Vor dem Hintergrund dieses Tagebucheintrags vom 15.6.1945 fragt sich: Jünger und Widerstand?
Diesem Thema widmete sich über den Rest des Samstagnachmittags der Rostocker Phänomenologieprofessor Dr. Michael Großheim, der gleich zu Anfang feststellte, daß es »eigentlich unmöglich« sei, dieses Thema zufriedenstellend zu präsentieren. Dreh- und Angelpunkt der Betrachtungen zu Jünger und insbesonderem dem Anschlag vom 20. Juli 1944 bildeten neben den Tagebüchern seit jeher die 1972 veröffentlichten »Adnoten« zu Auf den Marmorklippen, in denen der nebulöse nächtliche Besuch eines »später Hingerichteten« in Überlingen als Vorlage für den Auftritt des Fürsten Sunmyra beschrieben wird (letztlich eine von Jünger gegenüber Margret Boveri bestätigte, leicht schiefe Anspielung auf Adam von Trott zu Solz). Dieser »Sitz im Leben« sei für eine Figur eines Jünger-Buchs eher ungewöhnlich, passe jedoch zum generellen Wechselspiel der Kategorien fiktional und faktional in den Marmorklippen.
Tatsächlich bewegte sich Jünger in seiner Zeit als Besatzungsoffizier in Paris in Widerstandskreisen (Jessen, Popitz, Hofacker…), insbesondere durch seine Bekanntschaft zu General Hans Speidel. Bei Jüngers erster Begegnung mit dem Militärbefehlshaber Frankreich, Otto von Stülpnagel, waren die Marmorklippen das erste Gesprächsthema; der Pariser SD stufte den Autor aus dem gleichen Grund als »besonders undurchsichtig« ein. Nichtsdestoweniger sei eine Debatte darüber unnötig, ob er nun ein “Widerstandskämpfer” gewesen sei; seine Position sei seit Kriegsbeginn die des »geistigen Menschen in der Tyrannis« anstatt eine des aktiv Handelnden gewesen. Widerstehen sei etwas anderes als Widerstand, und Jüngers Weg sei der des Abstands, der stabilen Maßstäbe und des kritischen eigenen Urteils gewesen – dieser moralische Introversion anstelle der nach Kriegsende populären moralischen Extroversion sei letztlich der Grund für die heutige »Sperrigkeit« seines Werks.
Nach dem Mittagessen lud der französische Privatgelehrte François Poncet das Auditorium ein: »Gehen wir in den Kalk hinein!« Seine Meditation über »Das hohe Lied des Kalks – Gesteinsmetamorphosen bei Ernst Jünger« führte von den Kreidegräben der Champagne aus den Stahlgewittern direkt zu den Marmorklippen: darin sei die »geballte Ladung, die dem Regime vor die Füße geworfen wird, in dicke Gesteinsschichten gehüllt«. Während im Roman Kalk nur an einer einzigen Stelle (zum Zwecke der Entseuchung) vorkomme, sei indes Marmor an sich nur eine Wandlungsform von Kalk und stehe damit analog zu den sich häutenden Schlangen, der »Formwerdung überhaupt«, im Tierreich. In den gegen Ende des Buchs geschilderten Zerstörungsszenen – etwa dem Einsturz des Klosters – bilde sich ein ums andere Mal eine »Befreiung durch Zersetzung« ab im Sinne der “schöpferischen Zerstörung” Joseph Schumpeters.
Der in Dresden lehrende Germanist (und Herausgeber u.a. der Briefwechsel Friedrich Georg Jüngers) Dr. Ulrich Fröschle blickte anschließend auf Denken und Handeln der Brüder Jünger in den 1930er Jahren und ihre »Poesie in schwierigen Zeiten«. Zwar sei in Nietzsches Worten der Mensch ein »erzählendes Tier«, doch lohne sich allemal die Frage nach dem Nutzen der (Geschichts-)Erzählungen, deren extremste Ausprägung sich wohl im Futurismus und dessen Willen zur totalen Abräumung eines »extro-vertierten« Moralismus finde. Fröschle richtete den Blick zuerst auf die »radikalen Brüder« am Ende der 1920er, die die NSDAP als langweiligen Legalistenhaufen betrachteten und geradezu als nationale Trotzkisten »die Reinheit der Lehre, die Reinheit des Geistes« (EJ) einforderten.
Auch noch Anfang der 1930er Jahre sei die Distanz der Jüngers zum Nationalsozialismus eher okkasionell gewesen; besonders Ernst habe einerseits aus der Schußlinie bleiben, sich aber andererseits alle Möglichkeiten offenhalten (während er die ersten realpolitischen Gehversuche nach der Machtergreifung bissig als »Nationaldemokratie« abtat) und Friedrich Georg – vergebens – als Theaterautor reüssieren wollen. Ihre fortschreitende Abkapselung sei schließlich auch im Geiste Max Stirners zu verstehen und ein Ausdruck von »politischem Attentismus« bei gleichzeitiger praktischer Vernunft. Als herausragendes Beispiel für diese Haltung kann Friedrich Georg Jüngers Elegie »Der Mohn« gelten, das der Schauspieler und Bundesfilmpreisträger Michael König im Anschluß in voller Länger vortrug.
Konkreter Anlaß, die Marmorklippen als thematisches Zentrum der Tagung zu wählen, war die kritische Ausgabe des Werks, die – betreut vom bewährten Jünger-Herausgeber Prof. Dr. Helmuth Kiesel – im August 2017 bei Klett-Cotta erscheinen soll. Ihrer Vorstellung war der erste Teil des Samstagabends gewidmet, worin Kiesel ausführlich Aufbau und Ansatz der Arbeit erläuterte: vom Abgleich der in Marbach liegenden “Urschrift”, dem Manuskript, das Jünger den gesamten Krieg hindurch und auch danach bei allen Umzügen stets mit sich führte und in Parin aufwendig binden und einfassen ließ, über Erst- und Wehrmachtsausgabe sowie die Schweizer Ausgabe von 1943 bis hin zu den Nachkriegsüberarbeitungen 1949 und 1960.
