Der Fortschrittsglaube ist das Apriori der modernen Menschheit.
Natürlich ließe sich hier sofort die gegenteilige Auffassung ins Feld führen, die auf der Beobachtung fußt, daß in Buchhandlungen die Krisenliteratur einen immer größeren Raum einnimmt, ja mehr noch, daß bereits im Laufe des Triumphzugs des wissenschaftlich-geschichtlichen Progressivismus im 19. und 20. Jahrhundert Gegenentwürfe wie jene Spenglers, Nietzsches oder gar Freuds Das Unbehagen in der Kultur erschienen sind. Berufen könnten wir uns auch auf die großen globalisierungskritischen, umweltschützerischen Bewegungen, die nicht müde werden, unserer Welt ihr bevorstehendes dunkles Ende auszumalen. Nur allzu wahr ist auch, daß der Mensch heute seinen Platz nur mit Mühe findet, daß ihn inmitten des Gedröhns der technischen Zivilisation ein eigentümliches, immer wieder aus der Tiefe aufbrechendes Mißtrauen erfüllt – und doch: Trotz dieses (übrigens gänzlich angemessenen) Gefühls stellen wir fest, Fortschritt ist im Credo der modernen Welt ein, wenn nicht das hartnäckigste Dogma. Trotz allen Krisenbewußtseins, aller Intuition und rationaler Begründung hinsichtlich der Dekadenz der Menschheit lebt vom einfach gestrickten Massenmenschen bis hin zum großen Denker in jedem der Blütentraum einer sich entwickelnden Welt und ihrer Geschichte.
Alle bösen Dinge, die wir erleben, sind in dieser Perspektive bloß vorläufige Gegebenheiten, über die wir uns mit dem Fortschreiten der Zeit hinausschwingen, um schließlich die glückliche Vollendung der Geschichte zu erreichen. Obgleich ein jeder unter dieser »Vollendung« etwas anderes versteht, sind sie alle: der gläubige Christ, der forschende Wissenschaftler, der philosophierende Humanist, der Mann auf der Straße, von dieser progressistischen Idee wie verhext. Fast alle. Allein schon dieses breite Einvernehmen sollte uns progressistischen Einflüsterungen gegenüber mißtrauisch machen. Die universelle Überlieferung lehrt uns nämlich genau das Gegenteil: den Niedergang der menschlichen Geschichte. Freilich hängt nun die Vertiefung dieser Feststellung nicht von der Menge unserer Lektüren oder von äußeren Anstrengungen ab. Zur Lösung des Dilemmas um Fortschritt und Niedergang ist eine Bewußtseinsänderung vonnöten. Das Wesentliche dieses Niveaudurchbruchs kann von verschiedenen Gesichtswinkeln aus betrachtet werden – in unserem Fall läßt es sich wohl am sinnvollsten folgendermaßen formulieren: Statt der materialistischen Anschauung des Seins müssen wir uns die geistigaristokratische Annäherung an das Sein zu eigen machen. Nehmen wir diesen aristokratischen Standpunkt ein, kompromittieren sich die modernistischen Einflüsse wie von selbst und werden wertlos. Plötzlich wird uns bewußt, daß die liberale Geschichtsschreibung in diabolischer Weise allein schon durch das Monopol der Namensgebung den Ausgang des Streits für sich entschieden hat und die Menschheit in ihren hypnotischen Bann schlägt. Wenn wir die Abfolge der geschichtlichen Ereignisse nach dem Ende des – aus traditionalem Blickwinkel – durchaus positiv einzuschätzenden europäischen Mittelalters betrachten, bemerken wir, daß die moderne Geschichtsschreibung die dunklen Vorgänge des Niedergangs, die wichtigen Stationen der stetig schwächer werdenden Verbindung zum Sein, eindeutig positiv bewertet. Dies ist schon an sich ein beredtes Zeugnis, da sich diese Wissenschaft, die auf das Kriterium ihrer Objektivität so große Stücke hält, hier mitnichten zurückhaltend geäußert hat: mit größter Dreistigkeit hat sie auch geschichtliche Ereignisse mit überschwenglichem Lob bedacht, die ihren eigenen Regeln und Grundsätzen gemäß fragwürdig sein dürften.
