Man sollte ihn kennen, diesen 500-Seiten-Roman Der Untertan, dessen erste reguläre Buchausgabe 1918 punktgenau zur Liquidation des deutschen Kaiserreichs auf den Markt kam und sofort kommerziell wie politisch zum Renner wurde. Nicht daß er, wie Tucholsky enthusiastisch schrieb, tatsächlich das »Herbarium des deutschen Mannes« enthielte oder gar die »Bibel des wilhelminischen Zeitalters«: eher deren klassische linke Karikatur. Aber gerade diese idealtypische Vorstellung von dem, was unter »Progressiven« an berechtigter Kritik wie billigen Klischees über Staat, Nation, Obrigkeits- wie Ständegesellschaft, bürgerliche Doppelmoral, wirtschaftliche Korruption, autoritäre Mentalität oder sexuelle Pathologien lustvoll kursiert, findet man kaum noch anderswo in solch geballter Konzentration.
Gezeigt wird das anhand des unappetitlichen Aufstiegs des geborenen Untertanen Diederich Heßling, der sich vom ängstlichen, durch Prügel gedemütigten Knaben speichelleckend, intrigierend und denunzierend in seiner Heimatstadt Netzig zum Firmenpatriarchen und ordensgeschmückten Kommunalpolitiker aufwirft. Und abgesehen vom alten Buck, einem ehemaligen 1848er, sind auch die anderen Netziger durchweg charakterlose, schwache oder sonstwie negativ gezeichnete Repräsentanten des wilhelminischen Bürgertums oder des korrupten und bornierten Adels.
Heinrich Mann hat den Roman mit polemischer Verve verfaßt. Darüber hinaus erklärt die Satire-Gattung manche Übertreibung und Verzerrung. Umso befremdlicher scheint mir, daß Teile der »Wissenschaft«, die seit der Inthronisation der 68er dergleichen Deutschland-Klischees favorisiert, den Satire-Charakter des Werks herunterspielen. Es gehe mehr noch um Realismus, prophetische Analysen und Prognosen.
Schauen wir uns daraufhin einmal den Romankosmos Netzig an, allen voran die Hauptfigur, jenen gemeingefährlichen, dabei von höchsten sittlichen Werten fabulierenden Heßling, der wie ein Groupie in Rom seinem Kaiser hinterherhechelt und dessen Phraseologie durch Wilhelm-Zitate in banalsten Zusammenhängen zusätzlich travestiert. Zunächst ein paar Sätze aus dem Eingangskapitel:
Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Wenn Diederich vom geliebten Märchenbuch aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen. Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. (…) Diederich war so beschaffen, daß (…) die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock. (…) Auch hinterbrachte er die Spitznamen der Lehrer und die aufrührerischen Reden, die gegen sie geführt worden waren. In seiner Stimme bebte, nun er sie wiederholte, noch etwas von dem wollüstigen Erschrecken, womit er sie, hinter gesenkten Lidern, angehört hatte. Denn er spürte, ward irgendwie an den Herrschenden gerüttelt, eine gewisse lasterhafte Befriedigung (…). Durch die Anzeige der anderen sühnte er die eigene sündhafte Regung.
Zusammengefaßt zeigt Diederich sich als skrupelloser Opportunist und Sykophant, ein durchweg feiger Phrasendrescher, der aus Schwäche zum überlebensgroßen Ekel und selbst als Tyrann noch nicht ganz ernstgenommen wird. Er ist fett, wie Wilhelm II. ohrleidend, darüber hinaus bigott, verklemmt, bildungsfeindlich, banausisch, hält den Wurstladen für höchste Kultur, legt im Bahnabteil seine Füße auf die Bank, furzt und benimmt sich im Gegensatz zu seinen burschenschaftlichen Etiketteregeln (Frauen gegenüber) wie ein Flegel. Obwohl er von militärischer Stärke schwadroniert, simuliert er den Fußkranken und drückt sich so vor dem weiteren Dienst in der Armee. Seine Ablehnung der Heirat mit Agnes unter Verweis auf deren von ihm selbst verursachten Ehemakel ist eine zynische Höchstleistung, desgleichen sein Komplott mit dem SPD-Mann Napoleon Fischer zu Lasten einer in seinem Werk verstümmelten Arbeiterin. Ein Majestätsbeleidigungsprozess erweist sein perfides Denunziationstalent. Ein Totgeschossener bei einer Demonstration verschafft ihm erhebende Gefühle – und was dergleichen Monstrositäten mehr sind. Seine tiefe Machtanbetung belegen selbst kurzfristige Ansätze zum Aufbegehren, als ihn adlige Vertreter der Staatselite wie eine lästige Fliege behandeln. Doch dann knickt er innerlich wieder ein: »Diederich freute sich, trotz allem, des frischen und ritterlichen jungen Of ziers. ›Den macht uns niemand nach‹, stellte er fest.«
Dazu kommen Slapstick-Details: Er fällt in seiner Tapsigkeit ständig in Tümpel und Schmutzlachen, heult bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie ein Schloßhund, hat Angst beim Pinseln seines Rachens, was zu seiner Mensurtauglichkeit wenig passen will, beansprucht das beste Essen für sich allein und wirft seinen Kindern davon zuweilen nur Brocken hin. Der Haustyrann, der seine Frau ärztlich im Stich läßt und sich eine Edelnutte hält, kriecht nachts vor der am Tage Kujonierten sexualmasochistisch am Boden herum, usw. usf. Ein bißchen viel für eine – angeblich nur teilsatirische – psychologische oder soziale Studie!
