Im Spätsommer 2015 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer Asylpolitik das Recht suspendiert, seither regiert sie im Modus des Ausnahmezustandes. Dies ist ein Zeichen besonderer Macht. Nicht jeder Regierungschef kann sich so etwas erlauben. Die Machtausübung im Ausnahmezustand funktioniert allerdings nur, wenn man die öffentliche Meinung im Griff hat. Aus diesem Grund sind die Vorfälle in Köln und anderen Städten so bedeutsam: Deutschland könnte nun »auf der Kippe« stehen, wie der Spiegel im Januar titelte.
An sich ist das Regieren im Ausnahmezustand für Angela Merkel und die Bundesrepublik Deutschland nichts Neues. Schon in der Weltfinanzkrise, nach Fukushima und in der Euro-Rettung herrschte der permanente Ausnahmezustand. Das Recht fungiert schon lange nicht mehr als Schranke, sondern als Taxi, und bringt die Kanzlerin ohne Rücksicht auf Gesetze an ihr Ziel.
Im Gegensatz zur Vorstellung von Carl Schmitt, wonach der Staat das Recht aus Selbsterhaltungsgründen suspendiert, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, verhält es sich bei Merkel andersherum: Sie hat mit ihrer einsamen Entscheidung Chaos angerichtet, das sie nun mit Hilfe eines Konjunkturprogrammes für die deutsche Sozial- und Integrationsindustrie beheben will. Was Merkel also mit ihrem Alleingang erhalten und schützen wollte, waren weder das eigene Volk noch der eigene Staat. Vielmehr ging es darum, die linksliberale Gutmenschenideologie der bundesrepublikanischen Elite zu retten.
Offene Grenzen, unkontrollierte Einwanderung, der Glaube an die Integration und die Möglichkeit einer europäischen Solidarität in allen Fragen zählen zu den Selbstverständlichkeiten des Establishments. Ihre Richtigkeit wird vorausgesetzt, weshalb alle Maßnahmen zur Umsetzung dieser Ziele als legitim erscheinen. Da die Medien die politische Klasse nicht kontrollieren, sondern Teil des Establishments sind, wurde der permanente Ausnahmezustand auch bisher lediglich in den Nischen der Gesellschaft hinterfragt. Merkel fiel es deshalb wahrscheinlich sehr leicht, das Recht zu suspendieren, weil sie das Fernsehen und die großen Zeitungen auf ihrer Seite wußte. Hinzu kommt die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, das in den letzten Jahrzehnten im entscheidenden Moment niemals den Mut hatte, der Exekutive Schranken aufzuzeigen.
Für die Machthaber besteht in einer solchen Situation nur eine große Gefahr. Sie sind extrem abhängig von der öffentlichen Meinung, weil sie sich nicht mehr auf die Legalität und Normalität ihres Handelns berufen können, sondern die Bürger anders – und zwar meist moralisch – überzeugen müssen. Solange es also gelingt, die öffentliche Meinung über die treuergebenen Medien unter Kontrolle zu halten und zu suggerieren, man müsse ja in einer Ausnahmesituation das Notwendige und Gute tun dürfen, befindet sich die Regierung auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Sobald jedoch das öffentliche Vertrauen zusammenbricht, ist sie am Ende.
Daß es dazu in Deutschland kommen werde, ist auch nach Köln noch äußerst unwahrscheinlich, denn alle – die Regierung, die Opposition im Bundestag, die Medien und die Gerichte – sitzen im selben Boot. Niemand kann daher die Frage, was nach Merkel kommen solle, überzeugend beantworten. Nirgends ist jemand in Sicht, dem das Volk zutraute, eine bessere, nämlich eine auf das Wohl des deutschen Volkes ausgerichtete Kanzlerschaft auszuüben.
