unter den Intellektuellen Frankreichs. Ängstlich fragte er, ob diese »die Schlacht der Ideen« bereits gewonnen hätten. Illustriert war der Artikel mit einer Karikatur, die Alain Finkielkraut, Éric Zemmour, Richard Millet und Michel Houellebecq zeigte, wie sie mit vereinten Kräften an einem Seil Richtung rechts ziehen. In Anspielung auf die berüchtigte Zeitschrift Je suis partout aus den dreißiger und vierziger Jahren schrieb Truong: »Sie sind überall!« Dies behaupten jedenfalls die Gegner der »Neoreaktionäre«, während sie gleichzeitig unermüdlich beteuern, daß deren Weltsicht völlig randständig und ihre Anhängerschaft inexistent sei. Ihre Schriften erfreuen sich indes eines stetig wachsenden Erfolgs. Die »Neoreaktion« deckt die Realität all dessen auf, was das Potential hat, die Macht der progressistischen Linken und ihren Glauben an die »offene Gesellschaft« zu brechen. Ihre Feinde sind die Dekonstrukteure der Welt des traditionellen Lebens, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Abendland die Macht ergriffen haben. Kein Wunder, daß die Neoreaktionäre zu den bevorzugten Prügelknaben eines in die Enge getriebenen Systems geworden sind, Akteure einer Farce, die ständig dasselbe Szenario hervorbringt: Auf die mediale Anklage folgen der öffentliche Pranger und die soziale Ausgrenzung.
Der typische Vertreter dieses Genres ist der Journalist Éric Zemmour, der von der Linken als Erbe von Maurras, Barrès oder Drumont hingestellt wird. Er verdankt seinen Erfolg vor allem seinen zahlreichen Fernsehauftritten. Obwohl er sich immer noch in mehreren Medien äußern darf, wird er aufgrund seiner Aussagen am laufenden Band von der Justiz verfolgt; so wurde er etwa 2011 wegen »Aufstachelung zum Rassenhaß« zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er in einer Fernsehsendung konstatiert hatte, daß »die Mehrheit der Drogendealer Schwarze oder Araber« seien. Während seine Ansichten über Frauen, Rassen (er hält daran fest, daß sie existieren) und den Islam regelmäßig die linken Konformisten schockieren, bezeugt der Erfolg seines Buches Le Suicide français (Der Selbstmord Frankreichs), daß er ein großes Publikum auf seiner Seite hat. Darin kritisierte Zemmour die Fehlentwicklungen der letzten vierzig Jahre, die seiner Meinung nach Frankreich »zerstört« haben: Einwanderung, permissive Ideologie und eine falsche Kulturpolitik. Die Gedankenpolizei macht auch vor der Belletristik nicht halt. Trotz der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, die ihr auf dem Papier zusteht, wird auch sie mit den Füßen getreten. Die repressiven Mächte hassen die Literatur, deren Wesen sie nicht verstehen, und reduzieren die vielschichtige Kunst des Erzählens auf einen eindimensionalen Diskurs. In diesem Bereich ist Michel Houellebecq das Musterbeispiel. Seit über zwanzig Jahren verspottet er mit jedem neuen Roman die heiligen Kühe unserer Zeit: das Erbe von 1968, den Transhumanismus, den Islam. Auch der im Januar 2015 erschienene Roman Unterwerfung hat heftige Kontroversen provoziert. Der französische Premierminister Manuel Valls verdammte ihn höchstpersönlich.
Schon Solschenizyn hatte 1972 in seiner Nobelpreisrede gewarnt: »Unglücklich ist das Land, in dem die Literatur vom Eingriff der Staatsmacht bedroht ist!« Diese Worte finden im heutigen Frankreich einen beunruhigenden Widerhall. Unterwerfung schildert bekanntlich, wie das Land in naher Zukunft unter die Herrschaft muslimischer Theokraten gerät. Für die Hauptfgur François bedeutet dies jedoch eine glückliche Wende, wird ihm doch eine neue Blüte seines Sexual- und Berufslebens in Aussicht gestellt. Houellebecq zeigt, daß jede beliebige politische Macht Chancen hat, von der Mehrheit akzeptiert zu werden, wenn sie den einzelnen Interessen genügend entgegenkommt – sogar, wenn es sich dabei um eine islamische Theokratie handelt, den insgeheimen Alptraum der Franzosen. Der Fall Richard Millet ist komplexer und zugleich eindeutiger gelagert: Dieser Romancier ist nicht als Geschichtenerzähler, sondern als engagierter Schriftsteller aus der Reserve getreten. Im August 2012 publizierte er einen Essay, der zwar den Titel »Literarischer Gesang auf Anders Breivik« trug, der über rein literarische Fragen jedoch weit hinausging. Indem er dem Attentat von Utøya eine »formvollendete Perfektion« zugestand, bereitete Millet den Intellektuellen Frankreichs einen gehörigen Schock. In der Tat geißelte er den Mörder, »ein exemplarisches Produkt der westlichen Dekadenz«, ebensosehr wie die Opfer des Massakers, »globalisierte, ungebildete, sozialdemokratische Kleinbürger gemischter Abstammung«. Damit war sein Todesurteil vorprogrammiert: er verlor seinen Posten als Lektor bei Gallimard und wurde in den literarischen Orkus verdammt. Am 10. September 2012 publizierte Le Monde eine Kolumne mit dem Titel »Das faschistische Pamphlet von Richard Millet entehrt die Literatur«, das von rund einhundert Schriftstellern unterzeichnet wurde.