Oder enthält der Text gar eine ganz andere Dimension? Hier ist leider nicht der Raum, detailliert zu belegen, in welchem Ausmaß Autobiographisches in die Heßling-Darstellung eingeflossen ist, ob bewußt oder unbewußt sei dahingestellt. Denn man mißtraue der allzu harmonischen Heinrich-Mann-Legende germanistischer Hagiographen, Der Untertan kröne seine konsequente Entwicklung vom volksfernen Dandy zum Verkünder der Freiheit, individuellen Souveränität und sozialen Verantwortung. Vielmehr kennzeichnen seine Vita von der antibürgerlich-verträumten Jugend über die Herausgeberschaft der nationalistisch-antisemitischen Zeitschrift Das zwanzigste Jahrhundert bis zur Revolutionsverklärung und derjenigen übermächtiger politischer Führer, zu denen später vor allem Stalin gehörte, auffallende Kontinuitäten, die manches vom Untertan haben (vgl. G. Scholdt: Autoren über Hitler, Bonn 1993, S. 796ff). Er selbst hatte schließlich eingestanden: »Gute Satiren schrieb nie jemand, er hätte denn irgendeine Zugehörigkeit gehabt, zu dem, was er dem Gelächter preisgab: ein Apostat oder ein Nichteingelassener. In Satiren ist Neid oder Ekel, aber immer ein gehässiges Gemeinschaftsgefühl.«
Doch erörtern wir hier vornehmlich des Autors Anspruch, mit seinem Roman einen repräsentativen Epochentypus gezeichnet zu haben. Schließlich lautet der Untertitel immerhin: »Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.«. In diesem Sinne wird Netzig ja auch fast durchweg von kleinen Heßlings bevölkert. Und wer selbst nicht zu den intrigierenden Prothaien gehört, erscheint als schwach, absterbend oder vom Zeitgeist angekränkelt. Solcher gegnerische Standpunkte disquali zierender Pauschalität verdankt Heinrich Mann zwar den stürmischen Applaus zahlreicher Zeitgenossen, aber auch heftige Kritik von Männern wie Hermann Hesse, Otto Flake oder Theodor Heuß, vom nationalen Lager ganz abgesehen, dem damals bekanntlich noch Thomas Mann angehörte. Der etwa nannte seinen Bruder, durch zornige Rivalität zusätzlich stimuliert, in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen den »größten aller radikalen Narren« und einen sozialkritischen Expressionisten »ohne Impression, Verantwortlichkeit und Gewissen, der Unternehmer schilderte, die es nicht gibt, Arbeiter, die es nicht gibt, soziale ›Zustände‹, die es allenfalls ums Jahr 1850 in England gegeben haben mag, und der aus solchen Ingredienzien seine hetzerisch-liebenden Mordgeschichten zusammenbraute«.
Nehmen wir solche Breitseite zum Anlaß, uns mit dem Geschichtsbild des Untertan etwas näher zu befassen. Ohnehin scheint es an der Zeit, sich von der interessengetränkten Dämonisierung der Wilhelminischen Epoche zu verabschieden.
