und seither einen Grad an politischer Blindheit erreicht, der so oder so zur Selbstzerstörung führt: Entweder schafft sich Deutschland mit eiserner Disziplin noch im 21. Jahrhundert ab, oder es kommt zum ideologischen Zusammenbruch, der die Rückkehr der Gewalt zur unmittelbaren Folge hätte. Einen geschmeidigen, friedlichen Übergang vom linken auf einen rechten Sonderweg wird dagegen niemand mehr fnden. Dies hat einen einfachen Grund: Es fehlt am gemeinsamen Willen des Volkes, nur einer Regierung zu folgen, die nationale Interessen vertritt und ihren Teil der »Schutz-und-Gehorsam«-Vereinbarung erfüllt.
Gehorsam ohne ausreichenden Schutz scheint in der Bundesrepublik zumindest so lange zu funktionieren, wie die Mehrzahl der Bürger dieses Defizit durch selbst finanzierte Ausweichbewegungen kompensieren kann. Während es ein Staat in Zeiten wirtschaftlicher Not sofort zu spüren bekommt, wenn er keinen Schutz mehr gewährleisten kann, zieht der Bürger unserer reichen Zeit lieber in das noch sichere Viertel oder gleich aufs Land, schenkt seiner Tochter heimlich ein Pfefferspray und vermeidet den Besuch des Schwimmbades. Ernüchterung macht sich breit, aber zur Gegenwehr dürfte es nur in den seltensten Fällen kommen. Bereits 1994 schrieb der Soziologe Karl Otto Hondrich in einem Essay für die Zeit: »Wir verlassen das Zeitalter der Visionen und treten ein in eine Epoche der Entdeckungen. Zu entdecken ist, welche Macht in Wirklichkeit die Gewalt hat – und welche Bedeutung die gemeinsame Herkunft.« Hondrich zufolge nehmen Gewalt und Nationalismus zu, je offener eine Gesellschaft werde. Dies gelte jedoch nicht nur für den »rechten«, konventionellen Nationalismus, sondern ebenso für einen eigenartigen linken Sonderweg, der darin bestehe, die eigenen Ziele um den Preis der Zerstörung des großen Ganzen durchzusetzen. Lieber verteidigten die Linken, zu denen mittlerweile auch die sozialdemokratisierte Union gehöre, das deutsche Asylrecht, anstatt in kleinen Schritten und in Harmonie mit den europäischen Nachbarn ihrem Ideal einer bunten Gesellschaft näherzukommen. Ähnliches lasse sich auch beim Umwelt- und Klimaschutz, dem Mindestlohn, der Entwicklungshilfe (erneuerbare Energien für Afrika) und der Europapolitik beobachten.
»Am deutschen Wesen soll die Welt genesen« ist damit ebenfalls die Parole der Vertreter des linken Sonderweges, die allen anderen Völkern vorschreiben wollen, sich selbst zu überwinden, um die perfekte Weltgemeinschaft zu schaffen. Hondrich mahnte aufgrund dieses Größenwahns, das »Schicksal der offenen Gesellschaft« hänge von der »Einsicht in ihre Grenzen« ab. Mehr als 20 Jahre nach der Niederschrift dieser Warnung spricht nun viel dafür, daß die Utopisten die rote Linie überschritten haben. Damit kündigt sich ein Szenario an, über das Georges Sorel bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in seinen Reflexionen über die Gewalt nachdachte: Er betrachtete die Gewalt ausschließlich »unter dem Gesichtspunkt ihrer ideellen Folgen«. Zwar könne sie »den wirtschaftlichen Fortschritt stören« und »für die Moralität gefährlich sein«. Sie scheine aber dennoch »das einzige Mittel darzustellen, über das die durch die Humanitätsideen abgestumpften europäischen Nationen noch verfügen, um ihre ehemalige Energie wiederzufinden«.
