Politische Typologie des modernen Menschen

Im europäischen Kulturkreis ist die Vorstellung, daß Geschichte als Entwicklung zu begreifen ist, fast zu einem Gemeinplatz geworden:... 

Der Fort­schritts­glau­be ist das Aprio­ri der moder­nen Menschheit.

Natür­lich lie­ße sich hier sofort die gegen­tei­li­ge Auf­fas­sung ins Feld füh­ren, die auf der Beob­ach­tung fußt, daß in Buch­hand­lun­gen die Kri­sen­li­te­ra­tur einen immer grö­ße­ren Raum ein­nimmt, ja mehr noch, daß bereits im Lau­fe des Tri­umph­zugs des wis­sen­schaft­lich-geschicht­li­chen Pro­gres­si­vis­mus im 19. und 20. Jahr­hun­dert Gegen­ent­wür­fe wie jene Speng­lers, Nietz­sches oder gar Freuds Das Unbe­ha­gen in der Kul­tur erschie­nen sind. Beru­fen könn­ten wir uns auch auf die gro­ßen glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­schen, umwelt­schüt­ze­ri­schen Bewe­gun­gen, die nicht müde wer­den, unse­rer Welt ihr bevor­ste­hen­des dunk­les Ende aus­zu­ma­len. Nur all­zu wahr ist auch, daß der Mensch heu­te sei­nen Platz nur mit Mühe fin­det, daß ihn inmit­ten des Gedröhns der tech­ni­schen Zivi­li­sa­ti­on ein eigen­tüm­li­ches, immer wie­der aus der Tie­fe auf­bre­chen­des Miß­trau­en erfüllt – und doch: Trotz die­ses (übri­gens gänz­lich ange­mes­se­nen) Gefühls stel­len wir fest, Fort­schritt ist im Cre­do der moder­nen Welt ein, wenn nicht das hart­nä­ckigs­te Dog­ma. Trotz allen Kri­sen­be­wußt­seins, aller Intui­ti­on und ratio­na­ler Begrün­dung hin­sicht­lich der Deka­denz der Mensch­heit lebt vom ein­fach gestrick­ten Mas­sen­men­schen bis hin zum gro­ßen Den­ker in jedem der Blü­ten­traum einer sich ent­wi­ckeln­den Welt und ihrer Geschichte.

Alle bösen Din­ge, die wir erle­ben, sind in die­ser Per­spek­ti­ve bloß vor­läu­fi­ge Gege­ben­hei­ten, über die wir uns mit dem Fort­schrei­ten der Zeit hin­aus­schwin­gen, um schließ­lich die glück­li­che Voll­endung der Geschich­te zu errei­chen. Obgleich ein jeder unter die­ser »Voll­endung« etwas ande­res ver­steht, sind sie alle: der gläu­bi­ge Christ, der for­schen­de Wis­sen­schaft­ler, der phi­lo­so­phie­ren­de Huma­nist, der Mann auf der Stra­ße, von die­ser pro­gres­sis­ti­schen Idee wie ver­hext. Fast alle. Allein schon die­ses brei­te Ein­ver­neh­men soll­te uns pro­gres­sis­ti­schen Einflüs­te­run­gen gegen­über miß­trau­isch machen. Die uni­ver­sel­le Über­lie­fe­rung lehrt uns näm­lich genau das Gegen­teil: den Nie­der­gang der mensch­li­chen Geschich­te. Frei­lich hängt nun die Ver­tie­fung die­ser Fest­stel­lung nicht von der Men­ge unse­rer Lek­tü­ren oder von äuße­ren Anstren­gun­gen ab. Zur Lösung des Dilem­mas um Fort­schritt und Nie­der­gang ist eine Bewußt­seins­än­de­rung von­nö­ten. Das Wesent­li­che die­ses Niveau­durch­bruchs kann von ver­schie­de­nen Gesichts­win­keln aus betrach­tet wer­den – in unse­rem Fall läßt es sich wohl am sinn­volls­ten fol­gen­der­ma­ßen for­mu­lie­ren: Statt der mate­ria­lis­ti­schen Anschau­ung des Seins müs­sen wir uns die geis­ti­ga­ris­to­kra­ti­sche Annä­he­rung an das Sein zu eigen machen. Neh­men wir die­sen aris­to­kra­ti­schen Stand­punkt ein, kom­pro­mit­tie­ren sich die moder­nis­ti­schen Einflüs­se wie von selbst und wer­den wert­los. Plötz­lich wird uns bewußt, daß die libe­ra­le Geschichts­schrei­bung in dia­bo­li­scher Wei­se allein schon durch das Mono­pol der Namens­ge­bung den Aus­gang des Streits für sich ent­schie­den hat und die Mensch­heit in ihren hyp­no­ti­schen Bann schlägt. Wenn wir die Abfol­ge der geschicht­li­chen Ereig­nis­se nach dem Ende des – aus tra­di­tio­na­lem Blick­win­kel – durch­aus posi­tiv ein­zu­schät­zen­den euro­päi­schen Mit­tel­al­ters betrach­ten, bemer­ken wir, daß die moder­ne Geschichts­schrei­bung die dunk­len Vor­gän­ge des Nie­der­gangs, die wich­ti­gen Sta­tio­nen der ste­tig schwä­cher wer­den­den Ver­bin­dung zum Sein, ein­deu­tig posi­tiv bewer­tet. Dies ist schon an sich ein bered­tes Zeug­nis, da sich die­se Wis­sen­schaft, die auf das Kri­te­ri­um ihrer Objek­ti­vi­tät so gro­ße Stü­cke hält, hier mit­nich­ten zurück­hal­tend geäu­ßert hat: mit größ­ter Dreis­tig­keit hat sie auch geschicht­li­che Ereig­nis­se mit über­schweng­li­chem Lob bedacht, die ihren eige­nen Regeln und Grund­sät­zen gemäß frag­wür­dig sein dürften.