Schon vor Jahrzehnten hat sich der Historiker Thomas Nipperdey (unter erwartbarem Protest von Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler) gegen die simplifizierende Annahme ausgesprochen, in dieser Ära schlicht eine »Untertanen-Gesellschaft« wahrzunehmen. Aller Obrigkeitsorientierung und allen Feudalrelikten und ‑vorrechten zum Trotz sei sie eher eine durchlässige Bürgergesellschaft gewesen, basierend auf Rechtsstaatlichkeit und Leistungsprinzip. Von einem einheitlichen Bürgertum könne man ohnehin nicht sprechen. Vielmehr gab es starke konfessionelle und regionale Differenzen, insbesondere ein Ost-West-Gefälle. Die politische Entwicklung lief dabei auf volle Parlamentarisierung hinaus. Entscheidungen seien zunehmend im Reichstag gefällt worden. Auch zahlreiche Reformbewegungen tendierten zur Modernisierung.
Wilhelm II. war übrigens keineswegs das unumstrittene Idol des Bürgertums, sondern teils heftiger Kritik ausgesetzt. Ludwig Quiddes ihn bissig verschlüsselnde Studie Caligula erzielte die Verkaufsauflage von einer halben Million. Auch die Mentalität jener Epoche als bloße Dekoration für Geschäftemacherei trifft in der Breite kaum zu. Der gewiß zuweilen übertriebene Respekt vor den Säulen eines Reichs, das erst eine Generation zuvor geschaffen worden war, war zu einem beträchtlichen Teil fundiert, desgleichen die erbrachte Loyalität gegenüber einer Obrigkeit, die das zugegebenermaßen verschiedentlich ausnutzte.
Die Gründe für dieses unverkennbare Gemeinschaftsgefühl waren jenseits von Schlachtenruhm und Militärgesinnung mindestens ebenso spektakuläre wissenschaftliche, technische, wirtschaftliche, verwaltungsmäßige und kulturelle Spitzenleistungen. Man denke etwa an Firmengründer und Reeder wie Siemens oder Ballin, an Forscher wie Planck, Hahn, Haber, Bosch, Virchow oder Mommsen. Diese auch im Weltmaßstab imponierende Bilanz war nur möglich bei einer gewissen Liberalität, die aller Majestätsschutzparagraphen und offiziellen Prüderie zum Trotz übrigens auch literarische Freiheitsräume gewährte, die gewiß nicht geringer waren als diejenigen, die uns heute die sogenannte politische Korrektheit zumißt.
Wenn das aktuell meist anders gesehen wird, sollte man immerhin zur Kenntnis nehmen, welches oppositionelle Potential in Werken von Gerhart Hauptmann, Carl Sternheim, dem Simplicissimus, Ludwig Thoma oder Stefan George steckte. Allein die Tatsache, daß ein Roman wie Der Untertan in dieser Zeit geschrieben wurde und erscheinen konnte, relativiert das Schreckbild vom autokratischen Wilhelminismus ein wenig. Und was Sexualtabus betrifft, nehme man zur Kenntnis, daß auch Frankreich, Italien, Großbritannien oder gar die USA gewiß keine zensurlosen Gesellschaften waren.
Zudem wäre zu fragen: Wie typisch ist eigentlich ein Heßling, der seinen Schiller verkauft? War Wilhelminismus nicht eher das Prunken mit Schiller-Zitaten, auf den sich selbst größte Banausen beriefen? Ist der Drückeberger beim Militär tatsächlich ein verbreiteter Zeittypus oder wären das nicht vielmehr Figuren z.B. in Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick? Unteroffizier Hoprecht etwa oder der Bürgermeister als Reserveleutnant, von Hauptmann Schlettow ganz zu schweigen? Ist es also der Hochstapler oder der in Stolz Überzeugte, der Idealist oder der Korrupte, der letztlich die offiziellen Phrasen nur zum Geschäft benutzt? Wer später in patriotischen Aufwallungen als Kriegsfreiwilliger sein Leben oder daheim »Gold für Eisen« gab, vertrat der den Wilhelminismus nicht viel charakteristischer? Hier sind zumindest auch andere literarische Zeitzeugen und deren Figuren zu befragen: etwa Fontanes Instetten (Effi Briest) oder Brochs Pasenow (Die Schlafwandler).