Eine besondere Rolle sollen dabei die Rekonstruktionen der Korrekturen Lieselotte Jüngers spielen (vgl. zu diesem sensiblen Thema den Briefwechsel mit Mohler); hinzu kommen außerdem Dokumente zu Entstehung und Wirkung sowie die überlieferten Rezensionen des Buchs – allesamt vorsichtig-verdeckt mit Ausnahme der US-Besprechung, die frei von der Leber ausbreitete, welche NS-Größe sich wohl hinter welcher Marmorklippen-Figur verberge und zum Abschluß rhetorisch fragte, ob der Schriftsteller wohl noch am Leben sei. Zur Abrundung trug abermals Michael König eine längere Passage aus dem Buch vor, die die langsame Infiltration der Marina durch die Schergen des Oberförsters beschrieb (Kap. 10ff.).
Am Sonntagmorgen stand der Vortrag Dr. habil. Karin Tebbens über »Ikonographien eines intellektuellen Kriegers« auf dem Plan. Konkret ging es um die Freundschaft zwischen Ernst Jünger und dem Künstler der Neuen Sachlichkeit Rudolf Schlichter (»Ich verkehre viel mit den sogenannten Neuen Nationalisten, besonders mit Ernst Jünger, den ich auch gemalt habe; das sind erstaunlich anständige Menschen; ich habe links nie diese unzweideutige Gradheit menschlicher Gesinnung gefunden wie dort.«), der für etliche Porträts des Schriftstellers verantwortlich zeichnete. Seine bekannte Darstellung Jüngers von 1937 zeigt den Dichter vor dessen – damals noch zukünftigen – Marmorklippen und bietet reichlich Stoff für ikonographische Überlegungen, insbesondere hinsichtlich der verbildlichten Verwundbarkeit des Dargestellten trotz aller »Kälte, Intellektualität und Melancholie« der »freischwebenden Intelligenz«. Tebben referierte die ganz unterschiedlichen Aufgaben der Kunst im Jahre 1937 und in den Jahren zuvor; auch der später geäußerte Gedanke Jüngers, ob er auf einer zukünftigen Fassung des Porträts nicht lieber bemäntelt erscheinen solle, liefere Gelegenheit zu eigenen Überlegungen.
Im Abschlußvortrag widmete sich Dr. Matthias Schöning, Herausgeber des Ernst-Jünger-Handbuchs, der Frage nach der Perspektive in den Marmorklippen. In Anlehnung an Heidegger breitete er die Problemstellung der Perspektive (also wörtlich: des “deutlich Sehens”) in ihrem Verhältnis zur Position aus, die sich im individuellen Standpunkt niederschlage – der Verfasser bezieht also mit seinem Werk in der realen Welt Stellung, während gleichzeitig geistesgeschichtlich die Personen hinter den Anschauungen zurücktreten. Der Perspektive stehe demnach als Gegenbild zum Relativismus die “Gestalt” gegenüber, die im Arbeiter erstmals in Jüngers Schriften getreten sei und sich ab diesem Zeitpunkt als »Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile«, durch sein Werk gezogen habe.
In den Marmorklippen falle ihr gleichwohl eine gegenüber dem Arbeiter »schwächere« Intention zu: Den Monismus der Arbeiter-Gestalt ersetze nun die Mittelbarkeit einer Ausrichtung hin auf Ordnungen, »die jenseits von Macht und Gewalt gegründet sind«. Insofern sei Jüngers Roman eine Art von »Kurskorrektur« zurück zur Perspektivität, die im Werk stark und flach sei; dennoch müsse die Nichtbeliebigkeit des erzählerischen Blicks unterstrichen werden.
Im Anschluß an diese gehaltvollen erzähltheoretischen Ausführungen machte sich die gesamte Corona auf nach Wilflingen, wo nach einem gemeinsamen Mittagessen der Veranstaltungsausklang bei Mokka im Stauffenbergschen Schloß stattfand und das Ernst-Jünger-Haus in der gegenüberliegenden ehemaligen Oberförsterei zur Besichtigung einlud. Dort hielt Alexander Pschera für Besucher noch eine Überraschung parat: Im Zuge eines auf drei Jahre angelegten Projekts des Deutschen Literaturarchivs in Marbach findet derzeit die Gesamterfassung der Bibliothek Ernst Jüngers mit rund 11 000 Büchern statt. Diese werden nicht nur katalogisiert, sondern auch Buch für Buch nach Anstreichungen und Marginalien Jüngers durchgesehen, die ebenfalls erfaßt werden sollen – eine verdienstvolle Akribie, die nicht nur den gemeinen Jüngerjünger begeistern, sondern gewiß auch einige Forschungsdesiderate schließen wird.
Alles in allem eine absolut runde, stimmungsvolle Veranstaltung mit Gelegenheit für viele neue Bekanntschaften! Die 18. Jahrestagung soll im kommenden Jahr wieder am Palmwochenende in Heiligkreuztal stattfinden, voraussichtlich zum Thema “Ernst Jünger und die Linke(n)”. Auch da wird keine Oberseminaratmosphäre aufkommen: Jeder an Werk und Leben der Jünger-Brüder Interessierte ist willkommen, und das Verständnis der Vorträge erfordert kein abgeschlossenes Studium der Germanistik. Auch die Jünger-Gesellschaft selbst mit ihren derzeit rund 450 Mitgliedern im In- und Ausland freut sich über neue Gesichter – nur herein!