Betrach­ten wir schlag­licht­ar­tig eini­ge Stich­wör­ter zur Geschich­te der Neu­zeit: Huma­nis­mus, Renais­sance, Refor­ma­ti­on, die gro­ßen geo­gra­phi­schen Ent­de­ckun­gen, Auf­klä­rung, Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on, Libe­ra­lis­mus, Indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on, den Sie­ges­zug der wis­sen­schaft­li­chen Welt­an­schau­ung, den demo­kra­ti­schen Wan­del, den Kampf gegen den Ter­ro­ris­mus. Ange­sichts von so viel »Schön­heit« und »Grö­ße«, die wir Okzi­den­ta­len in den ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten auf den Gaben­tisch der Welt nie­der­zu­le­gen imstan­de waren, könn­te man tri­um­phie­ren. Vom tra­di­tio­na­len Stand­punkt aus in Augen­schein genom­men, benen­nen die­se Stich­wor­te in ihrer Sug­ges­tiv­kraft jedoch gera­de gegen­läuf­ge Ten­den­zen. Und hier möch­te ich nicht das tri­via­le Gegen­ar­gu­ment bemü­hen, dem­zu­fol­ge die­ser angeb­li­che Fort­schritt viel Leid, Krieg und Tod über die Mensch­heit gebracht hat, ja ich spie­le nicht ein­mal auf die wahr­schein­li­che öko­lo­gi­sche Kata­stro­phe an: All dies könn­te den Fort­schritt noch nicht in Fra­ge stel­len, son­dern wür­de nur bedeu­ten, daß man für ihn lei­der einen hohen Preis zu ent­rich­ten hat. Ein den­ken­der Mensch kommt jedoch nicht umhin, den Qua­li­täts­ver­fall zu bemer­ken, der sich sowohl indi­vi­du­ell als auch gesell­schaft­lich wäh­rend die­ses neu­zeit­li­chen »Fort­schritts« abzeich­net. Denn was von außen betrach­tet als Sie­ges­zug der Frei­heit insze­niert wird, ist in Wahr­heit die Schritt um Schritt erfol­gen­de Ent­frem­dung des Men­schen von sich selbst und der Welt. Der Mensch riß sich aus der Welt her­aus, oder anders­her­um: die Welt wur­de aus dem Men­schen her­aus­ge­ris­sen, und jetzt ver­su­chen wir Har­mo­nie und Glück­se­lig­keit eins­ti­ger Ein­heit wie­der­her­zu­stel­len, indem wir die­se uns äußer­lich gewor­de­ne, ent­frem­de­te Welt unter­jo­chen, sie zurück­stop­fen, kon­su­mie­ren, auf­es­sen, mit ande­ren Wor­ten: mit äuße­ren – auf jeden Fall zum Schei­tern ver­ur­teil­ten – Metho­den ein in Wirk­lich­keit inne­res Pro­blem ange­hen. Mit der Auf­ga­be unse­rer inne­ren Frei­heit haben wir mit­nich­ten eine äuße­re gewon­nen; nur eine gro­tes­ke Par­odie der­sel­ben wur­de uns zuteil, die in gewis­ser Hin­sicht sogar schlim­mer ist als Skla­ve­rei, da die Mehr­zahl der Men­schen unfä­hig ist, die eige­ne onto­lo­gi­sche Lage zu begrei­fen. Der klas­si­sche Skla­ve weiß immer­hin, daß er Skla­ve ist. Der moder­ne Mensch hin­ge­gen: der geis­ti­ge Skla­ve, glaubt frei zu sein, weil er, hat er nur genug Geld, alles kau­fen kann.

