unter diesem Etikett neutral auf seine gesellschaftlichen Funktionen und ästhetischen Erscheinungsformen hin untersucht. Für alle, die zu PC-konformer Hyperventilation neigen, also für den gesamten deutschen Mainstream, sollte dieser Aspekt der Kulturgeschichte mit einer geeigneten Variante der Warnung „Smoking can damage your health!“ versehen werden.
Denn der Forschung bietet sich hier das sprichwörtliche weite Feld. Passionierte und zielbewußte Beleidiger waren schon die Kirchenväter. So verbreitete der in theologische Dauerkontroversen verstrickte Athanasius, der „Vater der Orthodoxie“, über seinen Gegner Arius mit spürbarer Befriedigung, dieser sei auf dem Abort zerplatzt. Seine notorische Raufsucht – er brachte es fertig, mindestens(!) fünfmal verbannt zu werden − stand einer späteren Heiligsprechung keinesfalls im Wege.
Polykarp, der Lehrer des Irenäus, titulierte den ihm als Häretiker geltenden Mitchristen Marcion als „Erstgeborenen des Satans“, was uns Irenäus offenbar als Beispiel für vorbildlichen Glaubenseifer überliefert hat.
Dem patristischen Furor standen die Humanisten der Renaissancezeit in nichts nach. Für den modernen, auf „bürgerliche“ Manieren getrimmten Leser sind die Ausfälle dieser Muster an Gelehrsamkeit und (oft vermeintlicher) Humanität schier unfaßbar. Poggio Bracciolini etwa war nicht nur apostolischer Sekretär und ein Gelehrter, der bedeutende antike Text wiederentdeckte, sondern auch der gefürchtete Verfasser berühmter Invektiven, in denen er seine Kontrahenten grundsätzlich auf das übelste kriminalisierte.
Seinen jungen Konkurrenten Niccoló Perotti überzog er in gleich fünf dieser Streifschriften mit einer Kanonade an Beschimpfungen, die keinen Fäkalbereich und auch sonst gar nichts ausläßt. Als Lieblingsschimpfwort dient das im Sinne von „schwuler Lustknabe“ benutzte „calamita“ (verballhornt aus „Ganymed“), ein für den Gemeinten nicht nur ehrabschneidender, sondern potentiell lebensgefährlicher Vorwurf.
Niemand, der in der Schule harmlos Latein gelernt hat, hätte den einschlägigen Wortreichtum des Gelehrtenlateins der Renaissance auch nur erahnt. Eine Integration in den Gymnasialunterricht wäre zweifellos geeignet, die Beliebtheit des Faches schlagartig zu steigern.
Weiter geht es mit der Reformation, der die Erfindung des Buchdrucks, vor allem aber die beliebte Gattung des Flugblattes, endlich verbesserte Möglichkeiten für umfassende Polemiken und ausufernde Beleidigungsduelle zur Verfügung stellte. Protestanten wie Katholiken vergaben sich hier im Rahmen der sogenannten „Kontroverstheologie“ nichts. Luthers Grobheit ist legendär, bildet aber bloß die äußerste Spitze eines diskursiven Eisbergs.
Leider verbietet mir der geringe hier zur Verfügung stehende Raum, diesen schönen historischen Strang über das ebenfalls pöbelfreudige Barock (Verfasserin bleibt bei der österreichischen Artikelverwendung „das“!) bis in die Gegenwart weiterzuverfolgen, in der mit Handke, Bernhard und Jelinek mindestens drei Büchnerpreisträger als Virtuosen des Polterns in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Angefügt sei nur, daß die ritualisierte Beschimpfung und Diskriminierung des Publikums als (mindestens) „Spießer“ einen unwandelbaren Bestandteil des Kunstdiskurses seit der Romantik bildet und im Expressionismus und den Avantgarden seine Fortsetzung findet.
Beleidigt wird dabei mit nicht nachlassendem Elan in „Kunst“ wie „Leben“. Die Publikumsbeschimpfung ist die effektive Selbsterhöhungstaktik aller, die von der Aura des Kunstsystems profitieren möchten. Auch gröbste Beleidigungen gegen den politischen Gegner (wie etwa gegen Beatrix von Storch) sind vom Mantel der Kunstfreiheit gedeckt, solange sie, versteht sich, von der richtigen Seite kommen. Noch die kunstfernste Beschimpfung von links wird zum Happening geadelt oder, wo das gar nicht mehr geht, beharrlich beschwiegen.
Ganz anders freilich das Vorgehen im Falle Pirinçci. Der wortmächtige Akif (der in den genannten ehrwürdigen Kontexten keinesfalls als sonderlich aggressiv aufgefallen wäre) steht mit seinen Tiraden in einer alteuropäischen Traditionskette von unbestreitbarer Würde, was eine ganz andere Reaktion nahelegt als die des Landgerichts Bonn und einer betulichen Presse.
Da ihn sein „Migrationshintergrund“ nicht daran gehindert hat, zum eloquenten Fortsetzer einer durch die Zeit geheiligten europäischen Praxis zu werden, die von den Kirchenvätern bis zu den Avantgarden reicht, bildet der Autor P. ein leuchtendes Beispiel gelebter Interkulturalität und erfolgreicher Integration. In Würdigung dieser Tatsache ist er bei der Verleihung eines der zweifellos reichlich vorhandenen Integrationspreise ehebaldigst zu berücksichtigen. Über eine Einladung zu den Bachmann-Literaturtagen darf nachgedacht werden.
Caroline Sommerfeld
"Ja scheiß doch die Wand an!", zitiere ich jetzt mal meinen Vater, Gott hab ihn selig. Sie haben ja so recht! Der wichtige Punkt: man braucht noch nicht einmal alles als "Freiheit der Kunst" zu titulieren, sondern es reicht, sich vor Augen zu führen, daß die jeweiligen "strukturellen Kopplungen" der sozialen Systeme (Kunst, Religion, Politik, Moral, Liebe, psychische Systeme - munter darf hier jedes mit jedem interagieren) genau das ermöglichen: daß der Code des jeweils anderen am Negativpol gepackt wird und ein paarmal kräftig ausgebeidelt wird! Aus der Politik heraus beschimpft man die Opposition mit den intimsten Ausdrücken, aus der Kunst heraus den Andersgläubigen mit moralischen Invektiven usw.. Daß dann jeweils im System Ein- und Ausschlüsse, oft unter Zuhilfenahme des Rechtssystems, stattfinden, ist der Sinn der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Und frei nach Rudolf Stichweh, seines Zeichens systemtheoretischer Literaturwissenschaftler: wenn sich eines dieser Systeme aufschwingt, die anderen regieren zu wollen, indem es seinen spezifischen Code als den "der Gesellschaft" inszeniert, dann haben wir es mit Fundamentalismus zu tun.