Betrachten wir schlaglichtartig einige Stichwörter zur Geschichte der Neuzeit: Humanismus, Renaissance, Reformation, die großen geographischen Entdeckungen, Aufklärung, Französische Revolution, Liberalismus, Industrielle Revolution, den Siegeszug der wissenschaftlichen Weltanschauung, den demokratischen Wandel, den Kampf gegen den Terrorismus. Angesichts von so viel »Schönheit« und »Größe«, die wir Okzidentalen in den vergangenen Jahrhunderten auf den Gabentisch der Welt niederzulegen imstande waren, könnte man triumphieren. Vom traditionalen Standpunkt aus in Augenschein genommen, benennen diese Stichworte in ihrer Suggestivkraft jedoch gerade gegenläufge Tendenzen. Und hier möchte ich nicht das triviale Gegenargument bemühen, demzufolge dieser angebliche Fortschritt viel Leid, Krieg und Tod über die Menschheit gebracht hat, ja ich spiele nicht einmal auf die wahrscheinliche ökologische Katastrophe an: All dies könnte den Fortschritt noch nicht in Frage stellen, sondern würde nur bedeuten, daß man für ihn leider einen hohen Preis zu entrichten hat. Ein denkender Mensch kommt jedoch nicht umhin, den Qualitätsverfall zu bemerken, der sich sowohl individuell als auch gesellschaftlich während dieses neuzeitlichen »Fortschritts« abzeichnet. Denn was von außen betrachtet als Siegeszug der Freiheit inszeniert wird, ist in Wahrheit die Schritt um Schritt erfolgende Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Welt. Der Mensch riß sich aus der Welt heraus, oder andersherum: die Welt wurde aus dem Menschen herausgerissen, und jetzt versuchen wir Harmonie und Glückseligkeit einstiger Einheit wiederherzustellen, indem wir diese uns äußerlich gewordene, entfremdete Welt unterjochen, sie zurückstopfen, konsumieren, aufessen, mit anderen Worten: mit äußeren – auf jeden Fall zum Scheitern verurteilten – Methoden ein in Wirklichkeit inneres Problem angehen. Mit der Aufgabe unserer inneren Freiheit haben wir mitnichten eine äußere gewonnen; nur eine groteske Parodie derselben wurde uns zuteil, die in gewisser Hinsicht sogar schlimmer ist als Sklaverei, da die Mehrzahl der Menschen unfähig ist, die eigene ontologische Lage zu begreifen. Der klassische Sklave weiß immerhin, daß er Sklave ist. Der moderne Mensch hingegen: der geistige Sklave, glaubt frei zu sein, weil er, hat er nur genug Geld, alles kaufen kann.
Wenn wir Epochen und Ideengebäude unter die Lupe nehmen, leugnen wir keineswegs, daß sie sehr wohl positive Aspekte, Erkenntnisse, Akteure und Werke hervorzubringen vermochten. Betrachten wir nun die oben angeführte Auflistung unter diesem Gesichtspunkt, ist es an der Zeit, der Geschichte der Neuzeit den ihr gebührenden Platz zuzuweisen. Der Humanismus ist nichts weiter als ein Anthropozentrismus, der, im Maskenkostüm der Wiederentdeckung antiker Kultur auftretend, letztere jedoch weitgehend mißverstehend und verfehlend, den Menschen gerade um sein ursprüngliches und wahres Zentrum gebracht hat. In der Hierarchie der Seinskategorien stiftete er ein unverzeihliches, diabolisches Durcheinander, als er an die Stelle des Unsterblichen das Sterbliche setzte. Die mit dem Humanismus eng verquickte Renaissance kann deshalb schwerlich als »Wiedergeburt« bezeichnet werden. Vielmehr nimmt mit ihr Siechtum und Todeskampf, kurz: der Untergang des Abendlandes ihren Anfang. Den Gestalten, Verfechtern und Anhängern der Reformation ist die gute Absicht zwar großenteils nicht abzusprechen – die Verweltlichung der Katholischen Kirche war eine Tatsache! –, nichtsdestoweniger können wir nach Begutachtung der geschichtlichen Prozesse aus der heutigen Distanz feststellen, daß der Reformation eine maßgebliche Rolle in der Profanierung und Säkularisierung der vom Christentum durchdrungenen Gesellschaft zukommt. Die großen geographischen Entdeckungen, deren Weg physische, seelische und geistige Verheerung begleitete, wurden tatsächlich zum Exportgeschäft des europäischen Seinsverfalls. Die Aufklärung war für unsere von ihren traditionalen