Wenn wir Epo­chen und Ideen­ge­bäu­de unter die Lupe neh­men, leug­nen wir kei­nes­wegs, daß sie sehr wohl posi­ti­ve Aspek­te, Erkennt­nis­se, Akteu­re und Wer­ke her­vor­zu­brin­gen ver­moch­ten. Betrach­ten wir nun die oben ange­führ­te Auflis­tung unter die­sem Gesichts­punkt, ist es an der Zeit, der Geschich­te der Neu­zeit den ihr gebüh­ren­den Platz zuzu­wei­sen. Der Huma­nis­mus ist nichts wei­ter als ein Anthro­po­zen­tris­mus, der, im Mas­ken­kos­tüm der Wie­der­ent­de­ckung anti­ker Kul­tur auf­tre­tend, letz­te­re jedoch weit­ge­hend miß­ver­ste­hend und ver­feh­lend, den Men­schen gera­de um sein ursprüng­li­ches und wah­res Zen­trum gebracht hat. In der Hier­ar­chie der Seins­ka­te­go­rien stif­te­te er ein unver­zeih­li­ches, dia­bo­li­sches Durch­ein­an­der, als er an die Stel­le des Unsterb­li­chen das Sterb­li­che setz­te. Die mit dem Huma­nis­mus eng ver­quick­te Renais­sance kann des­halb schwer­lich als »Wie­der­ge­burt« bezeich­net wer­den. Viel­mehr nimmt mit ihr Siech­tum und Todes­kampf, kurz: der Unter­gang des Abend­lan­des ihren Anfang. Den Gestal­ten, Ver­fech­tern und Anhän­gern der Refor­ma­ti­on ist die gute Absicht zwar gro­ßen­teils nicht abzu­spre­chen – die Ver­welt­li­chung der Katho­li­schen Kir­che war eine Tat­sa­che! –, nichts­des­to­we­ni­ger kön­nen wir nach Begut­ach­tung der geschicht­li­chen Pro­zes­se aus der heu­ti­gen Distanz fest­stel­len, daß der Refor­ma­ti­on eine maß­geb­li­che Rol­le in der Pro­fa­nie­rung und Säku­la­ri­sie­rung der vom Chris­ten­tum durch­drun­ge­nen Gesell­schaft zukommt. Die gro­ßen geo­gra­phi­schen Ent­de­ckun­gen, deren Weg phy­si­sche, see­li­sche und geis­ti­ge Ver­hee­rung beglei­te­te, wur­den tatsäch­lich zum Export­ge­schäft des euro­päi­schen Seins­ver­falls. Die Auf­klä­rung war für unse­re von ihren tra­di­tio­na­len Wur­zeln bereits weit­ge­hend abge­schnit­te­ne Kul­tur das gro­tes­ke, von dunk­len Kräf­ten ange­lei­te­te Expe­ri­ment, den im Men­schen ange­leg­ten luzi­fe­ri­schen Hoch­mut zu för­dern, die auto­no­me Funk­tio­na­li­tät und den Fort­schritt um sei­ner selbst wil­len zu begrün­den. Die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on ist die Krö­nung die­ser Hybris und zugleich das his­to­ri­sche Ver­bre­chen, began­gen, um das König­tum als tra­di­tio­na­le Staats­form end­gül­tig abzu­schaf­fen und in Ver­ruf zu brin­gen. Man sper­re zehn aus­ge­hun­ger­te Schwei­ne ohne Nah­rungs­zu­fuhr in einen Koben, und man wird in den zwi­schen ihnen sich anbah­nen­den Kon­flik­ten Dyna­mik, Figu­ren und alle wesent­li­chen Momen­te der »gro­ßen« Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on ent­de­cken kön­nen. Der Libe­ra­lis­mus ist die als Befrei­ung des Men­schen getarn­te Ideo­lo­gie, die uns markt­schreie­risch ein lau­si­ges Tausch­ge­schäft anbie­tet: Anstatt der ursprüng­li­chen qua­li­ta­ti­ven Frei­heit nötigt sie uns die Knecht­schaft der quan­ti­ta­ti­ven Frei­heit auf. Die von Gott geschenk­te Frei­heit des im Ein­klang mit der Schöp­fung leben­den Men­schen tauscht sie gegen die trieb­haf­te Knecht­schaft ein, die in der Frei­heit steckt, zwi­schen Gütern wäh­len zu kön­nen. Die Indus­tri­el­le und tech­ni­sche Revo­lu­ti­on bedeu­te­te die Säku­la­ri­sie­rung der Arbeit, die Umkeh­rung der Hier­ar­chie zwi­schen Mensch und Arbeit, in der ers­te­rer all­mäh­lich zu einer sta­tis­ti­schen Grö­ße ver­kommt, das Geschöpf Got­tes zur Pro­duk­ti­ons­kraft wird und zum Roh­stoff. Der Sie­ges­zug der wis­sen­schaft­li­chen Welt­an­schau­ung ist der Tri­umph des Szi­en­tis­mus und des Mate­ria­lis­mus, in dem die Mensch­heit den zufäl­li­gen Zusam­men­schluß von Ato­men und Mole­kü­len fei­ert, dem wir angeb­lich allein unser Dasein zu ver­dan­ken haben. Der demo­kra­ti­sche Wan­del ergibt sich aus dem voll­stän­di­gen Ver­lust des Qua­li­täts­an­spruchs der Men­schen, aus den Irr­leh­ren, die der feh­ler­haf­ten Inter­pre­ta­ti­on der Gleich­heit ent­sprin­gen. All der äuße­re, in Insti­tu­tio­nen und Wort­ge­bil­den ent­fal­te­te Glanz ist letzt­lich nur der Deck­man­tel für die Dik­ta­tur des öko­no­mi­schen Kapi­ta­lis­mus. Der Kampf gegen den Ter­ro­ris­mus schließ­lich ist die aggres­si­ve Straf­ex­pe­di­ti­on, die man zur Aus­rot­tung jener Kul­tu­ren begon­nen hat, die noch tra­di­tio­na­le Ele­men­te ent­hal­ten: Der Kampf gegen den Ter­ro­ris­mus ist der Ter­ro­ris­mus selbst.

An die­ser Stel­le ist frei­lich anzu­mer­ken: Die Tat­sa­che, daß gemäß tra­di­tio­na­ler Auf­fas­sung die off­zi­ell als posi­tiv bewer­te­ten Pro­zes­se und Ideen in Wirk­lich­keit einen Nie­der­gang dar­stel­len, berech­tigt kei­nes­wegs zum Umkehr­schluß, daß die von der moder­nen Geschichts­schrei­bung als nega­tiv oder gleich­gül­tig ein­ge­stuf­ten Ele­men­te für uns gera­de des­halb wert­voll wären. Die Gegen­re­for­ma­ti­on bei­spiels­wei­se ist als Ver­such, die Ein­heit der Katho­li­schen Kir­che wie­der­her­zu­stel­len, zunächst zwar durch­aus posi­tiv zu bewer­ten, doch sind ihre For­men und Werk­zeu­ge oft von der­sel­ben neu­zeit­li­chen Gesin­nung geprägt wie die­je­ni­gen der Refor­ma­ti­on. In der­sel­ben Wei­se sind die ver­schie­de­nen Expe­ri­men­te der Neu­zeit, das König­tum zu restau­rie­ren, kaum als tra­di­tio­na­le Bemü­hun­gen zu ver­ste­hen: Man den­ke nur an die im auf­ge­klär­ten Abso­lu­tis­mus ange­leg­te Wider­sprüch­lich­keit! Und wei­ter: Bei einer gründ­li­chen Ana­ly­se kom­men wir um die Erkennt­nis nicht her­um, daß es zwi­schen Demo­kra­tie und Natio­nal­so­zia­lis­mus mehr ideo­lo­gi­sche Nähe gibt als zwi­schen einer jeden die­ser bei­den moder­nen Staats­for­men und der tra­di­tio­na­len Anschau­ung. Wäh­rend die Mensch­heit in den gro­ßen Kon­flik­ten vor Beginn der Neu­zeit zwi­schen zwei im Rah­men der Tra­di­ti­on posi­tiv bewer­te­ten Mög­lich­kei­ten zu wäh­len hat­te – den­ken wir bloß an die Zer­würf­nis­se zwi­schen Papst­tum und Kai­ser­tum –, so sind wir gegen­wär­tig so tief gesun­ken, daß es fast gleich­gül­tig ist, wofür wir uns ent­schei­den: Die Geschich­te bie­tet uns zumeist nur Pseu­do­al­ter­na­ti­ven, bei­spiels­wei­se sozi­al­li­be­ral ver­sus bür­ger­lich-libe­ral. Die Geschich­te ist, so scheint es, in einem Zer­falls­pro­zeß begrif­fen, in des­sen Ver­lauf die anti­tra­di­tio­na­len Kräf­te Schritt für Schritt die tra­di­tio­na­len zurückdrängen.