Es sind solche Ungereimtheiten, die mich jahrzehntelang hinderten, Heinrich Manns zweifellos gezeigte satirische Begabung zu goutieren, der sich immerhin mit beachtlicher Konfrontationsbereitschaft einem sozialen Erzübel angenommen hatte. Ich wehrte mich dagegen, Heßling als repräsentativen Deutschen anzuerkennen. Zu sehr entsprach er der antigermanischen Karikatur linksrevolutionärer Opponenten und derjenigen alliierter Kriegsgegner. Zu sehr war eine Epoche auf ein Zerrbild reduziert worden. Zu deutlich erkannte ich die jeweils aktuelle (partei-)politische Absicht hinter solchem Angriff, seine nicht ganz saubere Instrumentalisierung. Aber ich kann die Einsicht nicht länger zurückdrängen, daß hier gleichwohl, wie vergröbert auch immer, ein bedeutsamer Vertreter unseres Volkscharakters präsentiert und seziert wird: der ewige Untertan und sein siamesischer Zwilling, der ewige Denunziant. Diesen Typus im Kern herauspräpariert zu haben, bleibt bei aller Eindimensionalität Manns Verdienst.
Die Spezies Heßling ergibt sicherlich kein dokumentarisches Spiegelbild des Kaiserreichs, sondern lediglich eines ihrer besonders widerwärtigen Vertreter. Und Der Untertan ist auch nicht schlechthin – wie heutzutage so eilfertig wie pauschal unterstellt – ein hellsichtiger Vorgriff auf den Nationalsozialismus. Immerhin zeigt er einen gerade in solchen Herrschaftssystemen virulent gewordenen servilen Beförderer des Zeitgeists. Und er zeigt noch mehr. Denn er ist kein bloßer Epochen‑, sondern eher ein überzeitlicher Charaktertypus, der sich in Umbruchs- und Krisenzeiten besonders wirksam inszeniert. Heute nicht weniger als vor hundert Jahren.
Jeder kann ihn gegenwärtig geradezu täglich am Werk sehen, sofern er ihn nicht dort sucht, wo er groteskerweise vom Mainstream verortet wird: bei irgendwelchen wirklichen oder imaginären »Rechten«. Dort ist er nämlich gewiß nicht, weil ein Untertan ständig bei den jeweiligen Siegern der Geschichte weilt – also ständig oben und nach unten tretend. Er verkörpert stets die gerade verkündete Staatsgesinnung, sei es Kaisertreue, Nationalismus und »schimmernde Wehr«, sei es »wehrhafte Demokratie«, Pazifismus, identifikationsloses Aufgehen in globalen oder europäischen Organisationsformen oder durch Bevölkerungsaustausch. Er votiert je nach Stimmungslage für Denkmalbau oder ‑sturz, Judenhatz oder Judenverklärung, für oder gegen Toleranz, wobei der Unterschied nicht groß ist, weil gerade seine Unterstützung eines solchen Projekts stets auf Verfolgung hinausläuft.
Die Lektüre des Untertan war ein Muß bei jenen 68ern, die angeblich erstmals »Demokratie wagten« und im Endeffekt vor allem Führungspositionen für ihre Clique erstritten, bis hin zu den »Aufgeklärten«, die mit Inbrunst am kommunistischen Personenkult partizipierten, Mao-Bibeln kauften oder für »Ho-Ho-Ho-Chi-Minh« demonstrierten. Und sie traten damit ja nur in die Fußstapfen ihrer Vorbilder aus den 1920er bis 1940er Jahren, jener heutigen republikanischen Idole wie Brecht, Feuchtwanger, Bloch oder Anna Seghers, nach denen hier Straßen und Preise benannt sind, obwohl sie seinerzeit ihren Kotau vor blutigen Parteidogmen verrichteten. Insofern darf es als historischer Treppenwitz gelten, daß dieses Buch ausgerechnet in der DDR Pflichtlektüre war, was sich im Stoffplan dann folgendermaßen niederschlug:
Die Schüler erleben an der Gestalt des Diederich Heßling, welche Folgen die Untertanenerziehung für die Entwicklung des einzelnen Bürgers hatte und welchem Zweck diese Erziehung diente. Sie erfassen, daß sich die Macht imperialistischer Staaten auf diesen Typ des Bürgers gründet, der durch bedenkenlose Unterordnung zum willfährigen Objekt der Machtpolitik wird.
Aber sprechen wir nicht nur über die ehemalige DDR, sondern über die gesamte Republik, wo die Praxis mittlerweile so aussieht, daß schon Schüler aufgefordert werden, sich an jener Art Demokratisierung zu beteiligen, die auf Mehrheitsdiktatur hinausläuft und politische Abweichung bereits als halbkriminell bekämpft. Selbst ethnische oder geschlechtlich unerwünschte Witze sollen gemeldet werden, und V‑Männer tauchen bei Sportveranstaltungen auf, um jedes unfeine Gespräch zu belauschen, von regierungsamtlichen Denunziationsplattformen ganz abgesehen.