Wurzeln bereits weitgehend abgeschnittene Kultur das groteske, von dunklen Kräften angeleitete Experiment, den im Menschen angelegten luziferischen Hochmut zu fördern, die autonome Funktionalität und den Fortschritt um seiner selbst willen zu begründen. Die Französische Revolution ist die Krönung dieser Hybris und zugleich das historische Verbrechen, begangen, um das Königtum als traditionale Staatsform endgültig abzuschaffen und in Verruf zu bringen. Man sperre zehn ausgehungerte Schweine ohne Nahrungszufuhr in einen Koben, und man wird in den zwischen ihnen sich anbahnenden Konflikten Dynamik, Figuren und alle wesentlichen Momente der »großen« Französischen Revolution entdecken können. Der Liberalismus ist die als Befreiung des Menschen getarnte Ideologie, die uns marktschreierisch ein lausiges Tauschgeschäft anbietet: Anstatt der ursprünglichen qualitativen Freiheit nötigt sie uns die Knechtschaft der quantitativen Freiheit auf. Die von Gott geschenkte Freiheit des im Einklang mit der Schöpfung lebenden Menschen tauscht sie gegen die triebhafte Knechtschaft ein, die in der Freiheit steckt, zwischen Gütern wählen zu können. Die Industrielle und technische Revolution bedeutete die Säkularisierung der Arbeit, die Umkehrung der Hierarchie zwischen Mensch und Arbeit, in der ersterer allmählich zu einer statistischen Größe verkommt, das Geschöpf Gottes zur Produktionskraft wird und zum Rohstoff. Der Siegeszug der wissenschaftlichen Weltanschauung ist der Triumph des Szientismus und des Materialismus, in dem die Menschheit den zufälligen Zusammenschluß von Atomen und Molekülen feiert, dem wir angeblich allein unser Dasein zu verdanken haben. Der demokratische Wandel ergibt sich aus dem vollständigen Verlust des Qualitätsanspruchs der Menschen, aus den Irrlehren, die der fehlerhaften Interpretation der Gleichheit entspringen. All der äußere, in Institutionen und Wortgebilden entfaltete Glanz ist letztlich nur der Deckmantel für die Diktatur des ökonomischen Kapitalismus. Der Kampf gegen den Terrorismus schließlich ist die aggressive Strafexpedition, die man zur Ausrottung jener Kulturen begonnen hat, die noch traditionale Elemente enthalten: Der Kampf gegen den Terrorismus ist der Terrorismus selbst.
An dieser Stelle ist freilich anzumerken: Die Tatsache, daß gemäß traditionaler Auffassung die offziell als positiv bewerteten Prozesse und Ideen in Wirklichkeit einen Niedergang darstellen, berechtigt keineswegs zum Umkehrschluß, daß die von der modernen Geschichtsschreibung als negativ oder gleichgültig eingestuften Elemente für uns gerade deshalb wertvoll wären. Die Gegenreformation beispielsweise ist als Versuch, die Einheit der Katholischen Kirche wiederherzustellen, zunächst zwar durchaus positiv zu bewerten, doch sind ihre Formen und Werkzeuge oft von derselben neuzeitlichen Gesinnung geprägt wie diejenigen der Reformation. In derselben Weise sind die verschiedenen Experimente der Neuzeit, das Königtum zu restaurieren, kaum als traditionale Bemühungen zu verstehen: Man denke nur an die im aufgeklärten Absolutismus angelegte Widersprüchlichkeit! Und weiter: Bei einer gründlichen Analyse kommen wir um die Erkenntnis nicht herum, daß es zwischen Demokratie und Nationalsozialismus mehr ideologische Nähe gibt als zwischen einer jeden dieser beiden modernen Staatsformen und der traditionalen Anschauung. Während die Menschheit in den großen Konflikten vor Beginn der Neuzeit zwischen zwei im Rahmen der Tradition positiv bewerteten Möglichkeiten zu wählen hatte – denken wir bloß an die Zerwürfnisse zwischen Papsttum und Kaisertum –, so sind wir gegenwärtig so tief gesunken, daß es fast gleichgültig ist, wofür wir uns entscheiden: Die Geschichte bietet uns zumeist nur Pseudoalternativen, beispielsweise sozialliberal versus bürgerlich-liberal. Die Geschichte ist, so scheint es, in einem Zerfallsprozeß begriffen, in dessen Verlauf die antitraditionalen Kräfte Schritt für Schritt die traditionalen zurückdrängen.
