Der Aufbau erfolgt über Räte von unten nach oben, wobei »oben« relativ ist, da stark egalitäre Züge jeder möglichen Hierarchisierung, auch jeder Ethnisierung des Sozialen, entgegenwirken sollen. Ökonomisch favorisiert wird eine gegenkapitalistische Vision, wobei aufgrund des derzeitigen nichtkonfrontativen Vorgehens etwa der (größtenteils arabisch dominierte) Großgrundbesitz nicht angetastet wird.
Es ließen sich noch derlei mehr antikapitalistische, feministische, basisdemokratische und ökologische Forderungen auflisten: Allein, der »Gesellschaftsvertrag von Rojava« und die Aura, die ihn umgibt, erinnern bereits jetzt zunehmend an eine säkularisierte heilsgeschichtliche Utopie vom Paradies auf Erden. Und in der Tat geraten auch deutschsprachige Linke – von einigen Ausnahmen abgesehen – ins Schwärmen für dieses »Menschheitsprojekt«.
Übersehen werden dabei knallharte Fakten: Die heterogene kurdische Bewegung ist, auch wenn sie sich antinationalistisch aufstellen möchte, eine dezidiert kurdisch-identitäre Angelegenheit, die den regelrechten Führerkult um Öcalan auch in der derzeitigen syrisch- irakischen Ausnahmesituation betreibt. »Gerade in den großen Krisen sind deshalb charismatische Persönlichkeiten gefragt, die eine bewegende Stimmung des Aufbruchs erzeugen können«, wußte der 2012 verstorbene marxistische Theoretiker Robert Kurz zu vermelden, und Rojava ist hierfür gerade keine Ausnahme.
Zudem gibt es erste Berichte von Aktivisten von Human Rights Watch, die darauf hinweisen, daß es mit der Errichtung des herrschaftsfreien Utopias nicht weit her ist: kurdische PYD-Gegner werden willkürlich inhaftiert, und die regimegegnerischen, antiautoritären linken Revolutionäre sind dabei – so der Vorwurf –, ein autoritäres Regime zu installieren.
Auch wenn Öcalan behauptet, der Demokratische Konföderalismus sei nicht nur jenseits des Staates zu denken, sondern auch antihegemonial, so wissen die Rojava-Revolutionäre mit Antonio Gramsci, daß es gelte, die Mehrheit der Menschen zu erreichen, d.h. die Hegemonie über die Gesellschaft zu erlangen, um diese zu revolutionieren. Nicht umsonst gibt es in Rojava ideologischen Unterricht. Daß aber nicht jeder Mensch sein Bewußtsein und seine Existenz »revolutioniert« sehen möchte, sollte zumindest jedem mit realistischem Menschenbild klar sein.
Und selbst der linke Politikwissenschaftler Stefan Bollinger gibt grundsätzlich zu bedenken, »daß die revolutionäre Beglückung eines anderen Volkes (…) ebenfalls auf Dauer zerstörend wirkt« – ein Einwand, der besonders bei einem multiethnischen Gefüge wie Rojava Gültigkeit besitzt, da sich das Gros der Einwohner entlang ethnischer und konfessioneller Identitäten gruppiert. Die Hegemonie der Räteherrschaftsbefürworter in den kurdischen Kantonen Syriens entspringt ferner einer von den derzeitigen Kooperationspartnern gebilligten Führungsfunktion; sie beruht zwingend auf Zustimmung, also auf Konsens seitens derer, auf die sie sich erstreckt.
Hegemonie ist ja nach Gramsci gerade die ständige Bedingung für die Machtausübung und politische Führung auf konsensualer Grundlage; der italienische Intellektuelle plädierte in der Theorie für den konstanten Stellungskrieg, der in der Zivilgesellschaft beginne. Genau das vollzieht sich praktisch in Rojava. Übertragen auf die konkrete Lage bedeutet dies, daß die Hegemonie der Kurden in Rojava legitimiert ist. Was passiert aber, wenn die Krisenursachen – etwa der IS – als gemeinsame Bedrohung aller Ethnien und Konfessionen in Nordsyrien wegfallen?