Unser Ziel ist nun, auf der Grund­la­ge der Posi­tio­nie­rung des ein­zel­nen zum skiz­zier­ten geschicht­li­chen Nie­der­gang, anders aus­ge­drückt: auf der Grund­la­ge der unter­schied­li­chen For­men des Kri­sen­be­wußt­seins eine poli­ti­sche Typo­lo­gie des moder­nen Men­schen zu ent­wer­fen. Hier den­ke man nicht etwa an irgend­ei­ne kon­ven­tio­nel­le poli­to­lo­gi­sche Ein­ord­nung, die zum Auf­zei­gen der geis­ti­gen Bruch­li­ni­en voll­kom­men unge­eig­net wäre und nur zu tri­via­len Schluß­fol­ge­run­gen füh­ren könn­te. Wir ver­lie­ren also kei­ne Zeit mit dem Erör­tern der übli­chen Kate­go­rien: Zen­trum ver­sus Rand, demokra­tisch ver­sus anti­de­mo­kra­tisch, libe­ral, sozia­lis­tisch oder kon­ser­va­tiv usf., ja nicht ein­mal die Klä­rung der ansons­ten für uns nütz­li­chen und wich­ti­gen Begrif­fe rechts ver­sus links haben wir uns zum Ziel gesetzt, son­dern als Aus­gangs­punkt unse­rer Unter­su­chung betrach­ten wir viel­mehr die Posi­tio­nie­rung des ein­zel­nen in Bezug zu dem auf­ge­zeig­ten geschicht­li­chen Nie­der­gang. Wir gehen von jener prin­zi­pi­el­len Wahr­heit aus, daß des Men­schen Bezie­hung zur Geschich­te sei­nen poli­ti­schen Cha­rak­ter grund­sätz­lich defi­niert. Was er in der Geschich­te und der eige­nen Gegen­wart sieht, ent­deckt oder aus ihr her­aus­liest, formt zugleich sei­nen theo­re­ti­schen Zugang zu gesell­schaft­li­chen Fra­gen und begrün­det sei­nen poli­ti­schen Cha­rak­ter. Auf die­ser Grund­la­ge unter­schei­den wir fünf poli­ti­sche Typen: den stu­pi­den, den posi­ti­vis­ti­schen, den nai­ven, den anti­tra­di­tio­na­len und den tra­di­tio­na­len. Das Ziel die­ser Abhand­lung ist kein bloß deskrip­ti­ves. Mit unse­rer Typo­lo­gie wol­len wir auch zur Klä­rung und Ver­tie­fung der Bezie­hung bei­tra­gen, die Men­schen mit einem geis­ti­gen Anspruch zur Sphä­re der Poli­tik knüp­fen. Wir wis­sen um die allen Model­len gemein­sa­me Achil­les­fer­se: Der Gegen­stand der Ana­ly­se wird, ins Modell gepreßt, sträflich ver­ein­facht. Immer mutet es toll­kühn an, das kom­ple­xe Gewe­be der Wirk­lich­keit auf eine bestimm­te Anzahl von Kate­go­rien zu redu­zie­ren. Und doch ver­hilft uns eine poli­ti­sche Typo­lo­gie nicht bloß zu einer kla­ren Sicht auf die Din­ge, son­dern ist gleich­zei­tig geeig­net, prak­ti­sche Schluß­fol­ge­run­gen zu zie­hen. Was bewie­se die Wich­tig­keit einer sol­chen »Radio­sko­pie« ein­dring­li­cher, als die Tat­sa­che, daß eine unge­klär­te Bezie­hung zur Poli­tik erns­te Unzu­läng­lich­kei­ten auch in ansons­ten und auf ande­ren Gebie­ten abge­klär­ten Men­schen zur Fol­ge haben kann?

Der erS­te typuS, mit dem wir unse­re Theo­rie begin­nen müs­sen, ist der Stu­pi­de, mit ande­ren Wor­ten: der geis­tig beschränk­te Mensch, der erst gar nicht so weit kommt, die gro­ße Fra­ge nach dem Sinn der Geschich­te auf­zu­wer­fen. Die­ser Cha­rak­ter hält sich im all­ge­mei­nen abseits von spi­ri­tu­el­len, phi­lo­so­phi­schen oder gesell­schaft­li­chen Pro­ble­men jeg­li­cher Art, ist in sol­chen Belan­gen gänz­lich apa­thisch. Er ist das idea­le Zucht­pro­dukt des glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus. Er kon­su­miert viel, ist sel­ten auf­säs­sig, am aller­we­nigs­ten denkt er nach. Trau­rig ist, daß die Zahl derer, die zu die­ser Kate­go­rie gehö­ren, kei­nes­wegs gering ist, im Gegen­teil: sie scheint unauf­halt­sam zu wach­sen. Ob die Geschich­te nun ein anhal­ten­der Fort­schritt oder ein Nie­der­gang sei, was die Kri­se in Wirk­lich­keit bedeu­te, wel­che poli­ti­sche Grund­ein­stel­lung er dem­zu­fol­ge ein­neh­men soll – von all dem erfaßt der Stu­pi­de so gut wie nichts. In sei­ne krea­tür­li­che Suh­le, die er nur all­zu oft mit einem hoch­wer­ti­gen Leben ver­wech­selt, ist er so ein­ge­wühlt, daß er gegen­über jeder geis­ti­gen Anre­gung immun bleibt. Bei einer gründ­li­chen Unter­su­chung lie­ße sich leicht auf­zei­gen, daß er gleich dem Pan­tof­fel­tier­chen nur quan­ti­ta­ti­ve Unter­schie­de zu regis­trie­ren imstan­de ist. Streng­ge­nom­men kann man ihn gar nicht einen poli­ti­schen Cha­rak­ter nen­nen, son­dern müß­te ihn viel­mehr einer unter­halb anzu­sie­deln­den Kate­go­rie zuschla­gen. Daß wir ihn den­noch erwäh­nen, hat zwei Grün­de. Zum einen wäre da die gro­ße Anzahl von Exem­pla­ren die­ses Typus in der Gesell­schaft, zum ande­ren die ihm in der Gestal­tung der moder­nen Poli­tik zukom­men­de wesent­li­che Rolle.