Unser Ziel ist nun, auf der Grundlage der Positionierung des einzelnen zum skizzierten geschichtlichen Niedergang, anders ausgedrückt: auf der Grundlage der unterschiedlichen Formen des Krisenbewußtseins eine politische Typologie des modernen Menschen zu entwerfen. Hier denke man nicht etwa an irgendeine konventionelle politologische Einordnung, die zum Aufzeigen der geistigen Bruchlinien vollkommen ungeeignet wäre und nur zu trivialen Schlußfolgerungen führen könnte. Wir verlieren also keine Zeit mit dem Erörtern der üblichen Kategorien: Zentrum versus Rand, demokratisch versus antidemokratisch, liberal, sozialistisch oder konservativ usf., ja nicht einmal die Klärung der ansonsten für uns nützlichen und wichtigen Begriffe rechts versus links haben wir uns zum Ziel gesetzt, sondern als Ausgangspunkt unserer Untersuchung betrachten wir vielmehr die Positionierung des einzelnen in Bezug zu dem aufgezeigten geschichtlichen Niedergang. Wir gehen von jener prinzipiellen Wahrheit aus, daß des Menschen Beziehung zur Geschichte seinen politischen Charakter grundsätzlich definiert. Was er in der Geschichte und der eigenen Gegenwart sieht, entdeckt oder aus ihr herausliest, formt zugleich seinen theoretischen Zugang zu gesellschaftlichen Fragen und begründet seinen politischen Charakter. Auf dieser Grundlage unterscheiden wir fünf politische Typen: den stupiden, den positivistischen, den naiven, den antitraditionalen und den traditionalen. Das Ziel dieser Abhandlung ist kein bloß deskriptives. Mit unserer Typologie wollen wir auch zur Klärung und Vertiefung der Beziehung beitragen, die Menschen mit einem geistigen Anspruch zur Sphäre der Politik knüpfen. Wir wissen um die allen Modellen gemeinsame Achillesferse: Der Gegenstand der Analyse wird, ins Modell gepreßt, sträflich vereinfacht. Immer mutet es tollkühn an, das komplexe Gewebe der Wirklichkeit auf eine bestimmte Anzahl von Kategorien zu reduzieren. Und doch verhilft uns eine politische Typologie nicht bloß zu einer klaren Sicht auf die Dinge, sondern ist gleichzeitig geeignet, praktische Schlußfolgerungen zu ziehen. Was bewiese die Wichtigkeit einer solchen »Radioskopie« eindringlicher, als die Tatsache, daß eine ungeklärte Beziehung zur Politik ernste Unzulänglichkeiten auch in ansonsten und auf anderen Gebieten abgeklärten Menschen zur Folge haben kann?
Der erSte typuS, mit dem wir unsere Theorie beginnen müssen, ist der Stupide, mit anderen Worten: der geistig beschränkte Mensch, der erst gar nicht so weit kommt, die große Frage nach dem Sinn der Geschichte aufzuwerfen. Dieser Charakter hält sich im allgemeinen abseits von spirituellen, philosophischen oder gesellschaftlichen Problemen jeglicher Art, ist in solchen Belangen gänzlich apathisch. Er ist das ideale Zuchtprodukt des globalen Kapitalismus. Er konsumiert viel, ist selten aufsässig, am allerwenigsten denkt er nach. Traurig ist, daß die Zahl derer, die zu dieser Kategorie gehören, keineswegs gering ist, im Gegenteil: sie scheint unaufhaltsam zu wachsen. Ob die Geschichte nun ein anhaltender Fortschritt oder ein Niedergang sei, was die Krise in Wirklichkeit bedeute, welche politische Grundeinstellung er demzufolge einnehmen soll – von all dem erfaßt der Stupide so gut wie nichts. In seine kreatürliche Suhle, die er nur allzu oft mit einem hochwertigen Leben verwechselt, ist er so eingewühlt, daß er gegenüber jeder geistigen Anregung immun bleibt. Bei einer gründlichen Untersuchung ließe sich leicht aufzeigen, daß er gleich dem Pantoffeltierchen nur quantitative Unterschiede zu registrieren imstande ist. Strenggenommen kann man ihn gar nicht einen politischen Charakter nennen, sondern müßte ihn vielmehr einer unterhalb anzusiedelnden Kategorie zuschlagen. Daß wir ihn dennoch erwähnen, hat zwei Gründe. Zum einen wäre da die große Anzahl von Exemplaren dieses Typus in der Gesellschaft, zum anderen die ihm in der Gestaltung der modernen Politik zukommende wesentliche Rolle.
