Einige Aspekte dürften den Lesern der Sezession bekannt sein, sie sind im aktuellen Heft 77 der Sezession abgedruckt (»Selbstverständlichkeiten als Minimalprogramm«). Darüber hinaus ließ es sich nicht vermeiden, einige Worte zum System »Petry-Pretzell« zu verlieren. Vollständiger Text der Rede:
Es ist wie in der Geschichte von der Katze und der Taube: Der Vogel ist zu groß für den Jäger, aber weil er sich den Flügel gebrochen hat, kann er nicht entkommen. Nun wird er die Treppe hinuntergezerrt. Er flattert nicht mehr, er wehrt sich nicht mehr, sein Kopf knallt gegen jede Stufe, und wir sind noch lange nicht im Keller.
Dieses Bild können wir übertragen: Die politische Klasse hat unseren Staat und unser Volk am Wickel, und wir selbst werden als Beute Stufe für Stufe die Treppe hinabgeschleift. Während unser Kopf auf jede Stufe knallt, gehen uns drei Dinge nicht aus dem Sinn: Erstens sind wir noch längst nicht ganz unten, zweitens müssen wir – sollten wir uns berappeln – Stufe für Stufe wieder hinaufsteigen und drittens: eigentlich sind wir viel zu groß für diese Katze, die uns da hinter sich herzerrt, aber aus irgendeinem Grund kommen wir nicht auf die Füße.
Jedoch: Wir müssen wieder auf die Füße kommen, das ist das Ziel aller Bemühung, aller Spaziergänge, Aktionen, Demonstrationen, aller alternativer Politik: Wir müssen wieder auf die Füße kommen und Stufe für Stufe wieder hinaufsteigen.
Die Treppe wieder hinaufzusteigen – das wäre nun nichts anderes als die Wiederherstellung von Selbstverständlichkeiten. Das müssen wir uns klarmachen: Es geht in unserer Lage und an der politischen Oberfläche nicht mehr um große Entwürfe, nicht mehr um ein politisches Ausgreifen, sondern nur noch um Selbstverständlichkeiten, um Grundsätze, um banale Forderungen. Mehr ist nicht drin, derzeit.
Es geht nicht um ein Schräubchen hier und ein Nägelchen dort, es geht nicht um die letzten feinen Pinselstriche einer ausdifferenzierten Politik für unser Land: Wenn der Kopf auf die Treppenstufen knallt, geht es nicht um Details, sondern zuallererst und ausschließlich darum, sich loszustrampeln, sich aufzuraffen und sich auf den Weg zurück nach oben zu machen, und das heißt – noch einmal: Selbstverständlichkeiten zu fordern und durchzusetzen.
Ich will von diesen Selbstverständlichkeiten nur drei herausgreifen: die Durchsetzung von Recht und Ordnung, den Elitenwechsel und die Bändigung der Parteien.
Beginnen wir mit der Durchsetzung von Recht und Ordnung – Recht und Ordnung wurden am 12. September 2015 auf eine Art und Weise außer Kraft gesetzt, die uns den Atem verschlug. Was damals geschah, muß man immer wieder nacherzählen, damit es nicht in Vergessenheit gerät.
Am 12. September 2015 meldete der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann, nach Berlin ins Lagezentrum, er und seine Leute seien einsatzbereit. Ohne eine politische Entscheidung abzuwarten, hatte Romann Personal und Material in Südbayern zusammengezogen, um die deutsch-österreichische Grenze lückenlos schließen, Paßkontrollen durchführen und alle nicht einreiseberechtigten Personen abweisen zu können.
Logistisch und organisatorisch würde eine solche Maßnahme ohne weiteres möglich sein, hatte man doch einige Wochen zuvor für die Sicherheit der sieben Staatsoberhäupter der G7-Gruppe Grenzkontrollen durchgeführt und wie nebenbei hunderte Zollvergehen, illegale Einwanderungsversuche und kriminellen Grenzverkehr abgefischt.
Thomas de Maizière konnte sich im Lagezentrum in Berlin an diesem 12. September in den Abendstunden nicht dazu entschließen, den bereits ausgefertigten Einsatzbefehl samt der darin enthaltenen fünf entscheidenden Wörter zu unterschreiben:
Wer nicht einreiseberechtigt sei, solle »auch im Falle eines Asylgesuchs« zurückgewiesen werden, denn: Er komme über den Landweg, mithin über sichere Drittstaaten und Staaten der EU, in denen der Erstantrag auf Asyl zunächst zu stellen sei.
