Ebenso neu: die Netzpräsenz des Vereins, die Schriftenreihe Jünger-Debatte und auch der thematische Ansatz der Veranstaltung. Hatten sich frühere Tagungen mit sachbezogenen Leitthemen befaßt (vor drei Jahren etwa “1914”), sollte sich dieses Jahr alles um ein konkretes Werk in seinen historischen und ästhetischen Dimensionen drehen – nämlich den Klassiker Auf den Marmorklippen von 1939, der trotz oder gerade weil seines Facettenreichtums bedauerlicherweise noch immer nicht als kanonisiertes Werk der deutschen Literatur gelten kann.
Die einleitende Begrüßung der knapp 130 Teilnehmer – von zahlreichen Literatur- und Geschichtswissenschaftlern bis hin zu lokalen Anwohnern, die Jünger noch als “Nachbarn” kannten – übernahmen mit dem Publizisten Dr. Alexander Pschera und dem Verleger Thomas Bantle die beiden Vorstände der Gesellschaft (ehemals “Freundeskreis der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger”). Neben dem Wiedersehen mit alten Freunden und der üblichen »intellektuellen Erfrischung« sei dieses Wochenende auch der nicht ausschließlich akademisch-wahrheitssuchenden, sondern ebenso intuitiven Annäherung an »ein Kunstwerk, das respektiert werden will«, gewidmet. Als ersten Impuls formulierte Pschera vier Paradigmata zum Roman:
- Bei den Marmorklippen handele es sich um einen zentralen Text zur politischen Ortung des Autors (weil erstes Buch, in das sich Kritik am nationalsozialistischen Staat hineinlesen ließ);
- er sei ein ebenso zentraler Text für die Ästhetik des Jüngerschen Schreibens, die etwa einen Hans Magnus Enzensberger nach eigener Aussage an einen »alabasternen Aschenbecher« gemahnte, aber ebenso Urteile wie »Das Buch liest sich, als sei es gemalt!« zeitige;
- der Spannungsbogen zwischen Natur und Geschichte werde im Gesamtwerk Jüngers selten so offen thematisiert und herausgestellt wie in den Marmorklippen;
- ein besonderer Reiz der Lektüre liege im Verhältnis zwischen Fiktion und Autobiographie des Verfassers, was sich unweigerlich auch in jeder Diskussion über Aspekte des Romans niederschlage.
Damit war der grundsätzliche Plan für den Verlauf des Wochenendes vorgezeichnet, und es ging sogleich in medias res: Den Freitagabend bestimmte der Vortrag des Literaturwissenschaftlers Hans Dieter Schäfer (Das gespaltene Bewußtsein) über »Ernst Jünger und die literarische Moderne im Nationalsozialismus«, der schon launig begann – Schäfer bekannte, kein Jünger-Spezialist zu sein und die Marmorklippen erst vier Wochen zuvor erstmals gelesen zu haben. Nichtsdestoweniger schaffte er es mühelos, Jüngers Roman zum Stil des magischen Realismus und insbesondere zum Vorgängerwerk Das abenteuerliche Herz in Beziehung zu setzen.
Dabei komme insbesondere der Botanik eine Schlüsselfunktion zu: »Die Rautenklause sammelt Pflanzen, die Schinderhütte sammelt Schädel.« Für beide Antipoden des »Phantasiestücks« auf der Großen Marina fänden sich reale Vorbilder in Überlingen am Bodensee, wo Ernst Jünger bis kurz vor Kriegsbeginn gemeinsam mit seinem Bruder Friedrich Georg lebte; eine auf den ersten Blick auf der Hand liegende Ausdeutung des Szenarios, die im Verlauf der Tagung jedoch noch für rege Debatten sorgen sollte. Die reichhaltige Tier- und Pflanzenwelt bilde im Roman die rettende Orientierung der beiden biologisch bewanderten Brüder – des Ich-Erzählers und »Bruder Othos« – inmitten einer in Naturbeobachtungen codierten untergehenden Zivilisation.