Mit Stasi-Methoden hat das natürlich gar nichts zu tun. Denn wir alle wollen ja nur »das Gute«. Und für derartige Prävention finden Tugendwächter stets beste Gründe, von Ministern bis zum Staatsfunk, die gegen Pegida, AfD oder jedwede nennenswerten Patrioten klotzen, als stünde ein Staatsstreich unmittelbar bevor. Daß dabei das Ganze aus dem Ruder läuft, nimmt man in Kauf. Es ist das Maßlose dieses (Um-)Erziehungswahns, das erschreckt, der vorauseilende Gehorsam, die streberhafte Übererfüllung der (vermeintlichen) sittlichen Norm, sei es in Sachen Klimaschutz, Genderwahn, Vergangenheitsbewältigung, Multikulturalismus, egalitäre Bildung, Inklusion, Willkommenskultur undsoweiter. Und so jubeln sie denn den Goldhagen, Asylanten oder Scheinasylanten zu oder ändern flächendeckend Straßenschilder mit einem Eifer, als gelte es, Kinder aus den Händen von Mördern zu befreien, umwinden wie Diederich Heßling den volkspädagogischen Rohrstock mit Kränzen.
Genug, dieser Typus, zusammengesetzt aus Feigheit und Militanz, Masochismus und Herrschsucht, existiert, wenn auch vermutlich bei nicht mehr als zehn Prozent der Bevölkerung. Er ist dennoch ausgesprochen gefährlich. Haben wir doch inzwischen schmerzlich erlebt, welchen Einfluß eine entschlossene Gruppe ausüben kann, die sich konsequent der Machtnetzwerke oder Ressentiments bedient. Auf steten Zuzug aus dem akademischen Lumpenproletariat darf sie ohnehin rechnen. Es sind Fanatiker, aber – hier stimmt einmal Heinrich Manns Analyse – gerade nicht aus unerschütterlicher Überzeugung oder Erfahrung. Haben sie doch ihre jeweilige Position frühestens eine Sekunde nach dem Gesinnungsumschwung der Mehrheit eingenommen. Sie hätten genauso gut auf der anderen Seite stehen können, gemäß Klonovskys Sarkasmus: »Mit demselben Eifer wie am Holocaust beteiligte sich Diederich Heßling am Bau des Holocaust-Mahnmals.«
Gerade diese innere Unsicherheit macht sie unfähig zu akzeptieren, daß eine lebendige Gemeinschaft von Widersprüchen und unterschiedlichen Interessen geprägt ist, daß damit jeder Kurs der Regierung oder eines Systems erwartungsgemäß Gegner hat, daß, wo alle einer Meinung sind, in der Tat meist gelogen oder unterdrückt wird. Doch das erträgt er nicht, dieser nationale, soziale, europäische, globale, ethnische oder geschlechtliche Platt- und Gleichmacher. Jede Alternative, jede konservative oder wirklich liberale »Rückständigkeit« stellt schließlich seinen Standpunkt in Frage. Also diffamiert und diskriminiert er und genießt die Verfolgung anderer als Bestätigung seines angeblich richtigen Lebensentwurfs. Selbst ohne echte Glaubensbasis, eher ein Gejagter, treibt dieser jetzt 150-Prozentige, spät Dazugestoßene andere unermüdlich zu Übertreibung und Radikalisierung. Er besudelt und verleumdet Unangepaßte, dringt in deren Netze ein, streut digitale und ideelle Viren, stets dienstbereit, wenn es gilt, Abweichler zu fassen. »Ick bün all hier« lautet seine Devise bei dergleichen Schurkereien.
Kurz: Diese Sorte Mensch lebt auch heute mitten unter uns, als Teil jener mentalitätsprägenden Schicht und »Elite«, der die Mehrheit leider nicht das Handwerk legt, weshalb diese nicht ganz zu Unrecht im Kollektiv mithaftet. Mit seinem opportunistischen Aktivitätsdrang wirkt dieser Typ als Brandbeschleuniger. Und angesichts des sozialhygienischen Schadens, den er anrichtet, sollten wir ihn mal etwas näher ins Auge fassen, statt unsere Aufmerksamkeit ständig auf vergangene Sünden zu konzentrieren. Denn vielleicht war es nicht gänzlich übertrieben, daß der sterbende Buck mit seinem schreckhaften Blick auf Diederich Heßling zur Erkenntnis kam, er habe »den Teufel gesehen!«.