Allein: Es kam nicht zur Grenzschließung gegen den Ansturm Hunderttausender, es fehlte der politische Wille, oder vielleicht sollte man besser sagen: Es fehlten die politische Demut und die Verantwortung für das Ganze. Thomas de Maizière unterschrieb den Einsatzbefehl nicht, weil er, seine Kanzlerin und andere führende Politiker die schlimmen Bilder, die schlechte Publicity fürchteten.
Es ging an diesem Abend nicht um Humanität oder Fachkräftemangel, auch nicht um den geradezu krankhaften Wunsch, das deutsche Volk endgültig aus der Geschichte zu drängen: Es ging schlicht um die parteipolitische Angst vor schlechten Bildern und um die Frage, ob der politische Gegner einen Vorteil aus einer häßlichen Entscheidung würde ziehen können.
Dieser typisch parteipolitischen Kleinmütigkeit wurden am 12. September 2015 Recht und Ordnung geopfert, und mit den Konsequenzen dieser völlig verantwortungslosen Mißachtung des Ganzen haben wir seither zu leben und zurechtzukommen. Es wäre nichts weiter als eine Selbstverständlichkeit, diese Entscheidung zu revidieren, ihre Folgen zu korrigieren und die dafür Verantwortlichen ihrerseits zur Verantwortung zu ziehen.
Damit zur zweiten Selbstverständlichkeit: dem Elitenwechsel. Die Verantwortlichen, die Recht und Ordnung ausgehebelt haben – das ist unsere sogenannte Elite, aber ich habe längst den Eindruck, daß der Ausdruck Elite für diese Leute viel zu schade sei: Was diese Leute vor allem auszeichnet, ist, daß sie sich in ihrer Verantwortungslosigkeit und Arroganz, in ihrer Berliner Polit-Blase bewegen wie Fische im Wasser.
Sie sind Heuchler, und wer das nicht glaubt, muß sich nur anhören, wie sie jetzt, fünf Monate vor der Wahl, ihren Ton aufs Volk abzustimmen beginnen. Plötzlich signalisieren diejenigen, die sich sonst für die Lebenswirklichkeit des »kleinen Mannes« einen Dreck interessieren, daß sie ihn verstünden und seine Sorgen kennten.
Der Ton wird plötzlich »populistisch« im Wortsinn, man kann geheucheltes Interesse ebenso beobachten wie den Versuch, Volksnähe herzustellen. Kaum jemandem sollten die peinlichen Auftritte von Martin Schulz entgangen sein, der als Heilsbringer für eine halbtote Partei eingeflogen wurde und seine Claqueure durchaus auffordert, doch einmal »Martin, Martin« zu rufen, wenn sie nicht von selbst darauf kommen.
Im Internet gibt es herrliche Filme zu diesen Aufritten, man schämt sich mit, obwohl man selbst nicht betroffen ist, unvorstellbar, daß bei Pegida von hier oben einer die Leute dazu aufforderte, in Rufe auszubrechen. Überhaupt, Schulz und Merkel: Wir erleben die Inszenierung eines Machtkampfs zweier Kontrahenten, zwischen die im Grunde kein Blatt Papier paßt und die sich nur deshalb diesen Pseudostreit liefern, weil sie von der eigentlichen Auseinandersetzung ablenken wollen: Die eigentliche Auseinandersetzung verläuft zwischen dem Establishment, das die Karre in den Dreck geritten hat, und einer echten, das heißt grundsätzlich angelegten Alternative, die ihn wieder herauswuchten will.
Um es auf den Punkt zu bringen: Der große Austausch muß bei den Parlamentariern der Altparteien anfangen, und dieser Elitenwechsel sollte gerade in einer Demokratie eine Selbstverständlichkeit sein.
Ich komme damit zum dritten Punkt: zur Bändigung der Parteien. Parteien haben die Aufgabe, das politische Engagement und Interesse der Bürger zu bündeln, zu strukturieren und professionell zu vertreten. Sie tun das tatsächlich, aber auf eine mittlerweile ungebändigte und zynische Art und Weise: Vermutlich gibt es keine anderen Massenorganisationen, in denen mit ähnlicher Verachtung auf das eigene Fußvolk geblickt wird wie in Parteien.
