Daschitschews neues Buch

Erschiene Wjatscheslaw Daschitschews Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik zum jetzigen Zeitpunkt,... 

wüß­te jeder sofort, wor­um es geht: Wla­di­mir Putin, die Renais­sance des expan­si­ven Ruß­lands, rus­si­sche Aggres­si­on im Nahen Osten und anders­wo. Voll dane­ben. Das Buch ist seit 2002 auf dem Markt. Damals war Putin zwar schon zwei Jah­re Prä­si­dent, doch vom Griff nach neu­er Macht war (noch) kaum etwas zu spü­ren. Zudem hat Das­chit­schew bereits die 90 über­schrit­ten; da geht der Blick eher zurück denn nach vorn. Sein Inter­es­se gilt nicht dem neu­en Ruß­land, son­dern der unter­ge­gan­ge­nen Welt­macht Sowjet­uni­on, ihrer Außen­po­li­tik und dem mis­sio­na­ri­schen Hege­mo­nie­stre­ben eines ideo­lo­gi­schen Impe­ri­ums. Das zeigt auch sein neu­es, mit fast 600 Sei­ten volu­mi­nö­ses Werk Von Sta­lin zu Putin, erschie­nen im Ares-Ver­lag (580 S., 69.90 €).

Fas­zi­niert vom Sozia­lis­mus, des­il­lu­sio­niert von sei­ner rea­len Erschei­nung, abge­sto­ßen von allem, was bis­lang auf ihn folg­te – so lie­ße sich Das­chit­schews Welt­an­schau­ung nach bald einem Jahr­hun­dert Prä­senz auf dem Pla­ne­ten zusam­men­fas­sen. Der His­to­ri­ker und Poli­to­lo­ge, Front­kämp­fer und Off­zier im Welt­krieg wur­de 1925 als Sohn eines Off­ziers der Roten Armee in Mos­kau gebo­ren. Er war zehn Jah­re alt, als die ers­ten Kame­ra­den sei­nes Vaters abge­holt und erschos­sen wur­den. Ein Kom­man­deur hier, ein Stell­ver­tre­ter dort. Für den Fall der Fäl­le hat­te der Vater immer einen klei­nen gepack­ten Kof­fer dabei. 1938 wur­de auch er nach Mos­kau zurück­ge­ru­fen. Die Fami­lie beglei­te­te ihn; jedes Mal, wenn im Zug jemand an die Abteil­tür klopf­te, zuck­te der Vater zusam­men. Doch erst 1942, nach­dem er Sta­lin in einem pri­va­ten Gespräch scharf kri­ti­siert hat­te, kam er wirk­lich in Haft – elf Jah­re lang. Der Sohn erfuhr es 1944; bis dahin hat­te er geglaubt, der Vater sei bei den Par­ti­sa­nen oder mit einem Spe­zi­al­auf­trag unter­wegs. Er selbst kämpf­te zu jener Zeit im Süden der Ukrai­ni­schen Front, nahm 1944 an der Befrei­ung der Krim teil und wur­de, da er bereits gut Deutsch sprach, als Über­set­zer eingesetzt.

Damals wuchs in ihm ein Ziel: Soll­te er die Höl­le über­le­ben und aus dem Krieg heim­keh­ren, so wür­de er sein Leben dem Kampf gegen jede Form von Hege­mo­ni­al­po­li­tik wid­men. Bis es zu dem Kampf kam, soll­ten Jahr­zehn­te ver­ge­hen. Nach dem Krieg begann er ein Geschichts­stu­di­um, dann eine Kar­rie­re als Redak­teur der Zeit­schrift Mili­tär­wis­sen­schaft, Abtei­lungs­lei­ter im Mili­tär­his­to­ri­schen Maga­zin und schließ­lich, bis 1990, Abtei­lungs­lei­ter am Insti­tut für inter­na­tio­na­le wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche Stu­di­en der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten. So ereig­nis­los sei­ne Lauf­bahn nach außen hin auch ver­lief, so form­ten sich in Das­chit­schews Inne­rem der­weil doch Über­zeu­gun­gen, die mit der off­zi­el­len Ver­si­on, wie Geschich­te zu ver­ste­hen und zu erklä­ren sei, nur noch wenig gemein hatten.

