Vor dem Bücherschrank (XIII): Verdun als Mythos und Skandalon

Als der Bestsellerautor P.C. Ettighoffer 1931 seinen Kriegsroman Gespenster am Toten Mann betitelte,... 

Als der Best­sel­ler­au­tor P.C. Ettig­hof­fer 1931 sei­nen Kriegs­ro­man Gespens­ter am Toten Mann beti­tel­te,… 

 

konn­te er bei der Mehr­heit der Leser eines sofor­ti­gen Ver­ständ­nis­ses gewiß sein. Denn mili­tär­to­po­gra­phi­sche Begrif­fe wie »hom­me mort«, »Fleu­ry«, »Höhe 304«, »Pfef­fer­rü­cken« oder »Vaux-Schlucht« gehör­ten damals in Deutsch­land fast zum sprach­li­chen All­ge­mein­gut. Und Ver­dun, Sam­mel­na­me für all dies Grau­en einer Mate­ri­al­schlacht schlecht­hin, war zum Schlag­wort gewor­den, zum Trau­ma und Mythos. Der Name stand für Hekatom­ben ins Ver­der­ben getrie­be­ner Sol­da­ten, für den mör­de­ri­schen Wahn­witz mili­tä­ri­schen Pres­ti­ge­den­kens, für ein Höchst­maß an Men­schen­ver­ach­tung infol­ge zyni­scher Ein­falls­lo­sig­keit und blu­ti­gem Stumpf­sinn von Generalstäblern.

»Ein Schlach­ten war’s, nicht eine Schlacht zu nen­nen« notier­te, Schil­ler zitie­rend, Ernst Jün­ger in Sieb­zig ver­weht. Sig­mund Graff nann­te Ver­dun »die längs­te, ent­setz­lichs­te, trost­lo­ses­te Schlacht, die die Welt­ge­schich­te bis dahin kann­te«. Man sprach von »mili­tä­ri­scher Bank­rott­erklä­rung«, »bar­ba­ri­scher Phan­ta­sie­lo­sig­keit«, »Ent­ar­tung« und »Ende aller Stra­te­gie«. »Weil ich kein zwei­tes Ver­dun machen will«, recht­fer­tig­te Hit­ler im Novem­ber 1942 den Umstand, daß Sta­lin­grad noch immer nicht gefal­len sei. Er arti­ku­lier­te damit nur eine kol­lek­ti­ve Hor­ror­vor­stel­lung. (Daß gera­de sei­ne Durch­hal­te­tak­tik die­se Absicht dann blu­tig ver­fehl­te, steht auf einem ande­ren Blatt der Geschich­te.) Wann je sich sprach­li­che Unzu­läng­lich­keit offen­bar­te, so ange­sichts die­ses Todesrachens
(Franz Schau­we­cker), der sich im Febru­ar 1916 an der Maas geöff­net hat­te. Das Wort weck­te Haß­ge­füh­le, sporn­te zu revo­lu­tio­nä­ren Ände­run­gen an oder evo­zier­te Nibe­lun­gen­stim­mung. Auch stell­te der Name die­ses Schlacht­ter­rains wie kein ande­res Stich­wort des Welt­kriegs die Sinn­fra­ge. Hier schien es buch­stäb­lich ums Heil gegan­gen zu sein oder um das Ein­ge­ständ­nis, daß von die­ser Welt, Exis­tenz oder Gesell­schaft kein Heil zu erwar­ten sei. Und so lau­te­te denn auch 1932 ein bezeich­nen­der Buch­ti­tel des kom­mu­nis­ti­schen Schrift­stel­lers Hans March­witza:
Vor Ver­dun ver­lor ich Gott.