Sorel war sich sicher, daß entweder die proletarische Gewalt und der imperialistische Staat frontal aufeinandertreffen oder die Konsenssucht der parlamentarischen Sozialisten und des dekadenten Bürgertums für Stillstand sorgen würden. Auf die Gegenwart übertragen: Sollte sich die AfD als eine nicht mehr zu verdrängende Kraft mit einem Potential von 20 oder 30 Prozent der Stimmen etablieren, droht ihr eine allzu freundliche Umarmung durch die etablierten Parteien. Die Mächtigen werden dann auf die Karrieristen in der AfD setzen, denen es ausreicht, wenn sie ihren Wählern eines Tages mitteilen können, es werde jetzt durch die gewonnene Reputation und Koalitionsfähigkeit etwas konsequenter abgeschoben. Ansonsten läuft freilich alles wie vorher. Da er ein solches Szenario vermeiden wollte, plädierte Sorel für den radikalen Weg einer mit Gewalt herbeigeführten Revolution. Auch wenn dieser offensive Standpunkt heute nicht einmal von Vertretern »extremistischer« Parteien geteilt wird, so steckt doch in diesem Gedankengang eine unleugbare Wahrheit über die Unmöglichkeit, eine liberale Demokratie tiefgreifend aus dem System selbst heraus zu verändern. Die Voraussetzung für das Entstehen einer revolutionären Situation ist deshalb die von den Vertretern des linken Sonderweges unfreiwillig vorangetriebene Radikalisierung unserer Gesellschaft. Nur wenn Kanzlerin Angela Merkel und ihre Partei weiter dickköpfg die Grenzen offenhalten, eine unkontrollierte Masseneinwanderung ermöglichen und nachlässig gegen kriminelle Ausländer vorgehen, besteht die Chance auf einen echten Wandel, der dann allerdings nicht friedlich ablaufen kann. Zunächst wird dann ein Kampf zu kämpfen sein, bei dem unklar ist, welche und wie viele Gruppen sich daran beteiligen.
Auch läßt sich nicht seriös einschätzen, welche neuen Machtverhältnisse sich dann herauskristallisieren. Wenn der Schriftsteller Vladimir Sorokin, der »russische Houellebecq« (FAZ), in seinem Roman Telluria über ein zersplittertes Eurasien nachdenkt, in dem es weder den radikalen Islamisten noch den gemäßigten Moslems oder den dekadenten Einheimischen gelingt, sich dauerhaft an der Macht zu halten, so mag dies auf den ersten Blick lediglich eine ziemlich verrückte Dystopie sein. Nach gründlichem Nachdenken darüber, ob denn tatsächlich eines Tages zunächst die Taliban und nach drei Jahren der Gewalt und des Elends ein moderater türkischer Kanzler das Sagen in der »Rheinisch-Westfälischen Republik« haben könnten, wird man jedoch zu dem Ergebnis kommen, daß eine solche Unterwerfung durch den physisch Stärkeren und die Zersplitterung der Macht das logische Resultat der Globalisierung des Südens sein muß. Sorokin liefert in seinem Roman auch gleich den Grund, warum selbst in einer revolutionären Situation eine plötzliche Wiedergenesung des ganzen Volkes ziemlich unwahrscheinlich ist. Er betont: »Wo, wo ist unsere Nationalidee? Diese Narren – sie verstanden nicht, daß eine Nationalidee kein Schatz hinter den sieben Bergen ist, keine Formel, kein Stoff, womit man die kranke Bevölkerung schnell mal impfen kann! Gibt es eine Nationalidee, dann lebt sie in jedem Menschen des Staates, vom Straßenkehrer zum Bankier. Gibt es sie nicht, muß sie erst gesucht werden – dann ist der Staat bereits zum Untergang verurteilt!«