In der Untergangsszenerie zeige sich auch die Inspiration Jüngers durch die tiefer als ihre westlichen Pendants blickenden »östlichen Apokalyptiker« wie Georg Trakl und insbesondere Horst Lange, bei dessen Roman Schwarze Weide ihn nach eigener Aussage ein »wollüstiger Schauder« überkommen habe. Der gegen Ende eingenommene erzählerische Blickwinkel des »fernen, sicheren Beobachtens der Zerstörung« – man denke auch an die berühmte Burgunderszene in den Strahlungen! – beinhalte zudem eine geradezu metaphysische Komponente und zeige Ähnlichkeiten etwa zu der Zeichnung “Atlantis vor dem Untergange” seines persönlichen Freundes Rudolf Schlichter, die seit 1935 in Jüngers Arbeitszimmer hing, und zum Gemälde “Lot und seine Töchter” Otto Dix’ von 1939, in dessen niederbrennender Stadt »deutlich Dresden zu erkennen« sei.
Insgesamt stelle das Werk eine Vorherschau der Zerstörung dar, die nach Ansicht Friedrich Georg Jüngers Teil eines Ordnungsprozesses sei; in letzter Instanz könne nur das Feuer »aufarbeiten«, ganz im Sinne der klassisch-philosophischen Vorstellung vom Weltbrand, der analog zur Sintflut einer Wiedergeburt (Palingenesis) vorausgehen müsse. In diesem Sinne handle es sich bei Auf den Marmorklippen nicht um eine dezidierte Abrechnung mit dem Dritten Reich, sondern um die Verschriftlichung des Gefühls beim Untergang einer Kultur.
Das Buch müsse geradezu gegen die Interpretation als reiner Schlüsselroman (die selbst Jünger mal ausdrücklich ablehnte, mal billigend in Kauf nahm) verteidigt werden: Es sei weniger politisch als anthropologisch geschrieben und damit um so zeitloser – die Zeitläufte machten es (heute etwa durch die Globalisierung und damit einhergehende Verwerfungen) stets aufs Neue aktuell.
Ernst Jünger selbst wollte in jener Zeit nicht politisch gelesen werden; vor diesem Hintergrund sollte sich auch die Jünger-Gesellschaft nicht auf den »politisch vergifteten«(!) Literaturdiskurs in der Bundesrepublik mit seiner »ganz ungeheuren Atmosphäre« infolge des Schweigens und der Lügen der Intellektuellen nach 1945(!) einlassen und den Autor um jeden Preis “verteidigen” wollen – sein Werk spreche damals wie heute für sich. Ein markiges Schlußwort für den ersten Abend des Symposions, das bei Wein und Häppchen in einem kurzen allgemeinen Kennenlernen ausklang.
Den Samstag eröffnete pünktlich um neun Uhr Prof. Dr. Siegfried Lokatis von der Universität Leipzig, dessen derzeitiger Forschungsschwerpunkt vor allem auf der Literaturgeschichte der DDR liegt. Promoviert wurde er 1992 indes über die Hanseatische Verlagsanstalt (HAVA), Verlag des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands (DHV) und ab dem Arbeiter von 1932 der Hausverlag Ernst Jüngers. Das Vortragsthema »Ernst Jüngers Marmorklippen und die Hanseatische Verlagsanstalt« lag also nahe; Lokatis gelang ein umfassender und dennoch konziser Einblick in die turbulente Geschichte des Buchs und der Zusammenarbeit zwischen Schriftsteller und Verlag, unter anderem unter Zuhilfenahme des Originalvertrags über den Abdruck des Romans.
Die HAVA war in den 1930er Jahren der »Motor der Politisierung der Wissenschaft und der geistigen Aufrüstung«; entsprechend wurde der Großteil der verbliebenen Produktion in der Nachkriegszeit indiziert und größtenteils verheizt »im Sinne der ›antifaschistischen‹ Umerziehung durch die Siegermächte«. Bei den Marmorklippen handele es sich indes um die Sonnenseite der Verlagsgeschichte: Nach der durch seinen Freund Albrecht Erich Günther (der auch Carl Schmitt an den Hamburger Verlag heranführte) vermittelten Kontaktaufnahme zur HAVA, die bereits 1931 eine Art »literarische Diktatur der Handlungsgehilfen« hatte etablieren können, hatte Jünger am 9. März 1932 den Vertrag über den Arbeiter unterzeichnet und damit noch für Proteste in der Angestelltengewerkschaft DHV gesorgt.
