daß ich den Stadtplan, den ich beim letzten Besuch gekauft hatte, verloren habe. „Na egal, findest du auch so.“ Selbstverständlich nehme ich gleich bei der ersten Kreuzung die falsche Abzweigung und lande im Orient.
Daß heißt: fast, nur die Häuser selbst und die milde Frühlingsluft verraten noch, in welchem Erdteil ich mich befinde. Ansonsten gibt es nur noch eine Litfaßsäule mit zwei Plakaten. Das eine wirbt für eine Ausstellung der Gemälde Otto Dix’. Über die von Kopftüchern bevölkerte Straße blickt mißmutig ausgerechnet Anita Berber aus scharlachrotem Abendkleid. Das andere verkündet das Erscheinen eines Historienromans. Den Einband ziert in goldfarbenem Druck die Plattenkrone des römisch-deutschen Kaisertums.
Auf der Straße tummeln sich die verschiedensten Morgenländer, zwischen die sich eine bemerkbare Anzahl an Negern gemischt hat. Japaner, denen man in Düsseldorf sonst auf Schritt und Tritt begegnet, sehe ich keinen. Zweimal kommt mir ein langbärtiger Vater in weitem Gewand entgegen, auf dem Kopf die weiße Kappe, die Schar seiner gleichsam gekleideten Söhne im Schlepptau. Auch die Geschäfte, die sich im Erdgeschoß der bereits im Verfall begriffenen deutsche Häuser eingenistet haben, sind orientalisch.
Lebensmittelläden, deren Waren dem muslimischen Reinheitsgebot entsprechen, freilich mit einem Werbeschild für Coca-Cola. Im Schaufenster einer Boutique führen Modepuppen verschiedene Kopftücher vor, und in einem besonders häßlichen Gebäude sind Übersetzungsdienstleistungen im Angebot: Deutsch-Französisch-Arabisch-Berberisch. Hier bin ich eindeutig der Fremde. Mit meinem schweren Rucksack muß ich tatsächlich das Bild eines Touristen abgeben, der sich auf dem Basar verirrt hat.
Ich laufe wieder zurück und finde nach einigem Fußmarsch mein ursprüngliches Ziel. In der Gegend, in der ich mich jetzt befinde, sind nur wenige Ausländer. Die Gebäude, vom Stil her dieselben, sind in deutlich besserem Zustand. Es sind nur einige hundert Meter Luftlinie bis zum Orient. Das Ganze erinnert ein wenig an das Karnevalslied, in dem die Straßenbahn-Linie 18 bis nach Istanbul fährt.
Hier leben auf engem Raum zwei Welten nebeneinander. Die morgenländische Wohnweise verschiedener Ghettos bestimmt den Alltag, und zwar, zumindest soweit ich das wahrnehmen kann, ohne daß sich die Menschen dessen besonders bewußt wären. Die beiden Väter mit den langen Bärten und den weißen Kappen waren wahrscheinlich noch nie im Deutschenviertel einige hundert Meter nördlich von ihrem Wohnort, und umgekehrt wird das auf die Meisten auch zutreffen. Ich selbst bin ja auch nur da unten gelandet, weil ich zu stolz, zu geizig oder zu faul war, noch einmal kurz umzudrehen und einen Stadtplan zu kaufen.
Dieses Nebeneinander ist inzwischen an vielen Orten normal. In Hamburg leben zur Zeit einige zehntausend Jugendliche mit Migrationshintergrund, die in der Stadt geboren und aufgewachsen sind, aber noch nie die Elbe gesehen haben. Die ganze Stadt lernen nur noch diejenigen kennen, die das von Berufs wegen müssen. Polizisten, Postboten und Lieferanten aller Art, oder auch die Plakatierer, die Anita Berber, gemalt von Otto Dix im Morgenland, an eine Litfaßsäule klebten, weil das eben ihr Job war.