Wie kam die­ser Ort zu sei­nem Schre­ckens­ruf? Zunächst ein­mal hat­te es nie­mals bis­her so vie­le Gefal­le­ne und Ver­wun­de­te auf so begrenz­tem Raum gege­ben – Opfer, die zu bekla­gen waren um eines kurz­fris­ti­gen Gelän­de­ge­winns von nicht ein­mal zehn Kilo­me­tern wil­len. Doch Ver­lust­zif­fern allein, wie sehr man die ohne­hin schreck­li­chen Zah­len durch legen­da­ri­sche Über­trei­bun­gen auch noch zusätz­lich ver­grö­ßer­te, begrün­den nicht die maka­bre Auf­merk­sam­keit, die Ver­dun in Deutsch­land genoß. Die Som­me-Schlacht war in ihrem Mas­sen­ver­brauch an Leben noch gewal­ti­ger; aber im düs­te­ren Sym­bol­wert blieb Ver­dun uner­reicht. Auch die Erfah­rung »Ver­dun« wirk­te nach­hal­tig. Schon Zeit­ge­nos­sen der Schlacht beklag­ten ihren desas­trö­sen Effekt auf die Moti­va­ti­on. Denn nach rund zehn Mona­ten der Haupt­kämp­fe war die deut­sche Armee nicht mehr die glei­che wie frü­her. Die alten Offi­ziers- und Unter­of­fi­ziers­korps waren viel­fach zer­schla­gen. Wider­stands­kraft und Dis­zi­plin hat­ten deut­lich gelit­ten zuguns­ten zuneh­mend fata­lis­ti­scher Gleich­gül­tig­keit. Nicht zuletzt der Umstand, daß der Aus­gang des Unter­neh­mens schon frü­her erahnt wer­den konn­te und den­noch Kon­se­quen­zen unter­blie­ben, erschüt­ter­te das Ver­trau­en der Front­kämp­fer in die Füh­rung. Ver­dun hat­te denn auch unmit­tel­ba­re stra­te­gi­sche und poli­ti­sche Fol­gen in der Zeit zwi­schen den Welt­krie­gen. So setz­ten maß­geb­li­che Mili­tärs der Wehr­macht alles dar­an, nicht noch­mals einen sol­chen Stel­lungs­krieg füh­ren zu müs­sen. Die kon­zep­tio­nel­le Aus­rich­tung auf schnel­le, raum­über­win­den­de Waf­fen, auf Pan­zer und Stukas, auf »Feu­er und Bewe­gung«, hat in sol­chen Erfah­run­gen ihre Quel­le. Die Fran­zo­sen hin­ge­gen, die in Ver­dun ja einen stol­zen Abwehr­erfolg erstrit­ten hat­ten, ten­dier­ten auch von daher zu einer Fes­tungs­ideo­lo­gie, die in der Magi­not­li­nie ihren höchs­ten Aus­druck fand. Ein wei­te­rer Beweis für die Tat­sa­che, daß aus Geschich­te zugleich alles oder nichts zu ler­nen ist.

Die fol­gen­de Betrach­tung – mehr als Streif­lich­ter kön­nen es in die­sem Rah­men nicht sein – kon­zen­triert sich auf gut zwei Jahr­zehn­te einer Lite­ra­tur­kon­tro­ver­se, in denen Ver­dun noch in aller Mun­de war, bevor es in unse­rem Kol­lek­tiv­ge­dächt­nis durch ande­re Schre­ckens­or­te wie Sta­lin­grad, Ausch­witz oder Hiro­shi­ma ent­thront wur­de. Mus­tern wir die damals popu­lärs­ten lite­ra­ri­schen Dar­stel­lun­gen, fällt drei­er­lei auf:

  1. ein von Pazi­fis­ten wie Bel­li­zis­ten prak­ti­zier­ter Veris­mus, der uns die Kämp­fe in all ihrer Scheuß­lich­keit nahebringt,
  2. eine zwi­schen Abschre­ckung und Heroi­sie­rung pen­deln­de Wir­kungs­ab­sicht, die meist nur über die Behand­lung der Sinn­fra­ge zu unter­schei­den ist,
  3. eine gewis­se mor­bi­de Fas­zi­na­ti­on und mythi­sche Ver­fal­len­heit an die spe­zi­fi­sche Sze­ne­rie von Verdun.

