Widerstehen oder Widerstand? Jünger-Symposion 2017 (II)

»Attentate sind Scheinlösungen, wie auch Selbstmorde; sie schieben die Probleme auf eine andere, keine bessere Ebene.«

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Vor dem Hin­ter­grund die­ses Tage­buch­ein­trags vom 15.6.1945 fragt sich: Jün­ger und Widerstand?

Die­sem The­ma wid­me­te sich über den Rest des Sams­tag­nach­mit­tags der Ros­to­cker Phä­no­me­no­lo­gie­pro­fes­sor Dr. Micha­el Groß­heim, der gleich zu Anfang fest­stell­te, daß es »eigent­lich unmög­lich« sei, die­ses The­ma zufrie­den­stel­lend zu prä­sen­tie­ren. Dreh- und Angel­punkt der Betrach­tun­gen zu Jün­ger und ins­be­son­de­rem dem Anschlag vom 20. Juli 1944 bil­de­ten neben den Tage­bü­chern seit jeher die 1972 ver­öf­fent­lich­ten »Adno­ten« zu Auf den Mar­mor­klip­pen, in denen der nebu­lö­se nächt­li­che Besuch eines »spä­ter Hin­ge­rich­te­ten« in Über­lin­gen als Vor­la­ge für den Auf­tritt des Fürs­ten Sun­my­ra beschrie­ben wird (letzt­lich eine von Jün­ger gegen­über Mar­gret Boveri bestä­tig­te, leicht schie­fe Anspie­lung auf Adam von Trott zu Solz). Die­ser »Sitz im Leben« sei für eine Figur eines Jün­ger-Buchs eher unge­wöhn­lich, pas­se jedoch zum gene­rel­len Wech­sel­spiel der Kate­go­rien fik­tio­nal und fak­tio­nal in den Mar­mor­klip­pen.

Tat­säch­lich beweg­te sich Jün­ger in sei­ner Zeit als Besat­zungs­of­fi­zier in Paris in Wider­stands­krei­sen (Jes­sen, Popitz, Hof­acker…), ins­be­son­de­re durch sei­ne Bekannt­schaft zu Gene­ral Hans Spei­del. Bei Jün­gers ers­ter Begeg­nung mit dem Mili­tär­be­fehls­ha­ber Frank­reich, Otto von Stül­pna­gel, waren die Mar­mor­klip­pen das ers­te Gesprächs­the­ma; der Pari­ser SD stuf­te den Autor aus dem glei­chen Grund als »beson­ders undurch­sich­tig« ein. Nichts­des­to­we­ni­ger sei eine Debat­te dar­über unnö­tig, ob er nun ein “Wider­stands­kämp­fer” gewe­sen sei; sei­ne Posi­ti­on sei seit Kriegs­be­ginn die des »geis­ti­gen Men­schen in der Tyran­nis« anstatt eine des aktiv Han­deln­den gewe­sen. Wider­ste­hen sei etwas ande­res als Wider­stand, und Jün­gers Weg sei der des Abstands, der sta­bi­len Maß­stä­be und des kri­ti­schen eige­nen Urteils gewe­sen – die­ser mora­li­sche Intro­ver­si­on anstel­le der nach Kriegs­en­de popu­lä­ren mora­li­schen Extro­ver­si­on sei letzt­lich der Grund für die heu­ti­ge »Sper­rig­keit« sei­nes Werks.