Die liberale Demokratie wird nicht auf den Menschen, auf dem Volk aufgebaut, sondern auf dem Haufen, der Masse. Der Unterschied zwischen beiden ist gewaltig.
Die gegenwärtige Zeit hat es sich zum Ziel gesetzt, das politische Leben auf dem Wahlergebnis von solchen Inkompetenten, solchen Abgesunkenen zu begründen. Die kleinste Grundeinheit der modernen Demokratien ist nicht der Mensch, sondern dessen abgesunkener Schatten, das Massenwesen, in unserer Terminologie: der Stupide. Mit seiner Entscheidung legt er die gesellschaftlichen Aktivitäten fest, denen er dadurch nicht nur eine horizontale Ausrichtung gibt, sondern zugleich auch vertikal die Politik – vernichtet. Aus der Tatsache nämlich, daß für den Stupiden einerseits die Politik zum Ziel nur haben kann, ihm den Bauch zu stopfen und das faulende Hirn mit subhumanen Fernsehsendungen zu reizen, andererseits eben er der Rohstoff der neuzeitlichen Demokratie ist, folgt zwingend, daß das öffentliche Leben jeglichen Wert, jegliche Vertikalität verliert. Im großen Tiergarten der liberalen Demokratie ist der Stupide das Schwein, das immer zum Trog läuft, alles frißt, und sich in seinen Fraßresten wälzt. In seinem Falle die Unterscheidung politisch versus apolitisch vorzunehmen, ist so gut wie sinnlos, da der Typus wie er leibt und lebt, in der negativen, abwärts gerichteten Bedeutung des Wortes, apolitisch ist. Nicht nur übersteigt er das Niveau der Politik nicht, er erreicht es erst gar nicht.
Der zweite große typuS ist der Positivist, dem nun bereits ein wirklicher politischer Charakter eignet, da er die Geschichte wahrnimmt und sich auf Grundlage dieser Wahrnehmung zu ihr verhält. Dieses sein Verhältnis zu ihr ist freilich ganz und gar »zeitgemäß«, da er unter dem globalen Einfluß der oben erörterten Entwicklungsannahme, d.h. des Fortschritts steht. Dies ist die kollektive Hypnose, der der moderne Mensch erliegt, insofern er glaubt, daß wir uns auf dem guten Weg befnden. Er betrachtet die Geschichte als Progression, in deren Verlauf zwar vorübergehende Störungen auftreten mögen, die aber als Ganzes einer sehnlichst erwarteten Vollendung, dem »glorreichen Ende« der Historie zustrebt. Für ihn ist die Geschichte lediglich ein zu überwindendes Hindernis, und man wäre nicht schlecht beraten, sich ihrer schnellstmöglich zu entledigen und sie doch endlich zu vollenden. Auf sein Denken wirken mit zwingender Kraft, wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise, die jüdisch-christliche Kultur, der Darwinismus, der Hegelianismus und die wissenschaftliche Revolution, deren gemeinsame Wurzel – allen voneinander abweichenden Inhalten zum Trotz – gerade in der Fortschrittsgläubigkeit besteht. Der positivistische Typus kann demzufolge in einem sehr breiten politischen Spektrum in Erscheinung treten. Die konventionelle Politologie ist ungeeignet, diese – auf den ersten Blick – disparate Gruppe als Einheit zu erkennen. Unsere Typologie hingegen weiß darum, daß der die endzeitliche Ankunft des Messias erwartende fromme Christ, der von der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation die Erlösung erhoffende Kleinbürger, der für die freiheitlichen Grundrechte kämpfende Liberale, der für die Verbrüderung zwischen den Völkern (oder eher jenseits ihrer) sich einsetzende Kommunist, der um die Nestwärme seines bürgerlichen Wertesystems bangende Konservative und der auf ökonomische Reformen drängende Bankier – trotz ihrer Unterschiede in Wertvorstellung und Ausrichtung – hinsichtlich ihrer Tiefenstruktur eine politisch zusammengehörende Einheit bilden. Das den unterschiedlichen Repräsentanten dieses Typus gemeinsame Grunderlebnis ist nichts anderes, als ihr unerschütterlicher (Aber-)Glaube an den Fortschritt der Geschichte, und zum Ausdruck kommt dieser in den allen gemeinsamen Bestrebungen, irgendeine postulierte Gleichheit zu verwirklichen. Wenn einst alle gleiche Rechte genießen, oder gleiche Portionen essen können, oder auf die gleiche technische Zivilisationsstufe kommen, oder das Gleiche denken über alles, oder den gleichen Glauben teilen, dann wird die Geschichte ihr Ende endlich erreicht haben.