Doch trotz dieses Vakuums steht seit den sexuellen Übergriffen durch Nordafrikaner, Araber und übrigens auch einige Syrer in der Silvesternacht etwas »auf der Kippe«. In der Titelgeschichte des Spiegels vom 9. Januar heißt es, Merkel werde mit ihrem Kurs nicht mehr »sehr weit kommen« und müsse endlich mit ihrer Phrasendrescherei aufhören. Dies schlußfolgert der Spiegel allerdings nicht etwa nach einer gründlichen Analyse der Lage. Die Bemerkung steht vielmehr mitten im Text, und sogar ziemlich am Anfang, als eine gefühlsmäßige Einsicht. Auffallend ist aber, daß die 21 Autoren, die an der Titelgeschichte mitgearbeitet haben, keine Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Geschehen in Köln und den Folgen für Deutschland anbieten können. Obwohl es überhaupt nichts mit dem eigentlichen Thema der erschütternden Ausländergewalt zu tun hat, begnügen sie sich damit, noch einmal aufzuzählen, wer definitiv »böse« sei und wem man keinesfalls vertrauen dürfe. Der Spiegel macht also auch diesmal (Negativ-)Werbung für PI News, die AfD, Björn Höcke, die Sezession und Blaue Narzisse.
Beschreiben läßt sich all dies als der hilflose Versuch, die eigene linksliberale Ideologie durch die Verfestigung eines Feindbildes zu kräftigen. Dies geschieht in einem Moment, in dem durch den Einbruch der Realität die eigenen Überzeugungen widerlegt wurden – wie schon so oft übrigens. Sowohl der Spiegel als auch die Kanzlerin versuchen darauf nun außerdem mit einer Doppelstrategie zu reagieren: Einerseits ist auf einmal jeder der Ansicht, kriminelle Ausländer müßten schneller ausgewiesen und abgeschoben werden. Ein bißchen »Law and Order« will das Volk schließlich in solchen Situationen hören. Andererseits kommt das Establishment aus dem Gefängnis der eigenen Ideologie nicht heraus und will nun noch intensiver den Neuankömmlingen ihre Machokultur abtrainieren und sie integrieren.
Daß ein einfaches Feindbild, Merkels »Härte des Rechtsstaates« sowie einige weitere Milliarden Euro für die Integration ausreichen könnten, um den Machterhalt für die politisch-mediale Klasse zu sichern, ist dabei aufgrund der Lethargie der Massen nicht ausgeschlossen. Es darf aber gerade zum jetzigen Zeitpunkt auch einmal optimistisch bezweifelt werden, denn die Willkommensbegeisterung der Deutschen, die die Entscheidung für den Asyl-Ausnahmezustand erst ermöglichte, ist mit Köln endgültig verflogen.
Das Establishment wird nun die Grenzen der Moral kennenlernen. »Das Moralische versteht sich von selbst«, schrieb 1879 der Philosoph Friedrich Theodor Vischer in einem Roman. Er meinte damit, daß wir intuitiv erkennen, welche Taten als »gut« und welche als »böse« anzusehen seien. Toleranz, freiwilliges Helfen und das eigene Bemühen um ein friedliches Zusammenleben stünden eindeutig auf der Seite des »Guten«. Etwas als »gut« zu empfinden, heiße aber noch lange nicht, daß wir in der Lage seien, es auch zu tun. Innere und äußere Umstände würden uns immer wieder davon abhalten.
Noch viel gravierender ist jedoch das Problem der Reichweite der Moral. Der Schriftsteller Bernhard Schlink betont dazu: »Gesellschaften werden ihre Mitglieder immer wieder dadurch aneinander binden, daß sie Aggressionen gegen die Fremden, die Anderen richten und dies durch eine Moral rechtfertigen, die Grenzen zieht.« Der Mensch sei zwar auf Koordination und Kooperation aus, »aber es sind Koordination und Kooperation im Verband«. Jeder trotzige Versuch, eine grenzenlose Moral zu etablieren, ende deshalb immer mit einem Sisyphos-Dasein.
Welche Schäden das Zurückrollen des Steines dabei anrichten wird, mag den meisten als die entscheidende Frage erscheinen, und Sezession hat das häufig genug beschrieben und prognostiziert. In bezug auf die öffentliche Meinung und den Machterhalt der politisch-medialen Klasse geht es dagegen zunächst um etwas anderes: Wenn für jeden wahrnehmbar ist, daß der Stein zurückrollt und alles hypermoralische Bemühen umsonst war, wird die Stimmung in einer Art und Weise kippen, die Umfragen absolut überflüssig macht.