Nach dem Mit­tag­essen lud der fran­zö­si­sche Pri­vat­ge­lehr­te Fran­çois Pon­cet das Audi­to­ri­um ein: »Gehen wir in den Kalk hin­ein!« Sei­ne Medi­ta­ti­on über »Das hohe Lied des Kalks – Gesteins­me­ta­mor­pho­sen bei Ernst Jün­ger« führ­te von den Krei­de­grä­ben der Cham­pa­gne aus den Stahl­ge­wit­tern direkt zu den Mar­mor­klip­pen: dar­in sei die »geball­te Ladung, die dem Regime vor die Füße gewor­fen wird, in dicke Gesteins­schich­ten gehüllt«. Wäh­rend im Roman Kalk nur an einer ein­zi­gen Stel­le (zum Zwe­cke der Ent­seu­chung) vor­kom­me, sei indes Mar­mor an sich nur eine Wand­lungs­form von Kalk und ste­he damit ana­log zu den sich häu­ten­den Schlan­gen, der »Form­wer­dung über­haupt«, im Tier­reich. In den gegen Ende des Buchs geschil­der­ten Zer­stö­rungs­sze­nen – etwa dem Ein­sturz des Klos­ters – bil­de sich ein ums ande­re Mal eine »Befrei­ung durch Zer­set­zung« ab im Sin­ne der “schöp­fe­ri­schen Zer­stö­rung” Joseph Schumpeters.

Der in Dres­den leh­ren­de Ger­ma­nist (und Her­aus­ge­ber u.a. der Brief­wech­sel Fried­rich Georg Jün­gers) Dr. Ulrich Frösch­le blick­te anschlie­ßend auf Den­ken und Han­deln der Brü­der Jün­ger in den 1930er Jah­ren und ihre »Poe­sie in schwie­ri­gen Zei­ten«. Zwar sei in Nietz­sches Wor­ten der Mensch ein »erzäh­len­des Tier«, doch loh­ne sich alle­mal die Fra­ge nach dem Nut­zen der (Geschichts-)Erzählungen, deren extrems­te Aus­prä­gung sich wohl im Futu­ris­mus und des­sen Wil­len zur tota­len Abräu­mung eines »ext­ro-ver­tier­ten« Mora­lis­mus fin­de. Frösch­le rich­te­te den Blick zuerst auf die »radi­ka­len Brü­der« am Ende der 1920er, die die NSDAP als lang­wei­li­gen Lega­lis­ten­hau­fen betrach­te­ten und gera­de­zu als natio­na­le Trotz­kis­ten »die Rein­heit der Leh­re, die Rein­heit des Geis­tes« (EJ) einforderten.

Auch noch Anfang der 1930er Jah­re sei die Distanz der Jün­gers zum Natio­nal­so­zia­lis­mus eher okka­sio­nell gewe­sen; beson­ders Ernst habe einer­seits aus der Schuß­li­nie blei­ben, sich aber ande­rer­seits alle Mög­lich­kei­ten offen­hal­ten (wäh­rend er die ers­ten real­po­li­ti­schen Geh­ver­su­che nach der Macht­er­grei­fung bis­sig als »Natio­nal­de­mo­kra­tie« abtat) und Fried­rich Georg – ver­ge­bens – als Thea­ter­au­tor reüs­sie­ren wol­len. Ihre fort­schrei­ten­de Abkap­se­lung sei schließ­lich auch im Geis­te Max Stir­ners zu ver­ste­hen und ein Aus­druck von »poli­ti­schem Atten­tis­mus« bei gleich­zei­ti­ger prak­ti­scher Ver­nunft. Als her­aus­ra­gen­des Bei­spiel für die­se Hal­tung kann Fried­rich Georg Jün­gers Ele­gie »Der Mohn« gel­ten, das der Schau­spie­ler und Bun­des­film­preis­trä­ger Micha­el König im Anschluß in vol­ler Län­ger vortrug.

Kon­kre­ter Anlaß, die Mar­mor­klip­pen als the­ma­ti­sches Zen­trum der Tagung zu wäh­len, war die kri­ti­sche Aus­ga­be des Werks, die – betreut vom bewähr­ten Jün­ger-Her­aus­ge­ber Prof. Dr. Hel­muth Kie­sel – im August 2017 bei Klett-Cot­ta erschei­nen soll. Ihrer Vor­stel­lung war der ers­te Teil des Sams­tag­abends gewid­met, wor­in Kie­sel aus­führ­lich Auf­bau und Ansatz der Arbeit erläu­ter­te: vom Abgleich der in Mar­bach lie­gen­den “Urschrift”, dem Manu­skript, das Jün­ger den gesam­ten Krieg hin­durch und auch danach bei allen Umzü­gen stets mit sich führ­te und in Parin auf­wen­dig bin­den und ein­fas­sen ließ, über Erst- und Wehr­machts­aus­ga­be sowie die Schwei­zer Aus­ga­be von 1943 bis hin zu den Nach­kriegs­über­ar­bei­tun­gen 1949 und 1960.