Für Pazi­fis­ten domi­nier­te als Bot­schaft ein »Nie wie­der!« gemäß Erich Käst­ners Mah­nung von 1932:

Auf den Schlacht­fel­dern von Verdun
fin­den die Toten kei­ne Ruhe.
Täg­lich drin­gen dort aus der Erde
Hel­me und Schä­del, Schen­kel und Schuhe.
Über die Schlacht­fel­der von Verdun
lau­fen mit Schau­feln bewaff­ne­te Christen,
keh­ren Rip­pen und Köp­fe zusammen
und ver­frach­ten die Hel­den in Kisten.
Oben am Denk­mal von Douaumont
lie­gen zwölf­tau­send Tote im Berge.
Und in den Kis­ten war­ten achttausend
Män­ner ver­geb­lich auf pas­sen­de Särge.
[…]
Zwi­schen Ähren und gel­ben Blumen,
zwi­schen Unter­holz und Farnen
grei­fen Hän­de aus dem Boden,
um die Leben­den zu warnen.
Auf den Schlacht­fel­dern von Verdun
wach­sen Lei­chen als Vermächtnis.
Täg­lich sagt der Chor der Toten:
›Habt ein bes­se­res Gedächtnis!‹

Die radi­ka­le Lin­ke in Wei­mar ver­schärf­te die Ankla­ge durch den Vor­wurf, Ver­dun sym­bo­li­sie­re in beson­de­rem Maße die Absur­di­tät des Krie­ges. Per Kom­plott skru­pel­lo­ser Pro­fi­teu­re sei­en Hun­dert­tau­sen­de völ­lig ver­ant­wor­tungs­los geop­fert wor­den. Exem­pla­risch für vie­le schrieb Tuchol­sky 1924 in der Welt­büh­ne: »Drü­ben liegt das Fort Douau­mont, das über­ra­schend fiel; da die Höhe 304; da das Fort de Tavan­nes. Teu­re Namen, wie? Einem alten Sol­da­ten, der hier gestan­den hat und leben­dig her­aus­ge­kom­men ist, muß merk­wür­dig zumu­te sein, wenn er jetzt die­se Gegend wie­der­sieht, still, stumpf, kein Schuß. Weit da hin­ten am Hori­zont raucht das, was dem deut­schen Idea­lis­mus 1914 so sehr gefehlt hat: das Erz­la­ger von Briey. Und wir fah­ren wei­ter. Die Sturm­rei­hen sind in die Erde ver­sun­ken, die armen Jun­gen, die man hier vor­ge­trie­ben hat, wenn sie hin­ten als Muni­ti­ons­dre­her aus­ge­dient hat­ten. Hier vorn arbei­te­ten sie für die Fabrik­her­ren viel bes­ser und wir­kungs­vol­ler. Die Rüs­tungs­in­dus­trie war ihnen Vater und Mut­ter gewe­sen; Schu­le, Bücher, die Zei­tung, die drei­mal ver­fluch­te Zei­tung, die Kir­che mit dem in den Lan­des­far­ben ange­stri­che­nen Herr­gott – alles das war im Besitz der Indus­trie­ka­pi­tä­ne, ver­teilt und kon­trol­liert wie die Akti­en­pa­ke­te. Der Staat, das arme Luder, durf­te die Natio­nal­hym­ne sin­gen und Krieg erklä­ren. Gemacht, vor­be­rei­tet, geführt und been­det wur­de er anders­wo. Und die Eltern? Dafür Söh­ne auf­ge­zo­gen, Bett­chen gedeckt, den Zei­ge­fin­ger zum Lesen geführt, Erben ein­ge­setzt? Man müß­te glau­ben, sie sprä­chen: Weil ihr uns das ein­zi­ge genom­men habt, was wir hat­ten, den Sohn – dafür Ver­gel­tung! Den Sohn, die Söh­ne haben sie ziem­lich leicht her­ge­ge­ben. Steu­ern zah­len sie weni­ger gern. Denn das Ent­ar­tets­te auf der Welt ist eine Mut­ter, die dar­auf noch stolz ist, das, was ihr Schoß ein­mal gebo­ren, im Schlamm und Kot umsin­ken zu sehen. Bild und Orden unter Glas und Rah­men – ›mein Arthur!‹«