Die libe­ra­le Demo­kra­tie wird nicht auf den Men­schen, auf dem Volk auf­ge­baut, son­dern auf dem Hau­fen, der Mas­se. Der Unter­schied zwi­schen bei­den ist gewaltig.

Die gegen­wär­ti­ge Zeit hat es sich zum Ziel gesetzt, das poli­ti­sche Leben auf dem Wahl­er­geb­nis von sol­chen Inkom­pe­ten­ten, sol­chen Abge­sun­ke­nen zu begrün­den. Die kleins­te Grund­ein­heit der moder­nen Demo­kra­tien ist nicht der Mensch, son­dern des­sen abge­sun­ke­ner Schat­ten, das Mas­sen­we­sen, in unse­rer Ter­mi­no­lo­gie: der Stu­pi­de. Mit sei­ner Ent­schei­dung legt er die gesell­schaft­li­chen Akti­vi­tä­ten fest, denen er dadurch nicht nur eine hori­zon­ta­le Aus­rich­tung gibt, son­dern zugleich auch ver­ti­kal die Poli­tik – ver­nich­tet. Aus der Tat­sa­che näm­lich, daß für den Stu­pi­den einer­seits die Poli­tik zum Ziel nur haben kann, ihm den Bauch zu stop­fen und das fau­len­de Hirn mit sub­hu­ma­nen Fern­seh­sen­dun­gen zu rei­zen, ande­rer­seits eben er der Roh­stoff der neu­zeit­li­chen Demo­kra­tie ist, folgt zwin­gend, daß das öffent­li­che Leben jeg­li­chen Wert, jeg­li­che Ver­ti­ka­li­tät ver­liert. Im gro­ßen Tier­gar­ten der libe­ra­len Demo­kra­tie ist der Stu­pi­de das Schwein, das immer zum Trog läuft, alles frißt, und sich in sei­nen  Fraß­res­ten wälzt. In sei­nem Fal­le die Unter­schei­dung poli­tisch ver­sus apo­li­tisch vor­zu­neh­men, ist so gut wie sinn­los, da der Typus wie er leibt und lebt, in der nega­ti­ven, abwärts gerich­te­ten Bedeu­tung des Wor­tes, apo­li­tisch ist. Nicht nur über­steigt er das Niveau der Poli­tik nicht, er erreicht es erst gar nicht.

Der zwei­te gro­ße typuS ist der Posi­ti­vist, dem nun bereits ein wirk­li­cher poli­ti­scher Cha­rak­ter eig­net, da er die Geschich­te wahr­nimmt und sich auf Grund­la­ge die­ser Wahr­neh­mung zu ihr ver­hält. Die­ses sein Ver­hält­nis zu ihr ist frei­lich ganz und gar »zeit­ge­mäß«, da er unter dem glo­ba­len Einfluß der oben erör­ter­ten Ent­wick­lungs­an­nah­me, d.h. des Fort­schritts steht. Dies ist die kol­lek­ti­ve Hyp­no­se, der der moder­ne Mensch erliegt, inso­fern er glaubt, daß wir uns auf dem guten Weg befnden. Er betrach­tet die Geschich­te als Pro­gres­si­on, in deren Ver­lauf zwar vor­über­ge­hen­de Stö­run­gen auf­tre­ten mögen, die aber als Gan­zes einer sehn­lichst erwar­te­ten Voll­endung, dem »glor­rei­chen Ende« der His­to­rie zustrebt. Für ihn ist die Geschich­te ledig­lich ein zu über­win­den­des Hin­der­nis, und man wäre nicht schlecht bera­ten, sich ihrer schnellst­mög­lich zu ent­le­di­gen und sie doch end­lich zu voll­enden. Auf sein Den­ken wir­ken mit zwin­gen­der Kraft, wenn auch in unter­schied­li­cher Art und Wei­se, die jüdisch-christ­li­che Kul­tur, der Dar­wi­nis­mus, der Hege­lia­nis­mus und die wis­sen­schaft­li­che Revo­lu­ti­on, deren gemein­sa­me Wur­zel – allen von­ein­an­der abwei­chen­den Inhal­ten zum Trotz – gera­de in der Fort­schritts­gläu­big­keit besteht. Der posi­ti­vis­ti­sche Typus kann dem­zu­fol­ge in einem sehr brei­ten poli­ti­schen Spek­trum in Erschei­nung tre­ten. Die kon­ven­tio­nel­le Poli­to­lo­gie ist unge­eig­net, die­se – auf den ers­ten Blick – dis­pa­ra­te Grup­pe als Ein­heit zu erken­nen. Unse­re Typo­lo­gie hin­ge­gen weiß dar­um, daß der die end­zeit­li­che Ankunft des Mes­si­as erwar­ten­de from­me Christ, der von der wis­sen­schaft­lich­tech­ni­schen Zivi­li­sa­ti­on die Erlö­sung erhof­fen­de Klein­bür­ger, der für die frei­heit­li­chen Grund­rech­te kämp­fen­de Libe­ra­le, der für die Ver­brü­de­rung zwi­schen den Völ­kern (oder eher jen­seits ihrer) sich ein­set­zen­de Kom­mu­nist, der um die Nest­wär­me sei­nes bür­ger­li­chen Wer­te­sys­tems ban­gen­de Kon­ser­va­ti­ve und der auf öko­no­mi­sche Refor­men drän­gen­de Ban­kier – trotz ihrer Unter­schie­de in Wert­vor­stel­lung und Aus­rich­tung – hin­sicht­lich ihrer Tie­fen­struk­tur eine poli­tisch zusam­men­ge­hö­ren­de Ein­heit bil­den. Das den unter­schied­li­chen Reprä­sen­tan­ten die­ses Typus gemein­sa­me Grund­er­leb­nis ist nichts ande­res, als ihr uner­schüt­ter­li­cher (Aber-)Glaube an den Fort­schritt der Geschich­te, und zum Aus­druck kommt die­ser in den allen gemein­sa­men Bestre­bun­gen, irgend­ei­ne pos­tu­lier­te Gleich­heit zu ver­wirk­li­chen. Wenn einst alle glei­che Rech­te genie­ßen, oder glei­che Por­tio­nen essen kön­nen, oder auf die glei­che tech­ni­sche Zivi­li­sa­ti­ons­stu­fe kom­men, oder das Glei­che den­ken über alles, oder den glei­chen Glau­ben tei­len, dann wird die Geschich­te ihr Ende end­lich erreicht haben.

