Läßt sich sagen, worum es »eigentlich« in den weltpolitischen Auseinandersetzungen der letzten 250 Jahre ging? Gibt es eine Verbindung zwischen der Vorgeschichte der Französischen Revolution im achtzehnten und den Predigten amerikanischer Neokonservativer für immer neue Offensiven des Westens – gegen wirkliche oder eingebildete Feinde – zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts? Trägt irgendein dauerhaftes Motiv auch durch die Ära der Weltkriege zwischen 1914 und 1945? Einerseits hat es an politisch-historisch-philosophischen Versuchen nicht gefehlt, diese Fragen zu beantworten. Andererseits hat sich diese Fragestellung immer als schwer zugänglich erwiesen, empirisch nicht zu ermitteln und dann zu esoterisch, jedenfalls für die meisten der vorgeschlagenen Lösungswege. Der Umfang des Problems verhindert eine eindeutige Antwort.
In dieser Lage läßt sich aus der Not eine Tugend machen. Dies jedenfalls mag sich Lorenz Jäger gedacht haben, als er seine kleine Werkreihe zum Thema konzipiert und drei Bände vorgelegt hat: Das Hakenkreuz – Zeichen im Weltbürgerkrieg (2006); Hinter dem Großen Orient – Freimaurerei und Revolutionsbewegungen (2009); Unterschied. Widerspruch. Krieg. – Zur politischen Theologie jüdischer Intellektueller (2013). Mit in diese Reihe gehört auch der schmale, autobiographisch orientierte Beitrag über die eigenen Prägungen (2013), denn ganz ohne Verständnis des Jägerschen Lebenslaufs erschließen sich weder Motiv noch Gedankengang jener sämtlich im Wiener Karolinger-Verlag erschienenen Bände. Vorwiegend feuilletonistisch-assoziativ, ausdrücklich »nicht als materialistische Geschichtsschreibung« und trotzdem voller überraschender Details gibt Jäger in ihnen luzide Antworten von einiger Tragweite.
Jäger ist promovierter Soziologe und Germanist, langjähriger Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und seit 2014 der Leiter von deren Ressort Geisteswissenschaften. Intellektuell gesehen ist er zudem das, was man in der Bundesrepublik landläufig als »68er« bezeichnet, mithin als Denker mit einer linksgerichteten Sozialisation ausgestattet. In deren Rahmen ist er allerdings nicht stehengeblieben; er hat die zunehmenden Routinen und die öden Nachwehen von »68«, die heute das Geistesleben der BRD prägen, nicht akzeptiert. Zeitweise trug ihm dies den Ruf ein, mit »konservativem« Denken zu liebäugeln, einen Eindruck, den er 2011 im hauseigenen Blatt mit einem aufsehenerregenden Beitrag unter der Überschrift »Adieu Kameraden« zurückwies (Sezession 45). Er sei »Gutmensch«, ließ Jäger wissen, sich demonstrativ zum polemischen Feindbild stilisierend. Bei näherem Hinschauen hat Jäger – auch nach eigenem Eingeständnis – nicht die sogenannte Neue Rechte verabschiedet, sondern eine Form der deutschen Neocons, wie sie sich in Teilen der etablierten deutschsprachigen Publizistik findet.
2006 erschien Jägers Abhandlung über das Hakenkreuz. Es sei ein »vorpolitisches Symbol«, das mit staatlichen Grenzen oder Staatsideen zunächst nicht zu verbinden sei. Weil es »unverbraucht« gewesen sei, habe es zum Symbol des ganz neuen, rassistisch ausgerichteten nationalsozialistischen Staates werden können. Was an dieser Stelle noch klingt wie eine originelle Designidee des politischen Nationalradikalismus, hat dann aber sehr wohl eine Kulturgeschichte. Jäger setzt Heinrich Schliemann an diesen Anfang der Neuentdeckung des Hakenkreuzes. In der neueren Literatur kaum noch erwähnt, fand Schliemann bei seinen Ausgrabungen in Troja auch Tausende von kleinen Gegenständen, die das »Swastika« trugen. Unter Berufung auf die Forschungsmeinungen kompetenter Indologen zog Schliemann den Schluß, es mit einem arischen Urzeichen zu tun zu haben. Er war über diese zeitlich-graphische Brücke nach Asien und in ferne Zeiten begeistert, ließ sich alle Funde dieser Art zeigen und räumte dem Hakenkreuz in seiner Altersresidenz einen prominenten Platz ein. Das war kein politischer Akt, aber es zeigte die Attraktivität des Symbols und weckte auch bei anderen das Forschungsinteresse an diesem Gegenstand. Man wurde aufmerksam auf Hakenkreuze am Sarkophag des antiken germanisch-römischen Feldherrn Stilicho, auf eine hakenkreuzverzierte vandalische Speerspitze aus dem sechsten Jahrhundert und auf Funde in weiteren Erdteilen und Kulturen.