Den durch­gän­gi­gen Vor­wurf der Lin­ken, man habe sich 1914/18 nur vor den Kar­ren öko­no­mi­scher Inter­es­sen span­nen las­sen, for­mu­lier­te Arnold Zweig 1935 in Erzie­hung vor Ver­dun pro­gram­ma­tisch. Sol­che Kapi­ta­lis­mus­kri­tik ver­band sich mit der­je­ni­gen an Schlacht­feld­tou­ris­mus und (poli­tisch) prof­ta­blem Toten­kult. Das gilt z.B. für Johan­nes R. Bechers Der Ban­kier rei­tet über das Schlacht­feld (1926) oder Hans Chlum­bergs Wun­der um Ver­dun (1932). »Ster­ben für Thys­sen«? Natür­lich prof­tie­ren (Rüstungs-)Industrien gewal­tig von Krie­gen. Den­noch kämpf­ten vie­le Deut­sche nicht nur aus unbe­dach­ter Loya­li­tät und plu­to­kra­ti­scher Ver­het­zung, leuch­te­te ihnen doch ein, daß sie von einem inter­na­tio­nal respek­tier­ten, mili­tä­risch nicht nie­der­ge­run­ge­nen Staat auch per­sön­lich erheb­li­che Vor­tei­le hat­ten. Oder sie ahn­ten, was bei einer Nie­der­la­ge für Deutsch­land auf dem Spiel stand. Daß der Gesamt­scha­den des Kriegs aller­dings für alle Teil­neh­mer – mit Aus­nah­me der USA, die zur domi­nie­ren­den Welt­macht auf­stie­gen, und eini­ger nun selb­stän­di­ger gewor­de­ner Staa­ten – jeden poten­ti­el­len Nut­zen über­stieg, zeig­te sich erst durch sei­nen Ver­lauf. Und was den Sinn betrifft? Natür­lich ging es nicht um die unent­scheid­ba­re (existenz)philosophische, son­dern um eine poli­ti­sche Fra­ge. Der ers­te im Krieg Ver­stüm­mel­te stell­te sie, ein töd­lich getrof­fe­ner Fami­li­en­va­ter eben­so wie eine im Steck­rü­ben­win­ter 1917 ver­hun­gern­de Grei­sin. Und es war gewiß not­wen­dig, das Ver­hält­nis des ein­zel­nen zum Staat neu zu jus­tieren. Doch die seit damals kur­sie­ren­de pau­scha­le Sinn­lo­sig­keits­er­klä­rung aller Kriegs­tä­tig­keit ver­riet all­zu deut­lich ihre geschichts­po­li­ti­sche Wir­kungs­ab­sicht. Schließ­lich beru­hen dar­in bis heu­te dras­ti­sche natio­na­le Unter­schie­de im Urteil. Unbe­schränkt gilt die Wer­tung »sinn­los« näm­lich nur für deut­sche Sol­da­ten, wäh­rend Eng­land, Frank­reich oder die USA – folgt man ihren eige­nen Deu­tungs­mus­tern – »gro­ße«, qua­si Mis­si­ons­krie­ge füh­ren und ent­spre­chen­den Denk­mals­kult trei­ben (dür­fen). Geschich­te schreibt nun mal gene­rell der Sie­ger. Und bei ande­rem Aus­gang hät­ten wir natür­lich eine ande­re Auf­fas­sung vom Welt­krieg, ver­gleich­bar der­je­ni­gen der Fran­zo­sen, Ame­ri­ka­ner oder Eng­län­der, deren Pre­mier­mi­nis­ter noch jüngst im Krieg bri­ti­sche Wer­te ver­tei­digt sah. Ein Staats­ober­haupt wie Joa­chim Gauck in sei­nem Schuldex­hi­bi­tio­nis­mus fie­le in jedem ande­ren Land der Lächer­lich­keit anheim.