Eine beson­de­re Rol­le sol­len dabei die Rekon­struk­tio­nen der Kor­rek­tu­ren Lie­se­lot­te Jün­gers spie­len (vgl. zu die­sem sen­si­blen The­ma den Brief­wech­sel mit Moh­ler); hin­zu kom­men außer­dem Doku­men­te zu Ent­ste­hung und Wir­kung sowie die über­lie­fer­ten Rezen­sio­nen des Buchs – alle­samt vor­sich­tig-ver­deckt mit Aus­nah­me der US-Bespre­chung, die frei von der Leber aus­brei­te­te, wel­che NS-Grö­ße sich wohl hin­ter wel­cher Mar­mor­klip­pen-Figur ver­ber­ge und zum Abschluß rhe­to­risch frag­te, ob der Schrift­stel­ler wohl noch am Leben sei. Zur Abrun­dung trug aber­mals Micha­el König eine län­ge­re Pas­sa­ge aus dem Buch vor, die die lang­sa­me Infil­tra­ti­on der Mari­na durch die Scher­gen des Ober­förs­ters beschrieb (Kap. 10ff.).

Am Sonn­tag­mor­gen stand der Vor­trag Dr. habil. Karin Teb­bens über »Iko­no­gra­phien eines intel­lek­tu­el­len Krie­gers« auf dem Plan. Kon­kret ging es um die Freund­schaft zwi­schen Ernst Jün­ger und dem Künst­ler der Neu­en Sach­lich­keit Rudolf Schlich­ter (»Ich ver­keh­re viel mit den soge­nann­ten Neu­en Natio­na­lis­ten, beson­ders mit Ernst Jün­ger, den ich auch gemalt habe; das sind erstaun­lich anstän­di­ge Men­schen; ich habe links nie die­se unzwei­deu­ti­ge Grad­heit mensch­li­cher Gesin­nung gefun­den wie dort.«), der für etli­che Por­träts des Schrift­stel­lers ver­ant­wort­lich zeich­ne­te. Sei­ne bekann­te Dar­stel­lung Jün­gers von 1937 zeigt den Dich­ter vor des­sen – damals noch zukünf­ti­gen – Mar­mor­klip­pen und bie­tet reich­lich Stoff für iko­no­gra­phi­sche Über­le­gun­gen, ins­be­son­de­re hin­sicht­lich der ver­bild­lich­ten Ver­wund­bar­keit des Dar­ge­stell­ten trotz aller »Käl­te, Intel­lek­tua­li­tät und Melan­cho­lie« der »frei­schwe­ben­den Intel­li­genz«. Teb­ben refe­rier­te die ganz unter­schied­li­chen Auf­ga­ben der Kunst im Jah­re 1937 und in den Jah­ren zuvor; auch der spä­ter geäu­ßer­te Gedan­ke Jün­gers, ob er auf einer zukünf­ti­gen Fas­sung des Por­träts nicht lie­ber bemän­telt erschei­nen sol­le, lie­fe­re Gele­gen­heit zu eige­nen Überlegungen.