Des weiteren wäre Renaud Camus zu nennen, der für allem für sein seit 1985 publiziertes Tagebuch bekannt ist. Er ist der »Whistleblower« unter den Neoreaktionären und hat den Begriff des »Großen Austauschs« geprägt, der den Prozeß der Ersetzung der weißen europäischen Stammbevölkerung durch fremde Völker beschreibt. Auch wenn er sich weiterhin vor allem als Literat betrachtet, hat sich Camus dezidiert dem politischen Engagement verschrieben und trachtet danach, sein Wort in den Dienst des Kampfes um die europäische Zivilisation zu stellen. In seinen Essays warnt er dementsprechend unablässig vor dem ethnischen und kulturellen Ende Frankreichs. Eine der wenigen Persönlichkeiten im medialen Bereich, die ihn unterstützen, ist sein Freund Alain Finkielkraut. Auch er wird inzwischen den Neoreaktionären zugeordnet, obwohl sich der Philosoph und Radioproduzent selbst nach wie vor als Mann der Linken defniert. Seine Polemiken drehen sich um Themen wie kulturelles Erbe, Tradition und Identität.
Der Philosoph Michel Onfray schließlich ist ein besonders aufschlußreicher Fall. Nichts zeigt die geistige Hilflosigkeit der Linken besser, als ihre Versuche, ihn ins Lager der »Faschos« abzuschieben. Denn Onfray ist nicht gerade ein Mann, den man ernsthaft mit der extremen Rechten in Verbindung bringen kann. Die Tatsache, daß Jean-Marie Le Pen es 2002 geschafft hatte, in den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen zu gelangen, hat ihn derart schockiert, daß er als Reaktion die jedermann zugängliche Université Populaire du Caen (die »Volksuniversität von Caen«) gründete. Sein Denken nährt sich von Nietzsche und von einem Sozialismus proudhonscher Prägung. Als entschiedener Atheist hat er sowohl die katholische Kirche als auch den Islam attackiert, allerdings auch die Psychoanalyse, die er als pseudoreligiösen Schwindel betrachtet. Was hat die Wachhunde des Systems auf seine Spur gebracht? Es war wohl vor allem sein im März 2014 im Wochenmagazin Le Point lancierter Frontalangriff auf »die konfuse Gendertheorie, wie sie von der Philosophin Judith Butler popularisiert wurde«. Ein Jahr später erklärte Onfray an derselben Stelle: »Ich ziehe eine zutreffende Analyse von Alain de Benoist einer unzutreffenden von Minc, Attali oder Bernard-Henri Lévy vor; und umgekehrt würde ich eine Analyse von Lévy, die mir zutreffend erscheint, einer Analyse von Benoist, die ich unzutreffend finde, vorziehen.« Dies trug ihm prompt eine scharfe Rüge des Premierministers ein, der offenbar wenig Gefallen an der Freiheit des Denkens hat und sich ein weiteres Mal in intellektuelle Belange einmischte, von denen er keinerlei Ahnung hat.
Onfrays lapidarer Kommentar hierzu? »Manuel Valls ist ein Kretin!« Was also macht einen Intellektuellen zum »Neoreaktionär«? Ist er ein Faschist, ein Liberaler, ein Liberalkonservativer, ein Republikaner, ein Souveränist? Die Definition scheint in genau dem Maße dehnbar zu sein, wie sie benutzt wird, um Andersdenkende zu diskreditieren. Der Neoreaktionär ist, wie der Romancier Slobodan Despot im Schweizer Le Matin dimanche schrieb, im Grunde nichts weiter als ein honnête homme, »ein Ehrenmann im klassischen Sinn des Wortes«, ein gebildeter, geistig freier und aufrichtiger Kopf. Was die Verächter der Neoreaktionäre angeht, so bilden sie dagegen heute in der Tat »einen monolithischen Block, was ihre Überzeugungen und Denkfiguren betrifft«. Der vitale Pluralismus hat das Lager gewechselt. Der Koloß wankt, und sein Ende ist nah.