Michail Gor­bat­schows revo­lu­tio­nä­re Poli­tik trieb den Kor­ken aus der Fla­sche. »Mit dem Beginn der Pere­stroi­ka im Jahr 1985 war die Unwahr­heit in der Inter­pre­ta­ti­on der Grün­de für den Abschluß des Nicht­an­griffs­pakts von 1939 […] nicht mehr trag­bar«, schreibt Das­chit­schew. Das galt nicht nur für den deutsch-sowje­ti­schen Nicht­an­griffs­pakt. Es ist beein­dru­ckend, mit wem der Abtei­lungs­lei­ter eines Insti­tuts der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten sich im Namen der Wahr­heit alles anleg­te: die Pro­pa­gan­da­ab­tei­lung des ZK der KPdSU, Medi­en wie Praw­da, Nowos­ti oder Kras­na­ja Swjes­da. Von Sta­lin zu Putin ist nur zum Teil bio­gra­phisch. Das­chit­schew dis­ku­tiert vor allem sei­ne Bewer­tung der sowje­ti­schen Außen­po­li­tik. Detail­liert setzt er sich mit der lan­ge Zeit gän­gi­gen Sicht­wei­se der Vor­ge­schich­te des Hit­ler-Sta­lin-Pakts aus­ein­an­der. Für den deut­schen Leser fast noch inter­es­san­ter, legt er die Hin­ter­grün­de der sowje­ti­schen Deutsch­land­po­li­tik der Nach­kriegs­zeit bis zu den soge­nann­ten Sta­lin-Noten an die West­mäch­te 1952 dar.

Im März 1987 wird Das­chit­schew, der zu jener Zeit bereits als »Häre­ti­ker« und Geg­ner der sta­lin­schen Außen­po­li­tik gilt, zum Vor­sit­zen­den des kon­sul­ta­ti­ven Wis­sen­schaft­li­chen Bei­rats bei der Abtei­lung für die sozia­lis­ti­schen Län­der des UdSSR-Außen­mi­nis­te­ri­ums beru­fen. Trotz des Tabus, die »deut­sche Fra­ge« über­haupt zu erör­tern, setz­te Das­chit­schew das The­ma bereits zwei Mona­te spä­ter auf die Tages­ord­nung einer Kon­fe­renz. Eini­ge Mona­te lang konn­ten sei­ne Wider­sa­cher die Ver­an­stal­tung hin­aus­zö­gern; am 27. Novem­ber 1987 fand die Kon­fe­renz in Mos­kau statt. Zu den sechs dis­ku­tier­ten Vari­an­ten einer Lösung der deut­schen Fra­ge gehör­te auch Num­mer drei: »ein ver­ei­nig­tes, in das west­li­che Bünd­nis inte­grier­tes Deutsch­land«. Ein Jahr spä­ter lud der Lei­ter der Abtei­lung Inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen im ZK der KPdSU, Valen­tin Falin, ver­schie­de­ne Res­sorts zu einer Kon­fe­renz, auch den KGB und die Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten. Das The­ma lau­te­te »Gesamt­eu­ro­päi­sches Haus«. Das­chit­schew, inzwi­schen Gor­bat­schows Deutsch­land-Bera­ter, argu­men­tier­te, ein sol­ches Haus sei bei anhal­ten­der Spal­tung sowohl des Kon­ti­nents als auch Deutsch­lands unrea­lis­tisch. Er fol­ger­te: Der Ost-West-Kon­flikt und die Tei­lung Euro­pas und Deutsch­lands scha­de­ten den Inter­es­sen der Sowjetunion.