Nach dem Verlust aller Visionen – der linken wie der rechten –, den wir gedanklich genauso wie Sorokin vorwegnehmen sollten, heißt dies, daß wir noch einmal völlig neu über die ideellen Folgen der Gewalt nachdenken müssen. Die Gewalt bringt kein vorher feststehendes Ergebnis. Sie ist ein Sprung ins Ungewisse, sobald sie nicht nur angedroht, sondern auch angewendet wird. Sie ist ein Zeichen von Ohnmacht, weshalb insbesondere Generationen auf sie zurückgreifen, deren Zukunft durch die Nichtexistenz anderer Lebenschancen gekennzeichnet ist. Dennoch fällt es schwer, im entscheidenden Moment zuzuschlagen. Der Historiker Jörg Baberowski erklärt in seinem Buch Räume der Gewalt, keine Idee helfe »dem Täter dabei, seine Hemmungen zu überwinden«. Er ist der Meinung, die Gewaltforschung habe sich auf einen Irrweg begeben, indem sie die Absichten und Motive der Täter zu ergründen sucht. Die inneren Dämonen seien völlig überbewertet, betont Baberowski. Vielmehr sollte man »von den Räumen sprechen, die gewalttätiges Handeln ermöglichen und begrenzen«. Sobald Menschen in solche Räume kommen, müssen sie der Logik der Gewalt folgen. Anschaulich wird diese These zum Beispiel in der international bekannten amerikanischen TV-Serie Breaking Bad. Der Protagonist der Serie, Walter White, ist ein harmloser Chemielehrer, der an
Lungenkrebs erkrankt. Um seine Behandlung bezahlen zu können und seiner Familie weiterhin ein materiell annehmbares Leben zu ermöglichen, entschließt er sich dazu, Crystal Meth zu kochen. Später, als White schon eine Weile im Drogengeschäft tätig ist, spielen diese nachvollziehbaren Absichten allerdings keine Rolle mehr. Aus dem fürsorglichen Familienvater wurde binnen kürzester Zeit ein skrupelloser Mörder, der tötete, weil dies in den Situationen, in die er sich durch sein neues Leben brachte, einfach getan werden mußte.
Während wir im Westen als Gewaltverleugner glauben, solche Situationen mit einer Armlänge Abstand umgehen zu können, zeigt die Geschichte der Bürgerkriege (in den letzten Jahren insbesondere in Afrika und dem erweiterten Mittleren Osten), daß die Gründe für den Ausbruch gewalttätiger Unruhen schnell verblassen und vielfach austauschbar sind. Letztlich kommt es wohl auf drei Faktoren an, die das Entstehen solcher Räume und Situationen verhindern:
- Die spielerische Bewältigung von Konflikten durch Maske, Mimesis und Theater: Justizminister Heiko Maas (SPD) sollte also sehr froh darüber sein, daß die deutschen Wutbürger fleißig »Haßkommentare« in sozialen Netzwerken hinterlassen. Allgemeiner ausgedrückt: Das tägliche, private und öffentliche Kommunikations- und Mediengeplänkel sorgt für die Illusion, die eigene Kritik und negative Gefühle massenwirksam ausdrücken zu können und ist doch eine sich ständig wiederholende, subtile Belehrung, wonach Gewalt keine Lösung sei. Peter Sloterdijk hat recht,
wenn er betont, die deutsche Nation sei ein Kollektiv, »dem es gelingt, gemeinsam Unruhe zu bewahren«. Diese Unruhe führt jedoch zu keiner Reaktion. Durch den nach außen wirkungslosen Abbau von Aggressionen über spielerische Ersatzhandlungen wird das Erreichen der Schmerzgrenze und damit eine gezielte Gegenwehr verhindert. - Eine Kultur der Distanz: Die Würde der Abstände zählt zu den wichtigsten sozialethischen Prämissen des Abendlandes. Ihre Mißachtung durch die bewußt unkontrollierte Durchmischung von Menschen verschiedenster Herkunft wird nur so lange gutgehen, wie die anonyme Massengesellschaft in einem rein technischen Sinne funktioniert. Zweifel daran, ob dies gelingt, sind durchaus angebracht, weil die Vertreter des linken Sonderweges aus allen in Deutschland lebenden Menschen eine Gesinnungsgemeinschaft kreieren wollen. Die Grenze jeder Gemeinschaft verläuft aber dort, »wo echte Liebesmöglichkeit praktisch aufhört« (Helmuth Plessner). Selbst ein durch gemeinsame Abstammung verbundenes Volk verhält sich nur friedlich aufgrund der gesellschaftlichen Sphäre des Rechts und der Öffentlichkeit, die den »Verkehr zwischen unverbundenen Menschen« regelt.