Die Symbolik war also keiner bestimmten Kultur und Ethnie zuzuordnen. Es war ein »weltweites Zeichen«, das »nur Babylonier, Ägypter und Juden nicht oder kaum gebraucht zu haben« scheinen – und, so muß man ergänzen, auch Christen nicht. Die Attraktivität des Zeichens am Ende des 19. Jahrhunderts war demnach lange durch die Altertumsforschung und die Indologie vorbereitet worden, rationale Kräfte, wie man meinen könnte. In einer lockeren Reise durch die Überlieferung führt Jäger dann jedoch durch die privaten Aufzeichnungen und Werke von Rudyard Kipling, der Theosophin Madame Blavatsky, Ludwig Klages, Alfred Schuller, Rainer Maria Rilke und anderen, die dieses Zeichen verwendet haben. Jäger zieht die Verbindung zur Wissenschaft als Ursache für die Attraktivität ausdrücklich, stellt aber fest, daß das Hakenkreuz eben keine rein rationalen Assoziationen weckte, sondern immer einen okkulten und mystischen Bezug behielt. Es deutet sich hier die Frontstellung an, in der das Hakenkreuz im Weltbürgerkrieg in Europa auftreten sollte: als Gegenpol zu jüdischen wie zu christlichen Traditionen und zu allen daraus entwickelten demokratisch-revolutionären Ansätzen.
Nun ist Jäger gewissermaßen in seinem Element, auf die scheinbaren Zufälligkeiten hinzuweisen, bei denen dieser Gegensatz schließlich auftrat. Der seinerzeit populäre Roman Wiltfeber (1912) landete bei der Suche nach einem gegenchristlichen und antijüdischen Symbol bereits beim Hakenkreuz, beim »ewigen Deutschen«, und wurde mit dieser Symbolik sowohl vom Nationalsozialisten Rosenberg wie von den jüdischen bzw. jüdischstämmigen Intellektuellen Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy als bedeutend wahrgenommen. Jäger weist darauf hin, daß sich Rosenstocks radikale Ausführungen über das Judentum im Prinzip als die ins Positive gewendete Beschreibung aus dem Roman lesen lassen und zitiert diese Passage aus Rosenstocks Werk:
Für den Juden allein gibt es keinen Zwiespalt zwischen dem höchsten Bild, das vor seine Seele gestellt ist, und dem Volk, in das sein Leben ihn hineinführt. Er allein hat die Einheit des Mythos, die den Völkern der Welt durch das Christentum verlorenging und verlorengehen mußte; mußte – denn der Mythos, den sie besaßen, war heidnischer Mythos, der sie, indem er sie in sich selbst hineinführte, von Gott und vom Nachbar wegführte.
Es sind solche Passagen, die Jägers Abhandlung zu etwas Besonderem werden lassen. Die Nürnberger Rassegesetze stellten eine solche Eigentümlichkeit des Judentums fest und brachten jenen Aspekt auf den Punkt, der den deutschen Antisemitismus seit seinem Entstehen begleitet hatte. Die Judenfeindschaft war in diesem Sinn kein Ausdruck von Verachtung, sondern von Bewunderung und Angst vor einem Judentum, das man auf eigene Weise zum Vorbild nahm und übertreffen wollte.
Schließlich finden wir bei Jäger das Hakenkreuz bereits am ersten Kulminationspunkt des Weltbürgerkriegs: der russischen Oktoberrevolution. Die vom Autor herangezogenen Belege sind überaus originell. Wer hätte gedacht, daß die russische Zarenlimousine ein Hakenkreuz als Kühlerfigur besessen hat? Der Grund dafür bestand in der Vorliebe der Zarin für dieses Zeichen, an dessen glückbringende Wirkung sie noch in der Inhaftierung festhielt und das auch ihre Tochter eigenhändig auf ihr Tagebuch gestickt hatte.
Nun war das Zarenreich auch der am stärksten antisemitisch und antidemokratisch ausgerichtete Staat unter den Großmächten dieser Zeit. Die Vernichtung der Zarenfamilie durch ein sowjetisches Erschießungskommando wurde von den ausführenden Tätern offenbar als eine Art göttlicher Racheakt betrachtet.