In der Wei­ma­rer Repu­blik jeden­falls fan­den der­ar­ti­ge Anti­kriegs­at­ta­cken enra­gier­te Geg­ner, ins­be­son­de­re als Reak­ti­on auf Remar­ques Im Wes­ten nichts Neu­es. So erklärt sich die Flut zwi­schen 1929 und 1931 erschie­ne­ner Ver­dun-Tex­te mit meist deut­lich kon­tra­dik­to­ri­scher Ten­denz: Fried­rich Leh­manns Wir von der Infan­te­rie (1929), Alfred Heins Eine Kom­pa­gnie Sol­da­ten. In der Höl­le von Ver­dun (1929), Eber­hard Wolf­gang Möl­lers Douau­mont oder die Heim­kehr des Sol­da­ten Odys­seus (1929), Georg Buch­ers West­front 1914–1918 (1930), Josef Magnus Weh­ners Sie­ben vor Ver­dun (1930), Franz Schau­we­ckers Auf­bruch der Nati­on (1930), Wer­ner Beu­mel­burgs Die Grup­pe Bose­mül­ler (1930), Sig­mund Graffs und Carl Ernst Hint­zes Die end­lo­se Stra­ße (1930), Paul Coeles­tin Ettig­hof­fers Gespens­ter am Toten Mann (1931) oder Hans Zöber­leins Der Glau­be an Deutsch­land (1931).

Ver­dun bekam nun einen zuneh­mend posi­ti­ven Sym­bol­wert. So bean­spruch­te Weh­ner, es sei damals gera­de an einem so geschichts­träch­ti­gen Ort um den ewi­gen Schick­sals­kampf des Deut­schen Vol­kes gegan­gen, um das Wie­der­erlan­gen fahr­läs­sig ver­lo­re­nen Reichs­ter­ri­to­ri­ums. Vom »heroi­schen Opfer­gang« ist bei Ettig­hof­fer die Rede: »wir tra­gen schon das Todes­zei­chen aller Front­kämp­fer unsicht­bar auf der Stirn«, vom Krieg als ele­men­tars­tem Aus­druck des Lebens, der gera­de in der Höl­le einer sol­chen Mate­ri­al­schlacht einen Blick jen­seits der Gren­zen des Daseins gewährt, in letz­te Mys­te­ri­en des Lebens ein­weiht oder aus zivi­li­sa­to­ri­scher Ein­schnü­rung befreit. Vor allem aber sah man den ideel­len Wert, unab­hän­gig vom Erfolg, in der mensch­li­chen Prü­fung und Aus­le­se. Der Sinn lie­ge im den Ein­zel­nen erhö­hen­den Opfer, in der Ent­ste­hung und Fes­ti­gung der Kame­rad­schaft als (volk­haf­te) Schick­sals­ge­mein­schaft und – poli­tisch zuge­spitzt – in der Schaf­fung eines Front­kol­lek­tivs als Leit­bild der Nach­kriegs­ge­sell­schaft. Die Sol­da­ti­schen Natio­na­lis­ten ver­war­fen das nihi­lis­ti­sche Kriegs­fa­zit pazi­fis­ti­scher Autoren vor allem aus zwei Moti­ven. Es ent­wer­te­te einen Lebens­ab­schnitt, an dem sie mit größ­tem Gefühl hin­gen und für des­sen Bewäl­ti­gung sie (wie ihre aus­län­di­schen Geg­ner) Dank­bar­keit und Respekt erwar­tet hat­ten. Hin­zu kamen Pie­täts­ge­füh­le gegen­über gefal­le­nen Kame­ra­den. Ihnen glaub­ten sie (teils mit dem schlech­ten Gewis­sen von Über­le­ben­den) Kla­ge­lie­der, Hel­den- und Opfer­ge­sän­ge schul­dig zu sein, kei­nes­wegs aber jene ver­nich­ten­de Ein­schät­zung »Umsonst gefal­len«, die dem schnö­den »Selbst schuld« so benach­bart scheint. Die Sinn­lo­sig­keits­dia­gno­se ziel­te schließ­lich dar­auf ab, gemein­schafts­be­zo­ge­nen Opfern den Nim­bus zu ver­wei­gern und Tra­gik abzu­spre­chen. In Beu­mel­burgs Das eher­ne Gesetz (1934) gel­ten alle, die »sagen, es ist ein Quatsch, sich für einen Begriff wie den Begriff Vater­land ein Loch in den Bauch schie­ßen zu las­sen« als »Lei­chen­schän­der, die auf die Grä­ber spucken«.