Parteien sind Gebilde, in denen sich gegen die Idealisten – je länger, je mehr – die machtversessenen Ich-Typen, die Karrieristen, die Mundwerksburschen und Intriganten durchsetzen, und zwar vor allem dadurch, daß sie sich gegen die parteiinterne Konkurrenz behaupten und nicht gegen den politischen Gegner.
Diese Zwangsläufigkeit produziert in ausnahmslos jeder Partei mit dem »Berufspolitiker« einen Typ Mensch, der sich wandeln kann wie ein Chamäleon und die Neigung hat, das parteiinterne Gezerre mit den wirklichen Problemen zu verwechseln, in denen immerhin das Vaterland stecken könnte.
Ich muß an dieser Stelle – obwohl ich es mir verkneifen wollte – auch über die AfD ein Wort verlieren: Es entsetzt mich, daß diese Partei, die eine Alternative für Deutschland sein will und sein muß, sich derzeit nicht anders verhält als jeder abgehalfterte parteipolitische Karriereladen von vorgestern.
Es gibt in der CDU ein »System Merkel«, und das bedeutet: hinter Merkel sitzen Duckmäuser und Karrieristen, aber keine Kritiker oder Selbstdenker, die diesen Namen verdienten. Das Ergebnis sind dann 10 Minuten Applaus auf einem Parteitag für eine Frau, die unsere Grenzen für jedermann geöffnet hat. 10 Minuten Applaus für eine Frau, die verkündet hat, es wäre da etwas zu schaffen, und die genau weiß, daß nicht sie das schaffen muß, sondern wir! 10 Minuten Applaus für eine Frau, die einer christlichen Union vorsitzt, aber den Muselmanen gerne schon 1683 vor Wien das Tor zur Stadt geöffnet hätte.
»System Merkel« – das bedeutet: ein kurzes Gedächtnis für die Regierungsverantwortungslosigkeit, eine geradezu peinliche Jubeldisziplin und ein Klammern an der Macht um jeden Preis.
Daraus leite ich eine Frage ab, auf die ich heute Abend lieber verzichtet hätte: Soll sich die AfD nun allen Ernstes ein »System Petry/Pretzell« zulegen? Ist das der parteiinterne Zielpunkt alternativer Politik? Ist es wirklich die Hauptaufgabe einer »Alternative für Deutschland«, fünf Monate vor der Bundestagswahl die eigenen Reihen zu säubern? Und überhaupt: Was heißt das – säubern? Entlang welcher Richtlinien und Maßstäbe?
Da wird gegen Björn Höcke ein Parteiausschlußverfahren angestrengt – gegen einen der wenigen Männer in dieser Partei, der die Sache des Volkes und der Nation über seine eigene Karriere stellt und in seinem eigenen Bundesland, in Thüringen, zu einer Bürgernähe gefunden hat, die es kein zweites Mal gibt. As ich vor einem halben Jahr mit ihm am Kyffhäuser wanderte, schüttelte ihm jeder zweite, der uns entgegenkam, die Hand und sagte: »Nicht wahr, Herr Höcke, Sie geben unser Land nicht auf.« oder »Vielen Dank für das, was Sie tun, Herr Höcke.«
In solchen Äußerungen, mitten im Wald oder auf der Straße, drückt sich die Hoffnung der Bürger auf eine politische Wende aus, und das ist ja der Auftrag der AfD, zusammengefaßt in einem einzigen Satz: eine politische Wende in Deutschland einzuleiten, und zwar »für unser Volk« und nicht gegen es.
Dieser Auftrag ist in Gefahr, wenn die AfD selbst in Gefahr ist, und sie ist in Gefahr, wenn die Spalter ihr System installieren. Und an Spaltungen hat immer nur derjenige ein Interesse, der zerfressen ist von der Angst, es könne ihm jemand zum Konkurrent werden. Wir mußten gestern den Medien entnehmen, daß ein parteiinternes Papier Höcke mit Hitler verglich, und zwar zu dem Zweck, ihn als einen Konkurrenten nochmals und wieder und noch gründlicher zu beschädigen als die Male zuvor.