Binnen kürzester Zeit entwickelten sich die HAVA-Veröffentlichungen, darunter auch Blätter und Steine, zum primären Lebensunterhalt Jüngers und zu einer einträglichen Arbeit für den Verlag, dessen Leiter Benno Ziegler »Jüngers zuverlässiger Archivar, Bankier und Steuerberater« wurde. Noch am wortwörtlichen Vorabend des Zweiten Weltkriegs, am 29. August 1939, arbeitete der von unguten Ahnungen beschlichene Autor an den Marmorklippen, deren Erscheinen ihm mittlerweile »fraglich« erschien; als ihn dann – bereits bei der Truppe – die ersten fertigen Bände erreichten, war er jedoch beruhigt und nannte den Roman »das gelungenste« seiner Bücher bei den Hanseaten.
Im Anschluß befaßte sich Prof. Dr. Detlev Schöttker mit der Frage nach der Person des Otho in den Marmorklippen. Die Annahme, daß es sich dabei um ein Abbild Friedrich Georg Jüngers handele, liege natürlich nahe; dennoch beschreibe der Roman – das von Ernst Jünger selbst meistkommentierte seiner Werke – eine »Phantasiewelt«, die Bilder zahlloser Regionen verflechte. Da aber die einschlägige Forschung zu sehr auf den NS-Kontext des Werks fixiert sei, vernachlässige sie topographische Fragen. Schöttker, Herausgeber der kommentierten Neuausgabe der Atlantischen Fahrt, stellte nun die These auf, daß Otho in Wahrheit durch eine Reisebekanntschaft auf Jüngers Brasilienkreuzfahrt 1936 inspiriert sei.
Dabei habe es sich um Otto Storch gehandelt, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Komintern-Agent, den Jünger in seinem Reisetagebuch anfangs zwiespältig beurteilte, später jedoch einen regen Briefverkehr mit ihm unterhielt und sogar seine Autobiographie bei der HAVA zu plazieren versuchte, die dort jedoch abgelehnt wurde. Auf die Bedeutung der Bekanntschaft deute auch eine bestimmte Stelle in der Atlantischen Fahrt: »Die Feder des Autors ist mit einem Storchschnabel verbunden – der zieht die wahren Linien im Unsichtbaren aus. Dort ists getan.« (in der Erstauflage noch eindeutiger: »Storch-Schnabel« statt »Storchschnabel« und also eben gerade nicht der Pantograph)
Schöttker unterlegte seine Ausführungen mit zahlreichen Originalphotographien Jüngers aus Brasilien, die erst kürzlich durch reinen Zufall im DLA Marbach wiederentdeckt worden seien. Sie belegten auch die Präfiguration etlicher Marmorklippen-Versatzstücke in Rio und umzu, so der Rautenklause, der Schinderhütte und des Mönchs Lampros. In Brasilien besuchte Jünger auch eine Schlangenfarm und machte dort mehr Bilder als auf der gesamten weiteren Reise – ein starker Vorgriff auf die Marmorklippen, die ja ursprünglich Die Schlangenkönigin heißen sollten. Mit diesem herausfordernden Ansatz einer Neubetrachtung des Werks wurden die Hörer in die Pause entlassen.
Der_Jürgen
Vielen Dank, Nils Wegner. Als glühender Jünger-Verehrer, der die "Marmorklippen" ca. fünfmal gelesen und dari jedesmal wieder Neues entdeckt hat, weiss man Artikel wie diesen zu schätzen. Wertvoll ist auch der Hinweis auf die Netzpräsenz der Gesellschaft.
Friedrich Georg Jüngers Werke kenne ich zu meiner Unehre noch nicht, werde diese Lücke aber in naher Zukunft wenigstens teilweise stopfen.