Auch der politische Typus des Positivisten ist eine zahlenmäßig sehr gut bestückte Kategorie. Wollten wir ihn soziologisch fassen, könnten wir sagen, daß, war der Stupide der Massenmensch, der Positivist der Bürger ist. Er ist wahrlich keine Mangelware. Sein politischer Charakter unterscheidet sich insofern vom Stupiden, als letzterer in der Politik nur eine Dienstleistungsorganisation zur Befriedigung seiner kreatürlichen Bedürfnisse sieht, sie also mit der Wirtschaft verwechselt, und somit subhuman bleibt, während für den Bürger die Politik auch eine darüber hinausweisende Bedeutung aufweist. Zwar durchbricht diese Bedeutung den subhumanen Bezirk, bleibt aber einer streng menschlichen Ebene verhaftet. Selbst für einen religiösen Positivisten vermag Politik keinen übermenschlichen Bezug zu haben. Fügen wir hier auch gleich hinzu, daß der Unterschied zwischen den beiden Typen nicht so groß ist, wie dies der Bürger selbstverliebt glauben möchte. Von unserem Standpunkt aus betrachtet, ist die Differenz nur teilweise eine qualitative, viel eher ist sie quantitativ. Dies können wir vielleicht am besten illustrieren, wenn wir sagen: Für beide bedeutet die auf die Gleichheit aufgebaute liberale Demokratie die Politik an sich, für beide markiert sie deren Grenzen. Wenn wir aber den Stupiden das Schwein der liberalen Demokratie genannt haben, können wir über den Positivisten sagen, er sei das Schaf, das man vor sich hertreibt, schert und stutzt, um es dann genauso zu schlachten wie das Schwein.
Hier ist die Unterscheidung zwischen politischer und apolitischer Struktur einer Untersuchung wert. Den politischen Typus des Positivisten finden wir im Umfeld der liberaldemokratischen, bürgerlich demokratischen und der christdemokratischen Parteien, während wir auf die apolitische Unterspezies des Positivisten in den unterschiedlichsten Bereichen des wissenschaftlichen, kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Lebens stoßen. Die beiden unterscheidet, daß der politische Positivist von politischen Handlungen, der apolitische aus anderen Sphären der menschlichen Kultur die Vollendung erwartet. Es verbindet sie aber, daß sie beide daran glauben, auf dem richtigen Weg vorwärtszuschreiten, um früher oder später zur Vollendung zu gelangen, und daß dies nur eine Frage menschlicher Anstrengung sei.
Der nächSte typuS ist der Naive. Die Unterscheidung des Naiven vom Positivisten ist nicht trennscharf, da beide Parallelen aufweisen. Auch dieser Typus glaubt daran, daß die Geschichte sich vollenden müsse, daß die Vollendung möglich und nur eine Frage menschlicher Anstrengung sei. Doch sieht er in der Geschichte nun keinen linearen Fortschritt mehr, sondern ein grandioses Vom-Weg-Abgekommensein, ein großes Problem, das man mit einer radikalen, grundsätzlichen Richtungsänderung zu lösen habe. Während der Positivist in den Verwerfungen der Geschichte bloß Fehler sieht, die die Menschheit auf dem »richtigen«, zur Gleichheit führenden Weg als Kinderkrankheiten erleidet, ist sie aus der Sicht des Naiven von diesem Weg abgekommen. Mit dem Ziel hat er größtenteils kein Problem, er unterlag ja auch den gleichen Einflüssen: Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, Freiheit usw. Sein Problem ist vielmehr, daß die Menschheit das Ziel an irgendeinem Punkt im Verlauf ihrer Geschichte verraten habe. Während man nach Ansicht des Positivisten trotz der kleineren Schlenker den Weg fortsetzen soll, muß man, hört man auf den Naiven, sofort umkehren und einen anderen Weg beschreiten.