- Das Gewaltmonopol des Staates sowie seine »soft power«: Sobald der Staat sein Gewaltmonopol verliert, hört er auf zu existieren. Darüber hinaus erfüllt seine »soft power« eine Doppelfunktion: Sie muß zur Verdrängung der Gewaltfrage beitragen und zugleich die Furcht der Menschen, einander zu töten, aufrechterhalten, damit das übervorsichtige Verhalten der Deutschen bestehen bleibt, das sie zu einem harmlosen Volk macht. Ein Beispiel für den Einsatz von »soft power«: Sportverbände, die Orte des (geregelten) Wettkampfes sind, erhalten von der Bundesrepublik nur dann Fördergelder, wenn sie das ideologische Programm der Integration und Inklusion mittragen. Deutlich größere Beträge und Anstrengungen sind allerdings noch nötig, um die Masse der Einwanderer zur Gewaltlosigkeit zu erziehen. Experten wie der Kriminologe Christian Pfeiffer zeigen sich dennoch zuversichtlich, daß dies mit einer Armada von Psychotherapeuten und Sozialarbeitern schon irgendwie möglich sei.
Die entscheidende Frage der nächsten Jahre ist daher, ob es mit dem brüchig gewordenen Gewaltmonopol des Staates, der Aufrechterhaltung des derzeitigen Wohlstandsniveaus, immer ausgefeilterer Überwachungs- und Sicherheitstechnik, der Verweiblichung des Mannes sowie einer Erziehung zum Weltbürger gelingt, das Aufkommen von Zwischengruppenaggressionen, die das System in Frage stellen, zu verhindern. Das Sicherheitsprinzip der westlichen Welt ist dabei sogar darauf angewiesen, sich durch Scheinangriffe ständig selbst zu stabilisieren und punktuell zu erneuern.
Terroristische Einzeltäter und konventionelle Kriminelle, die individualistische Aggressionen ausleben, bestärken regelmäßig die Mehrheit des Volkes, ihrer Regierung trotz etlicher anderer Enttäuschungen doch noch zu vertrauen, weil scheinbar nur die derzeit Regierenden in der Lage sind, für allgemeine Sicherheit zu sorgen, und weil in unsicheren Zeiten kein normaler Mensch Experimente beginnen möchte. Eine Änderung dieses Status Quo ist nur zu erwarten, wenn sich die Rahmenbedingungen verschlechtern. Laut dem Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung nimmt die Zahl der gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Welt parallel zur Bevölkerung zu, was zu einem simplen Zusammenhang führt: Je mehr Menschen, desto mehr Kriege und Konflikte, und deshalb tendenziell auch mehr Flüchtlinge, die in anderen Gesellschaften unterkommen müssen. Die ökonomischen Rahmenbedingungen für diese entorteten Menschen ändern sich nun ebenfalls in dramatischer Weise: Während durch die Globalisierung die Staaten der Welt (außer diejenigen der »untersten Milliarde«) tendenziell näher zusammenrücken, das heißt, die Schere zwischen armen und reichen Staaten nicht mehr so weit auseinanderklafft, entwickeln sich die Lebenschancen der Menschen genau umgekehrt. Die Schere zwischen armen Menschen, die überflüssig sind oder ausgebeutet werden und die »Drecksarbeit« verrichten müssen, und den reichen Profteuren der Globalisierung öffnet sich immer weiter.
Zum einen schwindet deshalb in jeder Gesellschaft das gegenseitige Vertrauen der Menschen, das Sozialkapital. Zum anderen bleiben die Armen, die in reiche Länder migrieren, weiterhin Verlierer und werden eben dort als billige Arbeitskräfte ausgenutzt, wenn sie denn überhaupt eine Anstellung fnden. Das Frustrationspotential für die Armen ist in den reichen Ländern folglich mindestens genauso groß wie in ihrer Heimat. Der Klassenkampf vermengt sich daher mit dem Völkerkampf, doch es bleibt die Frage, wo dieser ausgetragen wird und wer die Opferbereitschaft besitzt, daran teilzunehmen. Wird der fehlende Wille der pazifistisch erzogenen Linken, das eigene Leben für ihre Sache einzusetzen, das Ende ihres Sonderweges besiegeln? Selbst wenn sie im entscheidenden Moment zur Waffe greifen sollten, werden sie ihr utopistisches Weltbild verraten müssen und deshalb genauso enden wie die DDR-Führung 1989 und die russischen Kommunisten.