Kri­ti­schen lin­ken oder libe­ra­len Kriegs­dar­stel­lun­gen ist zugu­te­zu­hal­ten, daß ihre Ver­fas­ser dem natio­na­len Ansatz nach sol­chen Exzes­sen miß­trau­ten und sie eine Des­il­lu­sio­nie­rung der Moti­ve von Kriegs­teil­neh­mern für gebo­ten hiel­ten, um künf­ti­ge Fehl­ent­wick­lun­gen zu ver­mei­den. Klug und ein­füh­lend ange­sichts der damals vor­herr­schen­den Lage und men­ta­len Dis­po­si­ti­on war dies gewiß nicht. Wer jah­re­lang gedarbt, geop­fert und viel­fach gelieb­te Men­schen im Krieg ver­lo­ren hat­te, wehr­te sich mit einem gewis­sen Recht gegen die pau­scha­li­sie­ren­de Unter­stel­lung, Teil­neh­mer eines absur­den oder gar ver­bre­che­ri­schen Gesche­hens gewe­sen zu sein. Sol­che Nei­gung beschränk­te sich übri­gens nicht völ­lig auf natio­na­lis­ti­sche Tex­te. Bereits Fritz von Unruhs 1916 geschrie­be­ne Erzäh­lung Opfer­gang deu­tet Ver­dun als Gericht über eine ver­greis­te Epo­che und erwar­tet den Auf­bruch eines neu­en Men­schen zu neu­er Gemein­schaft der gan­zen Welt. Auch Edgar Maass’ 1936 geschrie­be­ner Roman Ver­dun inter­pre­tiert die geis­ti­ge Sub­stanz des Kriegs­ge­sche­hens als »Wie­der­ge­burt des Men­schen aus den Wehen der Schlacht« und als Opfer­tat in Ana­lo­gie zur Pas­si­ons­ge­schich­te. Aller­dings ver­bin­det er das Toten­ge­den­ken mit der sitt­li­chen For­de­rung nach »Taten des Frie­dens«. Ähn­li­ches gilt für Lies­bet Dills Aus­söh­nungs­ro­man Der Grenz­pfahl (1925) oder André und Ursu­la (1937), Pol­ly Maria Höflers Best­sel­ler über eine deutsch-fran­zö­si­sche Liebe.

