insbesondere von ihren Renegaten. Sie ist, da sie die Etikette der öffentlichen Rede mittlerweile vollständig bestimmt, ja auch längst nicht mehr zu ignorieren. Trotzdem blieb es bislang bei phänomenologischen Betrachtungen zu Lebenswelt und Konsumgewohnheiten. Stichwörter wie »Bionade-Biedermeier« oder »Latte-Macchiato-Mütter« nehmen Bezug auf harmlose, prima vista nicht unsympathische und politisch jedenfalls nicht bewertbare Phänomene. Das Problem liegt indessen auf einer völlig anderen Ebene als der einer ästhetischen Konsum- und Stilkritik der »feinen Unterschiede«, denn für die Linke – nicht als Partei, sondern als politisches Lager – ist Heuchelei konstitutiv.
Jenseits persönlicher Laster und individueller Handlungen bildet sie ein unhintergehbares Grundelement linken Denkens. Dies gilt keineswegs nur für die »klassische Linke«. Entgegen dem oberflächlichen Eindruck ist die Kontinuität zwischen klassisch linken »harten« und linksliberalgrünen »weichen« Positionen ungebrochen. (Und wenn hier von »der Linken« gesprochen wird, ist immer dieser gesamte Diskurskomplex angesprochen.) Die philosophische Postmoderne, die zunächst als Kritik an marxistischen Einheitsvorstellungen wie Subjekt der Geschichte etc. daherkam und von vielen Altmarxisten als Verherrlichung der Markwirtschaft aufgefaßt wurde (man denke an Fukuyamas Ende der Geschichte, das den weltweiten Sieg liberaler Systeme prophezeite), hat zentrale Motive linken Denkens mit bisher ungekannter Effizienz in die Gesellschaft implantiert. Je weniger die theoretischen Aporien des Marxismus sich leugnen ließen, desto mehr schoben sich die an ihn anschließbaren emotionalen Momente in den Vordergrund, um schließlich aus dem postmodernistischen Diskurswirbel als dominant hervorzugehen. Die Linke ist als beherrschende geisteshistorische Formation nie abgelöst, sondern im Gegenteil erst durch ihre Transformation in die »weiche« Postmoderne hegemonial geworden – zwar wähnte Niklas Luhmann schon 1983, bei Gelegenheit eines Panoramablicks über die soziologische Theorielandschaft, eine »Landschaft mit den erloschenen Vulkanen des Marxismus« (Soziale Systeme, 13) zu überfliegen und mag, was die erloschene Produktivität der Theorie betrifft, im Recht gewesen sein. Der Höhepunkt der eigentlichen Herrschaft der Linken über die Medien und damit die öffentliche Meinung stand jedoch erst noch bevor. Diese Linke und besonders der aktuelle politisch korrekte Linksliberalismus leidet an flächendeckender Heuchelei, was doppelt ironisch ist, wenn man bedenkt, daß eine der Lieblingsphrasen schon der älteren Linken, aber speziell der 68er lautete, einem »heuchlerischen Bürgertum« »die Maske abreißen« zu wollen.