Aus der Sicht des Naiven ist ein ernster politischer Wechsel (Regierungs‑, System- oder gar Epochenwechsel) vonnöten, um das große Vom-Weg-Abgekommensein zu überwinden. Für ihn ist die liberale Demokratie bereits kein Tabuthema mehr, sie kann Gegenstand der Kritik werden – etwas, was noch für den Positivisten die Blasphemie schlechthin dargestellt hätte. Aber in dieser kritischen Einstellung kommt nicht die Sehnsucht nach Bruch und Übertretung zum Ausdruck, sondern vielmehr eine Mentalität des »Zu deinem Besten zürne ich, nicht dir«. Der Naive möchte die Demokratie reformieren, auch dann, wenn er diese gerade auf die entschiedenste Weise ablehnt. Er sähe es gern, wenn der von ihm ersehnte Systemwechsel noch größere Freiheit, noch mehr Wohlstand und Gleichheit über die Menschen brächte und das irdische Leben noch glücklicher würde. Das politische Gewicht dieses Typus nimmt stetig zu. Unter den politischen Spezies kann man die globalisierungskritischen, linksextremen, fundamentalökologischen, rechtsextremen und neurechten (von der etablierten Politologie zu den Randgruppen gerechneten) Bewegungen hier einordnen, während das Lager der apolitischen Naiven verschiedene Gruppen von Umweltschützern, kulturbeflissenen Überlieferungsbewahrern, Anhängern alternativer Lebensformen und andere Subkulturen bilden. Allen ist gemein, daß sie das Bestehende ablehnen und darauf warten, daß die Welt endlich »zu sich selbst finde«, natürlich durch sie. Krisenbewußtsein ist ihnen zwar nicht abzusprechen, doch ist es ohne Tiefgang und ohne die geringste Schärfe. Ist der Stupide das Schwein der liberalen Demokratie, der Positivist ihr Schaf, so ist der Naive der Truthahn, der in Unkenntnis der eigenen Häßlichkeit zornig und aufgeplustert auf- und abstolziert. Am Ende schneidet man auch ihm die Kehle durch.
Mit den ersten drei Typen haben wir nun ungefähr 99,9 Prozent der politischen Charaktere der Neuzeit abgedeckt. Die zwei verbleibenden Typen sind statistisch kaum nachweisbar. Daß wir diese beiden Kategorien dennoch erörtern, erklärt sich dadurch, daß ihre Bedeutung in keinem Verhältnis zu ihrer Zahl steht. Der antitraditionale und der traditionale Typus unterscheiden sich von den ersten dreien dadurch, daß sie die Abwärtsbewegung der Geschichte erfassen, um die Krise wissen und sie in ihrer Bedeutung erkennen. Während aber der antitraditionale Typus die Verbindung zwischen Geschichte und transzendenter Welt wie die ersten drei beschriebenen Typen – im Wesentlichen – ablehnt, oder sich als unfähig zu einer richtigen Deutung dieser Verbindung erweist, interpretiert
der traditionale Typus die Politik auch von einem metaphysischen, sakralen Standpunkt.