Auch der poli­ti­sche Typus des Posi­ti­vis­ten ist eine zah­len­mä­ßig sehr gut bestück­te Kate­go­rie. Woll­ten wir ihn sozio­lo­gisch fas­sen, könn­ten wir sagen, daß, war der Stu­pi­de der Mas­sen­mensch, der Posi­ti­vist der Bür­ger ist. Er ist wahr­lich kei­ne Man­gel­wa­re. Sein poli­ti­scher Cha­rak­ter unter­schei­det sich inso­fern vom Stu­pi­den, als letz­te­rer in der Poli­tik nur eine Dienst­leis­tungs­or­ga­ni­sa­ti­on zur Befrie­di­gung sei­ner krea­tür­li­chen Bedürf­nis­se sieht, sie also mit der Wirt­schaft ver­wech­selt, und somit sub­hu­man bleibt, wäh­rend für den Bür­ger die Poli­tik auch eine dar­über hin­aus­wei­sen­de Bedeu­tung auf­weist. Zwar durch­bricht die­se Bedeu­tung den sub­hu­ma­nen Bezirk, bleibt aber einer streng mensch­li­chen Ebe­ne ver­haf­tet. Selbst für einen reli­giö­sen Posi­ti­vis­ten ver­mag Poli­tik kei­nen über­mensch­li­chen Bezug zu haben. Fügen wir hier auch gleich hin­zu, daß der Unter­schied zwi­schen den bei­den Typen nicht so groß ist, wie dies der Bür­ger selbst­ver­liebt glau­ben möch­te. Von unse­rem Stand­punkt aus betrach­tet, ist die Dif­fe­renz nur teil­wei­se eine qua­li­ta­ti­ve, viel eher ist sie quan­ti­ta­tiv. Dies kön­nen wir viel­leicht am bes­ten illus­trie­ren, wenn wir sagen: Für bei­de bedeu­tet die auf die Gleich­heit auf­ge­bau­te libe­ra­le Demo­kra­tie die Poli­tik an sich, für bei­de mar­kiert sie deren Gren­zen. Wenn wir aber den Stu­pi­den das Schwein der libe­ra­len Demo­kra­tie genannt haben, kön­nen wir über den Posi­ti­vis­ten sagen, er sei das Schaf, das man vor sich her­treibt, schert und stutzt, um es dann genau­so zu schlach­ten wie das Schwein.

Hier ist die Unter­schei­dung zwi­schen poli­ti­scher und apo­li­ti­scher Struk­tur einer Unter­su­chung wert. Den poli­ti­schen Typus des Posi­ti­vis­ten fin­den wir im Umfeld der libe­ral­de­mo­kra­ti­schen, bür­ger­lich demo­kra­ti­schen und der christ­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en, wäh­rend wir auf die apo­li­ti­sche Unter­spe­zi­es des Posi­ti­vis­ten in den unter­schied­lichs­ten Berei­chen des wis­sen­schaft­li­chen, kul­tu­rel­len, reli­giö­sen und wirt­schaft­li­chen Lebens sto­ßen. Die bei­den unter­schei­det, daß der poli­ti­sche Posi­ti­vist von poli­ti­schen Hand­lun­gen, der apo­li­ti­sche aus ande­ren Sphä­ren der mensch­li­chen Kul­tur die Voll­endung erwar­tet. Es ver­bin­det sie aber, daß sie bei­de dar­an glau­ben, auf dem rich­ti­gen Weg vor­wärts­zu­schrei­ten, um frü­her oder spä­ter zur Voll­endung zu gelan­gen, und daß dies nur eine Fra­ge mensch­li­cher Anstren­gung sei.