Unhintergehbar ist die Heuchelei auf der Linken aus drei Gründen. Erstens, da sie aus einer verfehlten Anthropologie erwächst: Die vom linken Mainstream übernommene vulgär-rousseauistische Vorstellung vom »guten« und »unterdrückten« Menschen (die sich so bei Marx nicht findet) scheitert immer wieder neu an der Realität einer gänzlich anderen anthropologischen Verfaßtheit, die weder in Moral aufgeht noch in deren Gegenteil. In der »Flüchtlingskrise« ist zu besichtigen, wie sich dieses »Güte-Dogma« auswirkt, nämlich in einer Spirale, die von gezielter Desinformation zur Verunglimpfung von Kritikern zur Legitimierung von Gewalt gegen diese führt. Zweitens wird sie fortlaufend von einem Geschichtsdenken erzeugt, das durch die Vorstellung eines unbegrenzten Fortschritts an Rechten und sozialer Teilhabe gekennzeichnet ist, der für die klassische Linke schließlich in einem utopischen Zustand zum Stillstand kommt. Die Utopie spielte hier bekanntlich die Rolle der zentralen Entlastungsinstanz – jedes Verbrechen konnte vorteilhaft unter der Rubrik eines historischen »leider noch notwendig« abgeschrieben werden. Stellte man dann fest, daß z.B. die Ausrottung der Kulaken das Heranrücken des »Reichs der Freiheit« verblüffenderweise nicht befördert hatte, so handelte es sich um einen unvermeidlichen Kollateralschaden auf dem großen Weg zum Menschheitsglück nach dem Motto: »Wo gehobelt wird, fallen Späne.« Exakt diesem Muster folgen auch nach der postmodernen Eliminierung fnalisierter Geschichtsphilosophie jene Zeitgenossen, die die Verbrechen an Einheimischen als vernachlässigbaren Nebeneffekt einer vermeintlich »humanen« und damit »alternativlosen« Zuwanderungspolitik begreifen. Das utopische Ziel hat sich vom klassenlosen Staat zur multikulturellen Weltgesellschaft verschoben, die Marginalisierung und Instrumentalisierung von Opfern bleibt dieselbe.
Drittens ist das konsequent linke Denken (mit Ausnahme seiner deterministischen Variante, die moralisches Handeln im wesentlichen für überflüssig hält) der rigoroseste vorstellbare Moralismus. Überforderung des Subjekts ist seine Signatur. Dessen wirtschaftliche und im Extremfall selbst physische Selbsterhaltung wird kriminalisiert. Das Opfer des Individuums für die Arbeiterklasse ist im phantasmatischen Universum des Linksliberalismus mutiert zu der mittlerweile unverhohlenen Forderung an Deutsche, Europäer, Amerikaner, sie mögen zugunsten der »Dritten Welt« die akute Gefährdung ihres Wohlstands, ihrer Kultur und ihrer Sicherheit nicht nur in Kauf nehmen, sondern aktiv herbeiführen, kurz: kollektiven Selbstmord begehen (»Asyl für alle!«). Die Anzahl der kommunistischen Funktionäre, die sich für das Wohl der Arbeiterklasse aufgeopfert hat, dürfte überschaubar sein. Die Anzahl der linksgrünen Hypermoralisten jenseits der Pubertät, die ihren Forderungen an andere eigene Taten folgen lassen, ist noch überschaubarer, und zwar nicht nur in absoluten Zahlen. (Ich übergehe hier den beliebten Hinweis, wonach bislang, soweit bekannt, weder Claudia Roth aus ihrer türkischen noch Joschka Fischer aus seiner Berliner Villa eine Heimstatt für syrische Flüchtlinge gemacht hätten.) Mit Hinblick auf diese Klientel wäre Carl Schmitts »Wer Menschheit sagt, will betrügen« zu ergänzen durch »Wer Menschheit sagt, will sich selbst betrügen.« Insofern ist der typische Linksgrüne als Tartuffe eine Fehlbesetzung: Molières Held ist ein Heuchler, der gerade an seiner Duplizität scheitert: er hat, was er vorspielt, noch nicht hinreichend verinnerlicht. Balzac beschrieb diesen Typ im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bereits als »Tartuffe de nôtre temps, le Tartuffe-Démocrate-Philanthrope«. Der eben genannte Politikertypus des Überzeugungstäters, dem ganz nebenbei seine humanistische Überzeugung zum Karrierevorteil ausschlägt, läßt sich besser über den folgenden Aphorismus Nietzsches aus der »Götzendämmerung« erfassen: »Wenn nämlich ein Glaube nützlicher, wirkungsvoller, überzeugender ist, als die bewußte Heuchelei, so wird, aus Instinkt, die Heuchelei alsbald zur Unschuld: erster Satz zum Verständnis großer Heiliger.«