Die politische Vergegenwärtigung und Vorstellung des antitraditionalen Charakters scheint mühsam, weil er im großen und ganzen mit jenen im Hintergrund agierenden Mächten identisch ist, über die exakte Aussagen zu machen fast unmöglich sein dürfte. Selbst seine Existenz ist kaum mit letzter Sicherheit beweisbar, sondern eher intuitiv aus den Ergebnissen seiner Tätigkeit rückschließend zu rekonstruieren. Zahlenmäßig ist er kaum der Rede wert, seine politische Macht, sein Einfluß hingegen sind fast unbegrenzt. Mehr oder minder alles, was sich in der Welt auf der politischen Ebene abspielt, geschieht gemäß seinen Richtlinien, seinem Einfluß und seinen Spekulationen. Behaupteten wir bei den vorausgehenden Charakteren, daß ihre neuzeitliche Beeinflussung identisch sei, haben wir es beim Antitraditionalen mit dem Beeinflusser selbst zu tun. Gab es auf der globalen Farm namens liberale Demokratie Schweine, Schafe und Truthähne, so ist er der Farmer, der diese züchtet, verwertet, füttert, verkauft oder, wenn nötig, das Vieh eben schlachtet. Zum Schicksal von Schwein, Schaf und Truthahn gehört, daß sie von der Existenz des Farmers nichts wissen oder daß ihr Wissen sehr unbestimmt ist. In ihren Augen ist ein sie ausnützender, züchtender und schlachtender Farmer unvorstellbar, nur eine »Verschwörungstheorie«. Der, den sie sehen, der füttert und versorgt sie doch!
Der antitraditionale Typus nimmt den Niedergang der Geschichte eindeutig wahr, weil er diesen Prozeß ja selbst mit orchestriert. Recht besehen läßt sich wohl nicht behaupten, daß hinter dem Niedergang der Geschichte bloß die Absicht dieser Hintergrundkräfte stehen würde, vielmehr dürfen wir annehmen, daß der antitraditionale Typus diesen Niedergang erkannte und solche Erkenntnis nicht bloß zum eigenen Vorteil ausnutzt, sondern den Zerfallsprozess auch in Gang hält.
Der Farmer nimmt nicht teil am Gerangel der Schweine, Schafe und Truthähne.
Der letzte Typus, den wir vorstellen, ist der Traditionale. Die in ihm verborgene geistige Potentialität hingegen ist unvergleichlich größer als die der vier anderen zusammengenommen. Dem traditionalen Typus ist eine metapolitische Einstellung eigen. Sind die anderen Typen von materialistischer, physischer und politischer Natur, ist er ein geistiger Mensch, der die Politik nicht verdinglicht, sondern vergeistigt.
Die Zugehörigkeit zu einem der unterschiedlichen politischen Typen ist nicht das Ergebnis irgendeiner bewußten Entscheidung, sondern eine vom geistigen Niveau des einzelnen bedingte Gesetzmäßigkeit. Ob jemand liberal, konservativ, sozialistisch oder nationalistisch wird, d.h. in welche der von der konventionellen Politologie etablierten Kategorien er sich einreiht, das hängt von seiner Erziehung, seinem Milieu, von den ihm widerfahrenen Erlebnissen und der auf dieser Grundlage getroffenen Entscheidung ab. Ob jemand aber stupid, positivistisch, naiv, antitraditional oder traditional ist, kann keine Frage der persönlichen Entscheidung sein: Das ist die Konsequenz seiner Daseinsbetrachtung, wenn man so will, seiner »Weltanschauung«. Hier bleibt das Schwein ein Schwein, ob es dies nun will oder nicht. Unsere Typologie umfaßt also gleichzeitig eine geistige Niveaueinteilung. Dies bedeutet, daß jeder einzelne sich auf seiner geistigen Stufe zur Politik verhält. Auf derselben können sich die konventionellen politischen Kategorien abwechseln, man kann sich also etwa ein »sozialistisches Schwein« oder ein »sozialistisches Schaf« vorstellen, wie auch ein »nationalistisches Schwein« oder einen »nationalistischen Truthahn«, die Varianten sind – mit gewissen Einschränkungen – fortsetzbar, aber daß jemand oberhalb oder unterhalb seiner geistigen Stufe ein politisches Verhältnis, einen Typus repräsentiert, ist unmöglich. Wer in geistigen Dingen ein »Schwein« ist, der wird auch in der Politik nicht traditional sein, und umgekehrt, wer in geistigen Dingen traditional ist, der kann auch politisch kein »Schaf« sein.
Für den wachen Traditionalen ist Politik nicht irgendein Ziel, nicht das Füllen des eigenen Bauches, nicht die Bewahrung der Nestwärme politischer Sicherheit, nicht irgendeine äußere Weltherrschaft, sondern existentielle Berufung. Er ist nicht Schwein, Schaf, Truthahn, und auch kein Farmer. Er ist der Mensch.