Auch der 1936 erschie­ne­ne Roman Feld­wa­che der Lie­be des Saar­län­ders Johan­nes Kirsch­weng beschäf­tigt sich mit dem Ver­dun-Ver­mächt­nis. Sein Ver­fas­ser appel­liert hier­in ein­dring­lich an die deutsch-fran­zö­si­schen Nach­barn, es nicht noch ein­mal zum Waf­fen­gang kom­men zu las­sen. Der Roman­held stirbt an einer Blut­ver­gif­tung als Mär­ty­rer einer gro­tesk­sym­bo­li­schen Tat, hat er sich doch an der »Tran­chée des bajo­net­tes« ver­letzt beim Ver­such, die her­aus­ra­gen­den ros­ti­gen Bajo­net­te zu ent­fer­nen, um die »Feld­wa­che des Has­ses« in die der Lie­be umzu­for­men. Das Ster­be­bett sieht ihn mit frü­he­ren fran­zö­si­schen Kon­tra­hen­ten ver­eint, die sich nun künf­tig gleich­falls der Völ­ker­ver­söh­nung wid­men. Kirsch­wengs schau­er­lich-nächt­li­che Ver­dun-Sze­ne lenkt unse­ren Blick auf mehr­heit­lich natio­na­lis­ti­sche Tex­te, die mythisch und zuwei­len von einer Deka­denz-Ästhe­tik geprägt sind.

Etwas Tod­ver­liebt-Mor­bi­des schwingt in man­chen Kriegs­dar­stel­lun­gen mit, zumin­dest aber ein geschärf­tes Inter­es­se für Nacht­sei­ten des Lebens und eine Ästhe­tik des Schre­ckens, die an die poè­tes mau­dits erin­nert. Das gilt für Tei­le von Ettig­hof­fers Gespens­ter am Toten Mann oder die Zen­tral­fi­gur von Anton Betz­ners Douau­mont (1940) in ihrem vier­tel­jähr­li­chen Drang, zum Bein­haus von Ver­dun zu wan­dern, um sei­ne gefal­le­nen Kame­ra­den zu rufen. Dem Tode ver­fal­len zei­gen sich ein­zel­ne Hel­den in Beu­mel­burgs Die Grup­pe Bose­mül­ler, ins­be­son­de­re beim befoh­le­nen Rück­zug. Denn der »Berg« – gemeint ist der Douau­mont – war über Mona­te hin­weg ihr ein­zi­ges gemein­sa­mes Ziel. Als Ange­hö­ri­ge einer »ver­lo­re­nen Gene­ra­ti­on« ste­hen sie in sei­nem Ban­ne, unfä­hig zu indi­vi­du­el­ler und zivi­ler Lebens­pla­nung. Das Neu­ro­ti­sche und Nekro­phi­le, das in sol­chem Bewußt­sein zum Aus­druck kommt, wird vom Autor selbst zugleich ein­ge­stan­den und bewun­dert. Viel­leicht liegt dar­in auch eine unbe­wuß­te Reve­renz des Über­le­ben­den gegen­über den Gefal­le­nen. Zu allem paßt eine spät­ex­pres­sio­nis­ti­sche Bild­welt, die das Gesche­hen um Ver­dun sei­ner all­täg­li­chen Dimen­si­on beraubt und in eine poe­ti­sche Sphä­re mythisch-dämo­ni­scher Unwirk­lich­keit erhebt. Bezeich­nen­der­wei­se reagiert der Text auf den gleich­falls alle­go­risch struk­tu­rier­ten Roman Der Zau­ber­berg (1924) von Tho­mas Mann, der für die Natio­na­lis­ten zur Unper­son wur­de, als er vom kon­ser­va­tiv-revo­lu­tio­nä­ren Lager in das der Repu­blik wech­sel­te. Dabei inter­pre­tier­te der Nobel­preis­trä­ger, volks­päd­ago­gisch ver­mit­telnd, zum Roma­nen­de den tod­be­rei­ten Auf­bruch der jun­gen Frei­wil­li­gen von 1914 als unbe­wuß­tes Bekennt­nis für den neu­en Staat und sei­ne Ideale.