Der nächS­te typuS ist der Nai­ve. Die Unter­schei­dung des Nai­ven vom Posi­ti­vis­ten ist nicht trenn­scharf, da bei­de Par­al­le­len auf­wei­sen. Auch die­ser Typus glaubt dar­an, daß die Geschich­te sich voll­enden müs­se, daß die Voll­endung mög­lich und nur eine Fra­ge mensch­li­cher Anstren­gung sei. Doch sieht er in der Geschich­te nun kei­nen linea­ren Fort­schritt mehr, son­dern ein gran­dio­ses Vom-Weg-Abge­kom­men­sein, ein gro­ßes Pro­blem, das man mit einer radi­ka­len, grund­sätz­li­chen Rich­tungs­än­de­rung zu lösen habe. Wäh­rend der Posi­ti­vist in den Ver­wer­fun­gen der Geschich­te bloß Feh­ler sieht, die die Mensch­heit auf dem »rich­ti­gen«, zur Gleich­heit füh­ren­den Weg als Kin­der­krank­hei­ten erlei­det, ist sie aus der Sicht des Nai­ven von die­sem Weg abge­kom­men. Mit dem Ziel hat er größ­ten­teils kein Pro­blem, er unter­lag ja auch den glei­chen Einflüs­sen: Gleich­heit, sozia­le Gerech­tig­keit, Frei­heit usw. Sein Pro­blem ist viel­mehr, daß die Mensch­heit das Ziel an irgend­ei­nem Punkt im Ver­lauf ihrer Geschich­te ver­ra­ten habe. Wäh­rend man nach Ansicht des Posi­ti­vis­ten trotz der klei­ne­ren Schlen­ker den Weg fort­set­zen soll, muß man, hört man auf den Nai­ven, sofort umkeh­ren und einen ande­ren Weg beschreiten.

Aus der Sicht des Nai­ven ist ein erns­ter poli­ti­scher Wech­sel (Regierungs‑, Sys­tem- oder gar Epo­chen­wech­sel) von­nö­ten, um das gro­ße Vom-Weg-Abge­kom­men­sein zu über­win­den. Für ihn ist die libe­ra­le Demo­kra­tie bereits kein Tabu­the­ma mehr, sie kann Gegen­stand der Kri­tik wer­den – etwas, was noch für den Posi­ti­vis­ten die Blas­phe­mie schlecht­hin dar­ge­stellt hät­te. Aber in die­ser kri­ti­schen Ein­stel­lung kommt nicht die Sehn­sucht nach Bruch und Über­tre­tung zum Aus­druck, son­dern viel­mehr eine Men­ta­li­tät des »Zu dei­nem Bes­ten zür­ne ich, nicht dir«. Der Nai­ve möch­te die Demo­kra­tie refor­mie­ren, auch dann, wenn er die­se gera­de auf die ent­schie­dens­te Wei­se ablehnt. Er sähe es gern, wenn der von ihm ersehn­te Sys­tem­wech­sel noch grö­ße­re Frei­heit, noch mehr Wohl­stand und Gleich­heit über die Men­schen bräch­te und das irdi­sche Leben noch glück­li­cher wür­de. Das poli­ti­sche Gewicht die­ses Typus nimmt ste­tig zu. Unter den poli­ti­schen Spe­zi­es kann man die glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­schen, links­extre­men, fun­da­men­ta­l­öko­lo­gi­schen, rechts­extre­men und neu­rech­ten (von der eta­blier­ten Poli­to­lo­gie zu den Rand­grup­pen gerech­ne­ten) Bewe­gun­gen hier ein­ord­nen, wäh­rend das Lager der apo­li­ti­schen Nai­ven ver­schie­de­ne Grup­pen von Umwelt­schüt­zern, kul­tur­beflis­se­nen Über­lie­fe­rungs­be­wah­rern, Anhän­gern alter­na­ti­ver Lebens­for­men und ande­re Sub­kul­tu­ren bil­den. Allen ist gemein, daß sie das Bestehen­de ableh­nen und dar­auf war­ten, daß die Welt end­lich »zu sich selbst fin­de«, natür­lich durch sie. Kri­sen­be­wußt­sein ist ihnen zwar nicht abzu­spre­chen, doch ist es ohne Tief­gang und ohne die gerings­te Schär­fe. Ist der Stu­pi­de das Schwein der libe­ra­len Demo­kra­tie, der Posi­ti­vist ihr Schaf, so ist der Nai­ve der Trut­hahn, der in Unkennt­nis der eige­nen Häß­lich­keit zor­nig und auf­ge­plus­tert auf- und abstol­ziert. Am Ende schnei­det man auch ihm die Keh­le durch.

Mit den ers­ten drei Typen haben wir nun unge­fähr 99,9 Pro­zent der poli­ti­schen Cha­rak­te­re der Neu­zeit abge­deckt. Die zwei ver­blei­ben­den Typen sind sta­tis­tisch kaum nach­weis­bar. Daß wir die­se bei­den Kate­go­rien den­noch erör­tern, erklärt sich dadurch, daß ihre Bedeu­tung in kei­nem Ver­hält­nis zu ihrer Zahl steht. Der anti­tra­di­tio­na­le und der tra­di­tio­na­le Typus unter­schei­den sich von den ers­ten drei­en dadurch, daß sie die Abwärts­be­we­gung der Geschich­te erfas­sen, um die Kri­se wis­sen und sie in ihrer Bedeu­tung erken­nen. Wäh­rend aber der anti­tra­di­tio­na­le Typus die Ver­bin­dung zwi­schen Geschich­te und tran­szen­den­ter Welt wie die ers­ten drei beschrie­be­nen Typen – im Wesent­li­chen – ablehnt, oder sich als unfä­hig zu einer rich­ti­gen Deu­tung die­ser Ver­bin­dung erweist, inter­pre­tiert
der tra­di­tio­na­le Typus die Poli­tik auch von einem meta­phy­si­schen, sakra­len Standpunkt.