Wo sind wir eigentlich gelandet? Das ist Antifa-Jargon! Hat Frauke Petry schon vergessen, daß man ihr die Scheiben einwirft und das Auto anzündet oder denkt sie, dies wäre vorbei, wäre erst Höcke raus aus der Partei? Jüngst hat hier in Dresden das Auto des Politikwissenschaftlers und AfD-Schulmeisters Werner Patzelt gebrannt, und Patzelt ist immerhin in der CDU.
Meinen denn diese Leute, all dies löste sich in Luft auf, wenn der Höcke-Flügel gstutzt wäre? Meint hier im Ernst jemand, es gäbe für das Establishment und für diese ganze verlogene Zivilgesellschaft eine AfD in einem akzeptablen Zustand?
Nein: Akzeptanz, Duldung, Respekt muß man sich erkämpfen, und wenn ich eines weiß, dann das: Es kämpfen stets am tapfersten diejenigen, die Grundsätze haben, und nicht nur einen Riecher für eine tolle Position.
Ich kann also vor einem »System Petry/Prezell« nur warnen: Das wäre zu eng, das wäre autistisch, das wäre zu sehr nur auf Machtinteressen und Machtinstinkte abgestellt, auf ein geradezu manisches Konkurrenzdenken, auf eine Mißachtung der Basis. Das Ergebnis wäre eine AfD ohne die Grundsätzlichen, die Idealisten, ohne diejenigen, die nicht vergessen können und wollen, was die Altparteien und ihr vaterlandsloses Personal uns angetan haben und antun.
Diese Zwischenbemerkung zur AfD war notwendig. Sie muß, solange es irgend geht, eine grundsätzliche Partei bleiben, ein politische Exeditionsreise, auf der in alle Himmelsrichtungen nach Rezepten für die Genesung unseres Vaterlands gesucht wird.
Aber zurück zu den Parteien an sich: Ich will als eine Maßnahme gegen den Parteienungeist vorschlagen, die Parteienfinanzierung auf ein Mindestmaß zu beschränken: 160.519.363 Euro setzten die Parteien selbst als Obergrenze dessen fest, was sie sich im vergangenen Jahr vom Staat für die Finanzierung ihrer Arbeit gönnen konnten. Bisher wurde diese Obergrenze immer voll ausgeschöpft.
Hinzu kommt die »verdeckte« Parteienfinanzierung, ein Sumpf, der trockengelegt werden müßte: Wir sprechen über mindestens eine Milliarde Euro. Die Beschränkung der Finanzierung könnte auf Dauer die Parteienmentalität zurückdrängen, eine Mentalität, die den Staat als das Ganze nicht kennt, sondern immer nur die Frage stellt. Was nützt mir, was meiner Partei – und was schadet den anderen.
Ich komme damit zu einem letzten, knappen Gedanken und danke bereits jetzt für Eure Geduld. Dieser letzte Gedanke ist eine Frage: Die Verachtung des Eigenen, die mangelnde Wertschätzung allen Fleißes, aller Entbehrung, aller Erfindungsgabe, Sparsamkeit und allen Durchhaltewillens unserer Vorfahren: Woher kommt sie? Warum verachtet unser Establishment in so zerstörerischem Umfang und Maß das eigene Volk?
Diese Verachtung nämlich ist der gebrochene Flügel des großen Vogels, von dem eingangs die Rede war. Und ihn wieder einzurenken, das Gebrochene zu heilen, ist nicht die Sache einer patriotischen Regierungsmehrheit, sondern eine Generationenaufgabe.
Es bedarf dafür tatsächlich einer erinnerungs- und geschichtspolitischen Wende, aber nicht einer, die etwas von dem aussparte, was geschah, sondern einer, die sich reif, aussöhnend, aushaltend, einordnend erinnert, und die aus dieser Erinnerung keine Keulen gegen politische Gegner schnitzt. Wenn dieser Geist Einzug hielte, wäre dies die Heilung des gebrochenen Flügels.
Sven Jacobsen
Einige werden dies doch hoffentlich lesen und darüber nachdenken; besonders erfreulich wäre es, wenn es Vertreter der Eliten täten. Der Begriff "Elite" ist übrigens kein verliehener Orden, sondern eine Verpflichtung. Der Orden wurde bislang nicht verdient und die Verpflichtung ohnehin noch längst nicht erfüllt.