Die Kulturgeschichte des Hakenkreuzes ging mit der politischen Aufladung zu Ende. In der Kinoästhetik von Rockerfilmen und Teilen der Punk-Bewegung der 1970er Jahre tauchte das Zeichen noch einmal in provokatorischer Absicht auf. Dann sorgten die »Vergangenheitsbewältigung« und das Strafgesetzbuch dafür, daß sein Vorzeigen unter keinen Umständen mehr denkbar ist.
Was die Frühgeschichte des Weltbürgerkriegs und der Revolution von 1789 angeht, so griff Jäger sie bald unter einem anderen Aspekt auf, der nicht weniger heikel war. Er packte den Stier gleich im ersten Satz bei den Hörnern: »Der Deutsche, der von den Freimaurern hört, wird ›Verschwörungstheorie!‹ sagen, und abwinken.« Gerade die vom Freiheitspathos und dem Ideal der Offenen Gesellschaft geprägte Persönlichkeit hat den Gedanken an die eigene Manipulation durch geheime Parallelgesellschaften immer verworfen. Als beredtes Beispiel bringt Jäger Georg Büchners Stück Woyzeck ins Gespräch; jene Stelle, an der Büchner den Protagonisten im Wahn überall die Freimaurer am Wühlen sehen läßt: »Es pocht hinter mir, unter mir« (Woyzeck stampft auf den Boden) »hohl, hörst du? Alles hohl da unten. Die Freimaurer!« Die Pointe der Geschichte folgt sogleich, denn derselbe Büchner brachte in Dantons Tod das Drama der französischen Revolution auf die Bühne – ohne darin die Freimaurer zu erwähnen. Jäger zitiert den französischen Außenminister aus dem Jahr 2003, aus dessen zum 275. Gründungsjahr der Freimaurerloge »Grand Orient« gehaltenen Rede mit einer Liste der berühmten Mitgliedernamen dieser Loge: Marat, Talleyrand, Le Chapelier, Condorcet, aber auch Sieyés, Guillotin, Desmoulins, Danton.
An dieser Stelle treffen zwei bemerkenswerte Tatsachen zusammen. Der übergroßen Abneigung, in den Freimaurern irgendetwas anderes zu sehen als das Phantasieobjekt von Verschwörungstheoretikern, steht die Lautstärke entgegen, mit der bei vielen Gelegenheiten die prominente Gegenwart weltbekannter Personen und Freimaurer bei weltgeschichtlichen Ereignissen gefeiert wurde. Beides ist miteinander kaum vereinbar. Daß beides trotzdem unvermittelt nebeneinander existieren kann, berührt sowohl die alte Frage, inwieweit kleinere, prominent besetzte Organisationen tatsächlich Einfluß auf das politische Geschehen nehmen konnten, als auch den bereits erwähnten verbreiteten Widerwillen, diesen Einfluß als Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
Natürlich ist es nicht leicht, den tatsächlichen Rang kleinerer pressure groups im historischen Ablauf zu bestimmen. Jäger läßt den »Grand Orient« als Teil der großen revolutionären Unternehmungen seit 1789 erkennbar werden. Dessen laizistisch orientierte Freimaurerei wirkte nicht nur im Frankreich dieses Jahres, sondern auch 1832, 1848 und 1870 und in der Französischen Republik seitdem. Verbindungen finden sich bis ins revolutionäre Rußland des Jahres 1917. Der erste nachrevolutionäre Premierminister Alexander Kerenskij war seit 1912 einer an den Idealen des »Grand Orient« orientierten Loge beigetreten, wie er in seinen Memoiren später selbst erklärte. Zwar hatte es russische Besonderheiten dieser Loge gegeben, von denen Kerenskij eine weitgehende Isolierung von ausländischen Einflüssen, den Verzicht auf viele Rituale und die Mitgliedschaft von Frauen nannte, aber insgesamt blieben zwei Dinge eindeutig: Es gab laut Kerenskij keine schriftlichen Protokolle und keine Mitgliederlisten dieser Organisation.