Alle drei Elemente – idealisierende Anthropologie, idealzustandsfxiertes Geschichtsdenken und insbesondere ein totalitärer Moralismus – produzieren zwangsläufg hypokrite Haltungen: Das linke Denken ist der Heuchelei so eng verwandt, weil es sich weder eingestehen kann, daß das Paradies auf Erden nicht herstellbar ist, noch imstande ist, diese Wahrheit vollkommen zu verdrängen. Es bildet damit ein exemplarisches Beispiel jener Haltung, die die Existenzialisten »mauvaise foi« nannten. Die Realität auf Distanz zu halten – »eine Armlänge Abstand« – ist anstrengend, und das erklärt die tendenziell mörderische Aggression gegen Zweifler, Abweichler und Andersdenkende, die zur Zeit das Land durchtobt. Wäre das nur ein individualpsychologisches Problem, könnte man es auf sich beruhen lassen. Ein Diskurs ist jedoch immer auch eine Praxis: die Linke hat erfolgreich eine massenhafte Disposition zur Introjektion ihrer Glaubenssätze erzeugt, an denen offenbar umso verbissener festgehalten wird, je erkennbarer sie der Realität widersprechen. Insofern ist die Aussage von Nicolaus Fest in der Jungen Freiheit (4/2016) gerechtfertigt, die Flüchtlingskrise verweise auf ein generelles Mentalitätsproblem: es war offenbar zunächst in der Tat eine Mehrheit der Deutschen, die sich nicht entblödete, den Kurs der Kanzlerin gutzuheißen, obwohl man keinerlei arkane Erkenntnis benötigte, um den Ausgang abzusehen.
Die eigentliche Tragödie, die sich daraus ergibt, ist aber, daß diese Haltung der Selbsttäuschung dazu zwingt, eigenes Unrecht entweder zu leugnen oder zu rechtfertigen. Das große Ziel rechtfertigt die (immer wiederholte) Unterdrückung der Pressefreiheit (Lenins erster Akt, nachdem er an die Macht gekommen war), die Diffamierung politischer Gegner inklusive Existenzvernichtung, und, im gegenwärtigen Fall, den Rechtsbruch, die Ausbeutung, Diskriminierung und Gefährdung des eigenen Staatsvolks zugunsten illegaler Einwanderer aus einer aggressiv expandierenden Fremdkultur. Die Heuchelei vor sich selbst geht an dieser Stelle nahtlos in die Heuchelei im konventionellen Sinne über: die Kölner Oberbürgermeisterin wußte laut Welt und Focus längst Bescheid über die Beteiligung von Flüchtlingen an den Kölner Übergriffen, als sie noch lauthals dekretierte, allein der Versuch, einen solchen Zusammenhang herzustellen, sei illegitim. Der Zusammenhang von Heuchelei und Hypermoralismus bedarf angesichts dieses Beispiels, dem sich zur Zeit leider viele andere an die Seite stellen ließen, keiner weiteren Erläuterung. Betonen muß man jedoch den nicht ganz so offensichtlichen Konnex von politischer Heuchelei, Hypermoralismus und Gewalt, der sich von der ersten Generation der Linken auf den heutigen linksliberalgrünen Komplex vererbt hat; der eine rechtfertigt die andere und schafft die Voraussetzungen für sie. Die Tatsache, daß man z.B. von jenem Mann, der nach einer Dresdner Pegida-Demonstration lebensgefährlich verletzt wurde, nie wieder etwas erfahren hat, daß Angriffe auf Christen in Flüchtlingsheimen es nahezu niemals über die Lokalpresse hinaus schaffen, entlarvt nicht nur den hochmoralischen Anspruch der Medien als pure Heuchelei, ihr Verhalten legitimiert zugleich die Gewalt durch wohlwollendes Beschweigen. Nicht zufällig stellen verschiedene Ausgaben von Cesare Ripas maßgeblicher Iconologia (Erste illustrierte Ausgabe 1603) die Heuchelei wolfsfüßig dar, was die Nähe von Heuchelei und Gewalt ebenso anzeigt wie die Wolf-im-Schafspelz-Metapher des Sprichworts.