Wie verhält sich die herrschende Schicht Rojavas – und das sind allen Floskeln zum Trotze die Kurden – gegenüber »Abweichlern«, die den langwierigen Gesellschaftsaufbau des Demokratischen Konföderalismus nicht mittragen wollen? Werden die Kurden dann selbst »imperialistisch«, und zwar in dem Sinne, auf Hegemonieverfall mit Dominanzgebaren zu reagieren? Der Folterbericht der Menschenrechtsaktivisten birgt Anlaß zur Sorge.
Der eventuelle Kollaps des IS sowie ähnlicher Milizen und der Sieg Assads wäre ebenfalls projektgefährdend, denn der syrische Staat wird auf Dauer keine expliziten gegenstaatlichen Strukturen in einem Landesteil dulden können, der 60 Prozent der Weizenproduktion aufbringt und deshalb als die Kornkammer Syriens gilt.
Dabei hätte es Assads Staat selbst in der Hand: Ein Entgegenkommen gegenüber dem kurdischen Bevölkerungsteil würde den ideologischen Hardlinern bei den mehrheitlich apolitischen Menschen die Zustimmung rauben. Die Einstellung jedweder Arabisierungsversuche und Diskriminierung wäre Pflicht, eine integrierende »höhere Idee« des Staates sollte wieder gefunden werden, die Abwendung vom Zentralismus der regierenden Baath-Partei müßte föderale Strukturen und konsequente nationalkulturelle Autonomie für Kurden und andere beinhalten.
Ausgerechnet der jungkonservative Philosoph Edgar J. Jung könnte für diesen Ansatz Pate stehen. In seinem Opus magnum befürwortete er föderale Elemente zur Aufhebung ethnischer Konflikte in einem konkreten Raum. Großstaaten, so Jung, könnten nur bestehen und die produktiven Kräfte aller in ihnen lebenden Völker entfesseln, »wenn in den engeren Lebensgemeinschaften das Leben ungehindert emporblüht«.
Mit Jung gesprochen müßte in einem künftigen Syrien die Reibungsfläche zwischen den einzelnen Ethnien und Konfessionen so klein wie möglich gehalten sein; dafür wäre sogar eine These Öcalans heranzuziehen, die Etablierung föderaler, allen Kurden offenstehender Strukturen im Iran, in der Türkei, in Syrien und im Irak gemeinschaftlich anzugehen.
Diese Art Föderation wäre dann nicht antistaatlich, sondern verliefe »unterhalb des Staates«. Verzichten müßten in diesem Falle die Verfechter des Demokratischen Konföderalismus auf den Anspruch, eine Weltalternative erfunden zu haben und von Rojava aus Stück für Stück der Erde zu erfassen und zu »konföderieren«. Immerhin zeigen sich mittlerweile von dieser Vision auch dynamische politische Gruppen in Südamerika oder Katalonien angezogen.
Und bei dem eingangs erwähnten Michael Wolffsohn fehlt zwar die antikapitalistische Schlagseite, aber auch er sieht in einem neuen Föderalismus ein »Zauberwort« für verschiedene räumlich-politische Konstellationen von Palästina bis Großbritannien. Für Kurdistan bringt er – wie Öcalan – die Bildung vier föderaler kurdischer Gebilde ins Spiel, die in einer Konföderation uniert, aber ihren eigentlichen Staaten (Irak, Iran, Syrien, Türkei) nicht amputiert würden.
Es ginge also auch unterhalb des Staates, nicht nur gegen ihn, ohne dessen Dialektik aus Schutz und Gehorsam allgegenwärtiges Chaos herrschte; daher bleibt gerade im Nahen und Mittleren Osten der Staat als Idee auch weiterhin eine »kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegeneinander« (Friedrich Nietzsche).