Der ersten von Kerenskij geführten Regierung gehörten nach später angestellten Untersuchungen schließlich immerhin sieben Mitglieder dieser Loge im Ministerrang an. Es war demnach eine verschwiegene, sich aber durch den Erfolg als repräsentativ ausweisende Gruppierung, die sich hier an der politischen Umgestaltung beteiligte. Parallelen zur Französischen Revolution sind augenfällig. Der logenverbundenen, westlich orientierten, den weiteren Krieg gegen die Mittelmächte Deutschland-Österreich befürwortenden Kerenskij-Regierung folgte bald die Oktoberrevolution, die Machtergreifung der Sowjets. Damit trat jenes Ereignis ein, das für einen weltgeschichtlichen Augenblick von einigen Monaten 1917/18 die machtpolitische Selbstbehauptung Deutschlands im Krieg gegen den Rest der Welt und insbesondere gegen den Westen möglich werden ließ. Die Fronten im Weltbürgerkrieg deckten sich keineswegs immer mit den ideologischen Konfrontationslinien, auch wenn, wie Jäger bereits im Hakenkreuz-Buch andeutet, bestimmte Frontlinien immer wieder auftauchten. Einer möglichen Konstante in der Erzeugung dieser Frontlinien widmete Jäger die letzte seiner größeren Abhandlungen. Er stellte in Unterschied. Widerspruch. Krieg. die Frage nach einer »politischen Theologie jüdischer Intellektueller«. Das klingt nach einem spektakulären Vorhaben. Was zum Beispiel ein »jüdischer Intellektueller« sei, hat schon ungezählte Personen beschäftigt. Die gegebenen Antworten schließen sich teilweise gegenseitig aus. Ob seiner Prominenz ist hier Karl Marx ein gutes Beispiel, der familiär gesehen einen jüdischen Hintergrund hatte, dessen Vater sich allerdings bereits taufen ließ und der über das real existierende Judentum des 19. Jahrhunderts verächtliche Zeilen zu Papier brachte, bis hin zum Wunsch, die künftige Entwicklung möge diesem Judentum auf dem Weg der Revolution und der Weiterentwicklung der Gesellschaft ein Ende bereiten. Jäger zählt ihn dennoch zu den jüdischen Intellektuellen. Ein ähnlich gelagerter Fall ist der Sowjetrevolutionär Leo Trotzki. Ihn zählt Jäger ebenfalls unter die jüdischen Intellektuellen, obwohl von ihm gleichfalls brutale Aussagen zum gläubigen Judentum überliefert sind, darunter eine aus dem Jahr 1917, die man für unüberbietbar halten kann:
Ich kann nichts dafür, daß ich in einer jüdischen Haut geboren wurde. Die Arbeiter sind mir teurer als alle Juden. Und sollte sich herausstellen, daß zum Wohle der Menschheit ein Teil von ihr zugrunde gehen muß, dann hätte ich nichts dagegen, daß die Juden in Rußland dieser Teil sind.
Im Gesamtbild sind »jüdische Intellektuelle« für Jäger wie für viele andere ein Personenkreis mit engen verwandtschaftlichen Beziehungen zum Judentum und mit einer besonderen inhaltlichen Beziehung zum Judentum. Im Mittelpunkt dieser Interpretation des Judentums steht sowohl dessen weltgeschichtlich entscheidende Rolle als dauerhafter Maßstab für die Richtigkeit der Entwicklung, als auch das hier von Trotzki angesprochene »Wohl der Menschheit«. Dies wird gedacht als innerweltlicher Paradieszustand, der stets anzustreben ist, aber nie erreicht werden kann.
Als Konsequenz entsteht eine ewige, radikale Dynamik, die für das abstrakte »Wohl der Menscheit« die konkret existierenden Menschen und ihre Verhältnisse jeweils zu überwinden trachtet, bis hin zum gegenwärtigen »Transhumanismus«, der auch deren finale Überwindung durch Gentechnik und Künstliche Intelligenz befürwortet.
Ernst Nolte hat ähnliches einmal als das Phänomen der »Transzendenz« beschrieben. Der andere Denker, der dem Leser in diesem Zusammenhang in den Sinn kommt, ist Martin Heidegger, zumal nach der in den vergangenen beiden Jahren erfolgten Drucklegung der Heideggerschen Schwarzen Hefte mit ihrer Beschreibung des »planetarischen Krieges« als einer Auseinandersetzung mit der »Entfesselung der Technik« und der weltvernichtenden Dynamik, die für Heidegger nur durch das deutsche Volk gestoppt werden konnte. Lorenz Jäger sieht sich Noltes Denkansatz offenkundig verpflichtet, bringt diesen Inhalt allerdings mit einem Zitat von Gershom Scholem auf den Punkt:
Der jüdische Messianismus ist in seinem Ursprung und Wesen, und das kann gar nicht stark genug betont werden, eine Katastrophentheorie. Diese Theorie betont das revolutionäre, umstürzlerische Element im Übergang von jeder Gegenwart zur messianischen Zukunft.