Im Abschluß­vor­trag wid­me­te sich Dr. Mat­thi­as Schö­ning, Her­aus­ge­ber des Ernst-Jün­ger-Hand­buchs, der Fra­ge nach der Per­spek­ti­ve in den Mar­mor­klip­pen. In Anleh­nung an Heid­eg­ger brei­te­te er die Pro­blem­stel­lung der Per­spek­ti­ve (also wört­lich: des “deut­lich Sehens”) in ihrem Ver­hält­nis zur Posi­ti­on aus, die sich im indi­vi­du­el­len Stand­punkt nie­der­schla­ge – der Ver­fas­ser bezieht also mit sei­nem Werk in der rea­len Welt Stel­lung, wäh­rend gleich­zei­tig geis­tes­ge­schicht­lich die Per­so­nen hin­ter den Anschau­un­gen zurück­tre­ten. Der Per­spek­ti­ve ste­he dem­nach als Gegen­bild zum Rela­ti­vis­mus die “Gestalt” gegen­über, die im Arbei­ter erst­mals in Jün­gers Schrif­ten getre­ten sei und sich ab die­sem Zeit­punkt als »Gan­zes, das mehr ist als die Sum­me sei­ner Tei­le«, durch sein Werk gezo­gen habe.

In den Mar­mor­klip­pen fal­le ihr gleich­wohl eine gegen­über dem Arbei­ter »schwä­che­re« Inten­ti­on zu: Den Monis­mus der Arbei­ter-Gestalt erset­ze nun die Mit­tel­bar­keit einer Aus­rich­tung hin auf Ord­nun­gen, »die jen­seits von Macht und Gewalt gegrün­det sind«. Inso­fern sei Jün­gers Roman eine Art von »Kurs­kor­rek­tur« zurück zur Per­spek­ti­vi­tät, die im Werk stark und flach sei; den­noch müs­se die Nicht­be­lie­big­keit des erzäh­le­ri­schen Blicks unter­stri­chen werden.

Im Anschluß an die­se gehalt­vol­len erzähl­theo­re­ti­schen Aus­füh­run­gen mach­te sich die gesam­te Coro­na auf nach Wilf­lin­gen, wo nach einem gemein­sa­men Mit­tag­essen der Ver­an­stal­tungs­aus­klang bei Mok­ka im Stauf­fen­berg­schen Schloß statt­fand und das Ernst-Jün­ger-Haus in der gegen­über­lie­gen­den ehe­ma­li­gen Ober­förs­te­rei zur Besich­ti­gung ein­lud. Dort hielt Alex­an­der Psche­ra für Besu­cher noch eine Über­ra­schung parat: Im Zuge eines auf drei Jah­re ange­leg­ten Pro­jekts des Deut­schen Lite­ra­tur­ar­chivs in Mar­bach fin­det der­zeit die Gesamt­erfas­sung der Biblio­thek Ernst Jün­gers mit rund 11 000 Büchern statt. Die­se wer­den nicht nur kata­lo­gi­siert, son­dern auch Buch für Buch nach Anstrei­chun­gen und Mar­gi­na­li­en Jün­gers durch­ge­se­hen, die eben­falls erfaßt wer­den sol­len – eine ver­dienst­vol­le Akri­bie, die nicht nur den gemei­nen Jün­ger­jün­ger begeis­tern, son­dern gewiß auch eini­ge For­schungs­de­si­de­ra­te schlie­ßen wird.

Alles in allem eine abso­lut run­de, stim­mungs­vol­le Ver­an­stal­tung mit Gele­gen­heit für vie­le neue Bekannt­schaf­ten! Die 18. Jah­res­ta­gung soll im kom­men­den Jahr wie­der am Palm­wo­chen­en­de in Hei­lig­kreuz­tal statt­fin­den, vor­aus­sicht­lich zum The­ma “Ernst Jün­ger und die Linke(n)”. Auch da wird kei­ne Ober­se­mi­nar­at­mo­sphä­re auf­kom­men: Jeder an Werk und Leben der Jün­ger-Brü­der Inter­es­sier­te ist will­kom­men, und das Ver­ständ­nis der Vor­trä­ge erfor­dert kein abge­schlos­se­nes Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik. Auch die Jün­ger-Gesell­schaft selbst mit ihren der­zeit rund 450 Mit­glie­dern im In- und Aus­land freut sich über neue Gesich­ter – nur herein!

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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