Hans Cas­torp, sein dem Leser zur Iden­ti­fi­ka­ti­on emp­foh­le­ner Prot­ago­nist, erlebt den Krieg als Durch­gangs­sta­di­um zur Neu­ge­burt und stirbt letzt­lich schon für Frie­den und Demo­kra­tie. Beu­mel­burgs Grup­pe Bose­mül­ler ist ener­gisch als Gegen­ent­wurf kon­zi­piert. Auch hier steht im Mit­tel­punkt mit dem Douau­mont ein mythisch umschrie­be­ner Berg, der Per­so­nen gera­de­zu magisch fest­hält: Unter­off­zier Bose­mül­ler ver­zich­tet auf eine bereits geneh­mig­te Frei­stel­lung vom Mili­tär­dienst, um bei sei­nen Män­nern zu blei­ben. Den Kriegs­frei­wil­li­gen Sie­wers – wie Cas­torp zunächst ein wei­cher, form­ba­rer Cha­rak­ter und »Sor­gen­kind« – ver­folgt der Berg selbst in den Träu­men. Er ent­schließt sich zur sofor­ti­gen Rück­kehr an die Front, obwohl er nach schwe­rer Ver­wun­dung noch nicht völ­lig gene­sen ist. Ihr Leut­nant schließ­lich sucht bei der Auf­ga­be des Forts mehr oder weni­ger bewußt den Tod im Kampf. Unter dem Einfluß des Ber­ges wird eine neue Idee gebo­ren – die Front­ka­me­rad­schaft als Anti­zi­pa­ti­on der Volks­ge­mein­schaft. Die Kon­tra­fak­tur wird pole­misch, wo Beu­mel­burg und ande­re sich beson­ders pro­vo­ziert fühl­ten: durch Manns Sti­li­sie­rung des exem­pla­ri­schen Frei­wil­li­gen Cas­torp zum Ver­tre­ter der kom­men­den Repu­blik. Auf ihn spielt Beu­mel­burg mit der Figur des Pio­niers Cas­dorp an, der den Gra­ben­kämp­fen see­lisch nicht gewach­sen ist und sich erschießt. Er zeigt damit just das Ver­hal­ten, wel­ches Tho­mas Mann Naph­ta zuge­spro­chen hat­te, dem Ver­tre­ter der reak­tio­nä­ren Rech­ten. Selbst­mord gilt bei­den Autoren als Sym­ptom des his­to­risch Über­hol­ten. Dem bele­se­nen Publi­kum prä­sen­tier­te Beu­mel­burg durch Cas­dorps Tod sei­ne Gegen­the­se: Nicht die natio­na­le Idee ist 1914 am Ende, son­dern die repu­bli­ka­ni­sche hat sich bereits im Krieg über­lebt. Ein Schwäch­ling ist kein Reprä­sen­tant der neu­en Gemein­schaft, die Deutsch­lands Nach­kriegs­schick­sal bestim­men wird.

Das Zau­ber­berg-Motiv fin­det sich auch in Weh­ners Sie­ben vor Ver­dun. Der Douau­mont fgu­riert dort als Berg vol­ler »heim­li­cher Kräf­te«, den man unent­wegt anstar­ren muß, nicht malen, son­dern nur stür­men kann, um »ihm so sei­nen Zau­ber« zu neh­men. Vom Stür­men ist auch in Fried­rich Georg Jün­gers Anti-Mann-Pole­mik von 1926 die Rede. Sie trägt den bezeich­nen­den Titel »Der ent­zau­ber­te Berg« und endet mar­tia­lisch: »Ach, erleb­ten wir bald den Tag, an dem eine jun­ge, küh­ne Mann­schaft mit […] pracht­vol­len Äxten den gan­zen Zau­ber­berg in Scher­ben und Trüm­mer schlägt.« Sehr lan­ge soll­te es nicht mehr dau­ern, bis das passierte.

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