Diese vage Eine-Welt-Ideologie wirkt auf den unbedarften Betrachter sanfter, ist aber in ihrem Anspruch keineswegs weniger totalitär, was sich schon daran zeigt, daß sie sich anmaßt, geltendes Recht mit Berufung auf ihre moralisierenden Marotten, die einem wildgewordenen viktorianischen Wohltätigkeitsbasar entsprungen sein könnten, zu suspendieren. Sie operiert mit derselben Projektion der »Menschheit«, auf deren Tücken Schmitt so eindringlich hingewiesen hat. Man muß sich, um diese Zumutungen abzuweisen, vor Augen führen, daß der Begriff heute prävalent nicht deskriptiv, sondern normativ verwendet wird. Er verweist nicht einfach auf die reale Gesamtheit der auf diesem Planeten lebenden Menschen in ihrem unfaßlich komplexen Beziehungsgeflecht (eine Vorstellung, die kein Pathos, sondern allenfalls Irritation zu wecken vermag), sondern auf eine in der Aufklärung geborene imaginäre idealisierte Einheit, deren angebliches Wohl die Einebnung jedweder gewachsenen Differenz und jedwedes Opfer rechtfertigen soll. »Humanität« und »globales Dorf« etc. sind in diesem Sprachspiel die Figuren, mit der andere dazu gebracht werden sollen, zugunsten von unbekannten und gänzlich kulturfremden Personen auf die Wahrung ihrer eigenen Interessen, der ihrer Familien, ihres Landes und ihrer Gesamtkultur, in diesem Fall der europäischen, zu verzichten.
Dieser in seiner Rigidität selbstzerstörerische Moralismus bildet zu heuchlerischen Verhaltensweisen keinerlei Widerspruch, im Gegenteil bedingt er sie. Ohne die Ventilfunktion der Heuchelei würde das von keinerlei Realitätswahrnehmung getrübte moralistische Dispositiv binnen kürzester Zeit kollabieren. Nun bildet dieses Bezugspaar ein zentrales Kennzeichen totalitärer Gesellschaften und Mentalitäten. Aus verschiedenen Erfahrungshorizonten haben das der deutsche Soziologe Hermann Lübbe ebenso wie der polnische Dichter, Nobelpreisträger und kommunistische Dissident Czesław Miłosz herausgearbeitet. Lübbe betonte den Aspekt überstrapazierter Moralität und war überzeugt, daß diese, und nicht Hypokrisie oder Zynismus, die Operationsbasis solcher Gesellschaften darstelle. Demgegenüber beschrieb Miłosz in dem Kapitel »Ketman – die Kunst des inneren Vorbehalts« seiner Studie Verführtes Denken Heuchelei in allen Varianten als unabdingbare Überlebensvoraussetzung im Ostblockkommunismus. Im Sinne des obengenannten Aufeinander-Verwiesenseins beider Dispositive hatten beide Recht.
In höchstem Grade beunruhigen muß daher, daß diese Konstellation längst zum Markenzeichen gegenwärtiger, nominell demokratischer, Gesellschaften und ganz besonders der deutschen geworden ist. Die Hexenverbrennungsstimmung gegen Kritiker, die mit dem Moralismus-Heuchelei-Tandem stets einhergeht, ist in den letzten Jahren in Form des »Kampfes gegen Rechts« (im Klartext: gegen jede nicht gänzlich konforme Einstellung) mit dem Resultat ständig steigender Aggressivität und ständig schrumpfender Räume des Sagbaren systematisch geschürt worden. Die Selbstermächtigung der Kanzlerin, denn nichts anderes liegt vor, wenn ein subjektives Moralisch-für-Richtig-Halten über das Gesetz gestellt wird, wie Frau Merkel es unter Überbietung aller Konkurrenz von links in einer Art Göring-Eckardtisierung der Republik vorgeführt hat, verweist auf einen tiefen antidemokratischen Affekt der herrschenden Kräfte.