Ich leide unter der Déformation professionelle, meine Umwelt beständig mit dem Auge des Politologen wahrzunehmen. Mir wird beim Anblick dieses so offen zutage liegenden Nebeneinanders bewußt, wie schwer das alles einzuschätzen ist. Wie sehr es alle Prognosen durcheinanderwirft. Daß die Menschen, denen ich auf meiner kurzen Irrfahrt begegnet bin, jemals integriert werden können, was immer Integration hier noch bedeuten mag, daran glaubt wohl keiner, der sie gesehen hat.
Nur: Was dann? Wer weiß das so genau? Neben den Aposteln der multikulturellen Gesellschaft blamieren sich hier auch die Untergangspropheten. Denn dieses Nebeneinander funktioniert, bis jetzt jedenfalls, ohne schwerere Zusammenstöße. Wir wissen aus der orientalischen Geschichte, daß sich das von einem Tag auf den anderen ändern kann. Doch wann und wie? Wie lange wird man denn auf diese Weise nebeneinander herleben können?
Denn bis jetzt ist das ohne weiteres möglich, selbst wenn man nur einen Katzensprung voneinander entfernt ist. Im Zusammenhang mit der demographischen Bedrohung und den immer zahlreicheren Parallelgesellschaften wird gerne die Metapher vom “Druck im Kessel” verwendet. Wenn wir einmal in diesem Bild bleiben, dann haben wir hier einen Kessel, bei dem es schon schwer genug ist, auch nur den Druck zu messen, und von dem wir überhaupt nicht wissen, ab welchem Druck er denn platzen würde.
Selbstverständlich haben wir in Europa inzwischen beträchtliche Erfahrung damit gemacht, mit welcher Zahl und welcher Dichte von welcher Art von Vielfalt etwa Polizeieinsätze wieweit schwieriger werden. Wenn es dafür Forschungsmittel gäbe, könnte man zu solchen Themen sogar aussagekräftige quantitative Studien erstellen.
Doch sind diese Fragen, so sehr sie die Lebensqualität und oft genug auch die leibliche Sicherheit einzelner betreffen, hier zweitrangig. Für unsere Zukunft ist entscheidend, wie lange dieser Zustand aufrechterhalten werden kann. Meine Befürchtung ist, daß dies noch zu lange möglich ist.
An diesem Abend saß ich mit einigen Leuten in einer Kneipe. Die einzigen Ausländer im Raum waren drei Griechen aus Athen, die wir mitgebracht hatten, und eine Japanerin, die mit ihrer deutschen Freundin dort war. Zum Orient waren es anderthalb bis zwei Kilometer, und mir wurde klar, daß, solange dieses Nebeneinander möglich ist, das Heilmittel den Leuten immer schlimmer erscheinen wird als die Krankheit. Zukunftsprognosen werden daran nur für wenige etwas ändern.
deutscheridentitärer
Ein guter Artikel, der den Finger in die Wunde legt, nämlich die Illusion der Rechten, die Zustände würden sich notwendig so zuspitzen, dass das System dahinter kollabiert. Langfristig ist dies in der einen oder anderen Form durchaus wahrscheinlich und bis dahin werden sich genügen private Zustände für eine Seite unvorteilhaft zuspitzen, aber im Großen und Ganzen funktioniert alles ja. Man kann das alles auch nicht mehr wirklich sinnvoll analysieren. Es ist mir jedenfalls absolut unerklärlich, wie man diesen Prozess der Orientalisierung, der mittlerweile immerhin eine bemerkbare Geschwindigkeit erreicht hat, einfach so hinnehmen kann. Ethnomasochismus hin oder her; wenn ich mir die Bilder europäischer Großstädte vor gerade mal 50 Jahren anschaue kann ich einfach nicht begreifen, wie die Generation meiner Eltern diesen unglaublichen Niedergang im Straßenbild nicht als unerträglichen Verlust empfinden können.