Die poli­ti­sche Ver­ge­gen­wär­ti­gung und Vor­stel­lung des anti­tra­di­tio­na­len Charak­ters scheint müh­sam, weil er im gro­ßen und gan­zen mit jenen im Hin­ter­grund agie­ren­den Mäch­ten iden­tisch ist, über die exak­te Aus­sa­gen zu machen fast unmög­lich sein dürf­te. Selbst sei­ne Exis­tenz ist kaum mit letz­ter Sicher­heit beweis­bar, son­dern eher intui­tiv aus den Ergeb­nis­sen sei­ner Tätig­keit rück­schlie­ßend zu rekon­stru­ie­ren. Zah­len­mä­ßig ist er kaum der Rede wert, sei­ne poli­ti­sche Macht, sein Einfluß hin­ge­gen sind fast unbe­grenzt. Mehr oder min­der alles, was sich in der Welt auf der poli­ti­schen Ebe­ne abspielt, geschieht gemäß sei­nen Richt­li­ni­en, sei­nem Einfluß und sei­nen Spe­ku­la­tio­nen. Behaup­te­ten wir bei den vor­aus­ge­hen­den Cha­rak­te­ren, daß ihre neu­zeit­li­che Beeinflus­sung iden­tisch sei, haben wir es beim Anti­tra­di­tio­na­len mit dem Beeinflus­ser selbst zu tun. Gab es auf der glo­ba­len Farm namens libe­ra­le Demo­kra­tie Schwei­ne, Scha­fe und Trut­häh­ne, so ist er der Far­mer, der die­se züch­tet, ver­wer­tet, füt­tert, ver­kauft oder, wenn nötig, das Vieh eben schlach­tet. Zum Schick­sal von Schwein, Schaf und Trut­hahn gehört, daß sie von der Exis­tenz des Far­mers nichts wis­sen oder daß ihr Wis­sen sehr unbe­stimmt ist. In ihren Augen ist ein sie aus­nüt­zen­der, züch­ten­der und schlach­ten­der Far­mer unvor­stell­bar, nur eine »Ver­schwö­rungs­theo­rie«. Der, den sie sehen, der füt­tert und ver­sorgt sie doch!

Der anti­tra­di­tio­na­le Typus nimmt den Nie­der­gang der Geschich­te ein­deu­tig wahr, weil er die­sen Pro­zeß ja selbst mit orches­triert. Recht bese­hen läßt sich wohl nicht behaup­ten, daß hin­ter dem Nie­der­gang der Geschich­te bloß die Absicht die­ser Hin­ter­grund­kräf­te ste­hen wür­de, viel­mehr dür­fen wir anneh­men, daß der anti­tra­di­tio­na­le Typus die­sen Nie­der­gang erkann­te und sol­che Erkennt­nis nicht bloß zum eige­nen Vor­teil aus­nutzt, son­dern den Zer­falls­pro­zess auch in Gang hält.

Der Far­mer nimmt nicht teil am Geran­gel der Schwei­ne, Scha­fe und Truthähne.

Der letz­te Typus, den wir vor­stel­len, ist der Tra­di­tio­na­le. Die in ihm ver­bor­ge­ne geis­ti­ge Poten­tia­li­tät hin­ge­gen ist unver­gleich­lich grö­ßer als die der vier ande­ren zusam­men­ge­nom­men. Dem tra­di­tio­na­len Typus ist eine meta­po­li­ti­sche Ein­stel­lung eigen. Sind die ande­ren Typen von mate­ria­lis­ti­scher, phy­si­scher und poli­ti­scher Natur, ist er ein geis­ti­ger Mensch, der die Poli­tik nicht ver­ding­licht, son­dern vergeistigt.

Die Zuge­hö­rig­keit zu einem der unter­schied­li­chen poli­ti­schen Typen ist nicht das Ergeb­nis irgend­ei­ner bewuß­ten Ent­schei­dung, son­dern eine vom geis­ti­gen Niveau des ein­zel­nen beding­te Gesetz­mä­ßig­keit. Ob jemand libe­ral, kon­ser­va­tiv, sozia­lis­tisch oder natio­na­lis­tisch wird, d.h. in wel­che der von der kon­ven­tio­nel­len Poli­to­lo­gie eta­blier­ten Kate­go­rien er sich ein­reiht, das hängt von sei­ner Erzie­hung, sei­nem Milieu, von den ihm wider­fah­re­nen Erleb­nis­sen und der auf die­ser Grund­la­ge getrof­fe­nen Ent­schei­dung ab. Ob jemand aber stu­pid, posi­ti­vis­tisch, naiv, anti­tra­di­tio­nal oder tra­di­tio­nal ist, kann kei­ne Fra­ge der per­sön­li­chen Ent­schei­dung sein: Das ist die Kon­se­quenz sei­ner Daseins­be­trach­tung, wenn man so will, sei­ner »Welt­an­schau­ung«. Hier bleibt das Schwein ein Schwein, ob es dies nun will oder nicht. Unse­re Typo­lo­gie umfaßt also gleich­zei­tig eine geis­ti­ge Niveau­ein­tei­lung. Dies bedeu­tet, daß jeder ein­zel­ne sich auf sei­ner geis­ti­gen Stu­fe zur Poli­tik ver­hält. Auf der­sel­ben kön­nen sich die kon­ven­tio­nel­len poli­ti­schen Kate­go­rien abwech­seln, man kann sich also etwa ein »sozia­lis­ti­sches Schwein« oder ein »sozia­lis­ti­sches Schaf« vor­stel­len, wie auch ein »natio­na­lis­ti­sches Schwein« oder einen »natio­na­lis­ti­schen Trut­hahn«, die Vari­an­ten sind – mit gewis­sen Ein­schrän­kun­gen – fort­setz­bar, aber daß jemand ober­halb oder unter­halb sei­ner geis­ti­gen Stu­fe ein poli­ti­sches Ver­hält­nis, einen Typus reprä­sen­tiert, ist unmög­lich. Wer in geis­ti­gen Din­gen ein »Schwein« ist, der wird auch in der Poli­tik nicht tra­di­tio­nal sein, und umge­kehrt, wer in geis­ti­gen Din­gen tra­di­tio­nal ist, der kann auch poli­tisch kein »Schaf« sein.

Für den wachen Tra­di­tio­na­len ist Poli­tik nicht irgend­ein Ziel, nicht das Fül­len des eige­nen Bau­ches, nicht die Bewah­rung der Nest­wär­me poli­ti­scher Sicher­heit, nicht irgend­ei­ne äuße­re Welt­herr­schaft, son­dern exis­ten­ti­el­le Beru­fung. Er ist nicht Schwein, Schaf, Trut­hahn, und auch kein Far­mer. Er ist der Mensch.

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