Die Betonung dieser Behauptung im Rahmen einer Kurzgeschichte der europäischen Zeit seit 1789 liegt hier auf dem Wort »jeder«. Keine Gegenwart kann aus dieser Perspektive die endgültige, anerkennenswerte sein. Diese Aussage Scholems nimmt Jäger ausdrücklich als Ausgangspunkt seiner Darstellung:
Ich werde auf diesen Seiten Tendenzen schildern, die sich konsistent auf dieses revolutionäre Element beziehen lassen. Keineswegs ist damit gemeint, daß sich Juden mehrheitlich, stets und überall zu solchen Tendenzen bekannt hätten.
Zur Debatte steht also nicht das Judentum, sondern ein bestimmtes Bild vom Judentum, und zwar eines, das sich ein überschaubarer Personenkreis zurechtgelegt hat. Zur Klammer gehört auch, daß Jäger sich – mit manchmal durchscheinender Verärgerung – an Dingen abarbeitet, die zugleich ebenso unbezweifelbar richtig und wichtig sind, wie sie in den sogenannten Intellektuellendebatten der Bundesrepublik nicht nur »68« nicht, sondern auch vorher oder nachher nie wirklich vorgekommen sind. Den eigenen »Prägungen« durch dieses merkwürdig wirklichkeitsblinde Land hat Jäger den eingangs bereits erwähnten Beitrag gewidmet. Auch dort spielt Gershom Scholem eine wichtige Rolle. Jäger beschreibt eine Begegnung mit ihm aus dem Jahr 1980, die für ihn die erste Konfrontation mit dem ruhig-schroffen Selbstbewußtsein jüdischer Intellektualität und Überlieferung gewesen ist, diesem Selbstbewußtsein, das so gar nichts mit den Floskeln des gängigen »deutsch-jüdischen Dialogs« zu tun hat.
In diesem Zusammenhang erscheinen die Denkansätze der amerikanischen »Neocons« mit »jüdischem Hintergrund« erklärbar, wie überhaupt viele westliche Machbarkeitsphantasien über einen neuen, postmodernen, marktgerechten und nicht auf ethnische Identität, ja nicht einmal auf geschlechtliche oder sonstige Identität festgelegten Menschen aus diesem Milieu hervorgegangen sind. Jäger bringt zahlreiche Beispiele intellektueller Biographien, in denen sich moralisches Sendungsbewußtsein und wirtschaftliches Eigeninteresse mit Elitenarroganz verbunden und teilweise ein fließender Übergang zwischen trotzkistischen und radikalkapitalistischen Argumentationen stattgefunden hat.
Ergeben sich nun aus Jägers Abhandlungen neue Einsichten in die Ära des Weltbürgerkriegs und die europäische Geschichte seit 1789? Es sind auf jeden Fall bemerkenswerte Aspekte erkennbar geworden. Sie lassen die Zeit seit der Französischen Revolution auch als einen Religionskrieg erscheinen, als einen Konflikt, bei dem auf der einen Seite die Überzeugung von der Notwendigkeit der Überschreitung von Grenzen, der Auflösung und Zerstörung von gewordenen Strukturen, von der Rechtmäßigkeit eines egalitären Zeitalters als Ausdruck göttlichen Willens und als Ziel der Geschichte stand. Getragen wurde sie vom Sendungsbewußtsein kleinerer Gruppen, denen die jüdisch-ethnische Herkunft gemeinsam war, aber zugleich ein Sendungsbewußtsein, das neben anderen Beschränkungen auch die Beschränkung durch die jüdische Religion überwinden wollte.
Auf der anderen Seite trat dem vor 1945 ein religiöser Mythos entgegen, der ebenfalls mit einer ethnischen Herkunft verknüpft war, nämlich der deutschen, der aber wie auf der Gegenseite nur einen überschaubaren Teil seiner ethnischen Basis erfaßt hat. In bemerkenswerten Denkfiguren hat Jäger aufgezeigt, daß beide Seiten sich gegenseitig beeinflußten. Der Mythos vom »Hakenkreuz« als uraltem und mit Abstammung verbundenem Symbol leuchtete denjenigen ein, die sich eine ähnliche Interpretation des Judentums zurechtgelegt hatten, und umgekehrt griff der »arische Mythos« teilweise offen auf eben diese Interpretation des Judentums zurück und nahm sie als ein zu übertreffendes Vorbild.
Wie belastbar dies im Rahmen einer mit historisch-kritischen Methoden empirisch durchgeführten Prüfung sein wird, bleibt auszuloten. Es scheint einen Versuch wert zu sein, dieses Lot zu werfen.