Falin, der von 1971 bis 1978 sowje­ti­scher Bot­schaf­ter in Bonn gewe­sen war, reagier­te ver­är­gert, warf den USA vor, schuld am Kal­ten Krieg zu sein, und ver­ließ den Saal. In der Tat ent­wi­ckel­te er sich immer stär­ker zum kon­ser­va­ti­ven Gegen­spie­ler und nahm 1990 an den ent­schei­den­den Ver­hand­lun­gen zur Wie­der­ver­ei­ni­gung nicht mehr teil. Im Früh­jahr 1989 lag Das­chit­schews »Kon­zep­ti­on des gesamt­eu­ro­päi­schen Hau­ses und die deut­sche Fra­ge« bei Gor­bat­schow und sei­nem Außen­mi­nis­ter Sche­ward­n­ad­se auf dem Schreib­tisch. Dar­in beton­te er, daß ein neu­tra­les, wie­der­ver­ei­nig­tes Deutsch­land an der man­geln­den Zustim­mung der West­mäch­te und der deut­schen Bun­des­re­gie­rung schei­tern wür­de. Zen­tra­les Ziel der Sowjet­uni­on müs­se aber die Been­di­gung des Kal­ten Krie­ges und des Ost-West-Kon­flikts sein. Einen Umstand, der im Wes­ten lei­der zuwe­nig Beach­tung fin­det, streicht Das­chit­schew bewußt her­aus: Die Sowjet­uni­on hat den Kal­ten Krieg nicht ver­lo­ren. Ihr Zusam­men­bruch ein Jahr spä­ter war weder zum Zeit­punkt der deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung Anfang Okto­ber noch bei der Unter­zeich­nung der Char­ta von Paris im Novem­ber 1990 auch nur absehbar.

Es war der Mos­kau­er Putsch der sta­li­nis­ti­schen Hard­li­ner im Som­mer 1991, der das Ende ein­lei­te­te. Es gab in Ruß­land kei­ne Kapi­tu­la­ti­on und kei­ne Stun­de Null; die Kämp­fer sind arm und hung­rig, aber unge­bro­chen, vom Feld gezo­gen. Für das, was kam, und damit auch für unse­re Gegen­wart, hat Das­chit­schew wenig gute Wor­te. Prä­si­dent Jel­zin und sein Team hält er für bour­geoi­se Knall­char­gen, Lei­chenfled­de­rer des Sozia­lis­mus, die ein begon­ne­nes Werk – die Pere­stroi­ka – leicht­fer­tig über Bord war­fen, um ihr Land dem Raub­tier­ka­pi­ta­lis­mus zu opfern. Daß die Ein­füh­rung der Markt­wirt­schaft als Vor­be­din­gung der rus­si­schen Wie­der­ge­burt so unab­ding­bar war wie Putins Wie­der­her­stel­lung der Ver­ti­ka­len der Macht, erkennt Das­chit­schew nur wider­wil­lig an. Wie er über­haupt Wla­di­mir Putin, anders als der Buch­ti­tel sug­ge­riert, kaum wahr­zu­neh­men scheint. Die Schran­ken des Sozia­lis­mus oder eines sozia­lis­ti­schen Eta­tis­mus über­win­det Das­chit­schew nicht. Was seit 1991 geschah, kann nur Rück­schritt sein – da ist er ein Adept der his­to­ri­schen mar­xis­ti­schen Gesetze.

Daß er in Deutsch­land seit Jah­ren als Rechts­ra­di­ka­ler ein­ge­stuft wird, wur­zelt in sei­ner vehe­men­ten Kri­tik an der ame­ri­ka­ni­schen Eura­si­en­po­li­tik; das geht bis hin zu Ver­schwö­rungs­theo­rien. Wie vie­le Rus­sen, nicht nur in sei­ner Gene­ra­ti­on, ist er ein kom­pro­miß­lo­ser Geg­ner des ame­ri­ka­ni­schen Uni­ver­sa­lis­mus und aller For­men der dar­auf fußen­den neo­kon­ser­va­ti­ven Poli­tik. Das bringt ihn in Distanz zu trans­at­lan­ti­schen Krei­sen in Deutsch­land und West­eu­ro­pa. Wenn ihm der deut­sche Ver­fas­sungs­schutz das Eti­kett »rechts­extrem« anhef­tet, dann, weil er vor den fal­schen Leu­ten auf­tritt, mit den fal­schen Leu­ten auf der Büh­ne sitzt. Berüh­rungs­ängs­te läßt Das­chit­schew jeden­falls kei­ne mehr gel­ten. Wer in einer Zeit auf­wuchs, als die Eltern für ein fal­sches Wort abge­holt und erschos­sen wur­den, der wird sich, wenn er auch nur die kleins­te Chan­ce dazu erhält, im Leben kei­ner poli­ti­schen Kor­rekt­heit mehr beugen.

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