Mißstände, die in der Logik des Gesamtsystems selbst begründet liegen, neigen dazu sich bis zur Unerträglichkeit der Spannungen aufzuschaukeln.
Denn wer sie zu beheben sucht, wird nicht nur die Profiteure, sondern auch – was vielleicht weit hinderlicher ist – die Arbeitsweise des Status Quo gegen sich haben. Die Reform beginnt sich revolutionärer Mittel zu bedienen.
Denn wer sie zu beheben sucht, wird nicht nur die Profiteure, sondern auch – was vielleicht weit hinderlicher ist – die Arbeitsweise des Status quo gegen sich haben. Die Reform beginnt, sich revolutionärer Mittel zu bedienen.
An dieser Stelle entsteht das eigentümliche Phänomen der politischen Gewalt. Wörtlich genommen ist das fast ein Pleonasmus, doch bezeichnet man nicht ohne Grund damit die Gewaltanwendung innerhalb eines Gemeinwesens und unterhalb der Schwelle zum offenen Bürgerkrieg. Der Zweck ist hierbei etwas Widersprüchliches: Der bestehende Rechtszustand soll durch Gewalt verändert werden, diese durch den kapitalen Rechtsbruch erwirkte Veränderung aber in die bestehende Rechtsordnung wieder integriert werden.
Das bis heute wohl umfassendste Beispiel dieser Problematik ist die Geschichte der späten römischen Republik. Diese von Theodor Mommsen als Revolutionsepoche bezeichnete Zeit begann 133 v. Chr. mit dem gescheiterten Reformversuch des Tiberius Sempronius Gracchus. Der breitere Hintergrund der Gracchischen Agrarreformen ist den meisten bekannt. Interessant ist für uns hier vielmehr sein Vorgehen. Denn auch wenn Rom grundsätzlich eine direkte Demokratie war, in der die Volksversammlung mit einfacher Mehrheit der Tribus (Stimmbezirke) so ziemlich alles beschließen konnte, bot die über die Jahrhunderte gewachsene Verfassung der römischen Republik einer Opposition mehr Möglichkeiten zur Blockade als jede andere geschichtliche Verfassung.
Jeder der zehn Volkstribunen konnte mit seinem Veto jedes beliebige Staatsgeschäft untersagen. In den nach dem Kollegialitätsprinzip vergebenen Magistraturen konnte jeder Magistrat die Amtsführung seiner Kollegen unterbinden. Dazu kamen religiöse Bräuche, die Obnuntatio (Verkündung schlechter Vorzeichen), das ungeschriebene Gesetz, neue Gesetzesvorschläge erst nach einem positiven Votum des Senats vor die Volksversammlung zu bringen, und eine ganze Reihe prozeduraler Bestimmungen.
Der Zweck alldessen bestand darin, die Konsensfindung innerhalb der Führungsschicht zu erzwingen. Checks and balances sind eines der wichtigsten Strukturmerkmale der Oligarchie. Tritt ein Politiker mit Reformplänen an die Öffentlichkeit, ohne die große Mehrheit seiner Standesgenossen hinter sich zu haben, so müssen seine Gegner nur blockieren, um ihn auflaufen zu lassen und kaltzustellen. Entgegen den gängigen Klischees war politische Gewalt deshalb nicht nur das Mittel, mit dem eine radikale Minderheit der friedliebenden Mehrheit ihren Willen aufzwingen wollte. Ebensooft bedienten sich die Führer der Mehrheit dieses Mittels, um das Veto der Opposition zu durchbrechen.
Zum ersten Mal erscheint dies mit Tiberius Gracchus. Hatte er zunächst noch gehofft, zusammen mit einer ihm günstigen Strömung unter den Senatoren seine Ackerreform durchzusetzen, so stellten sich ihm bald die Verlierer dieses Gesetzvorschlages entgegen, die unrechtmäßig okkupiertes Gemeindeland hätten zurückgeben müssen. Sie bewogen einen seiner Kollegen, Marcus Octavius, zum Veto. Verfassungsrechtlich war damit der Fall erledigt, allein die politischen Zukunftsaussichten des Gracchus wie auch seine öffentliche Würde, seine Dignitas, hingen am Erfolg dieses Gesetzes. Er entschloß sich zu einer nie dagewesenen Maßnahme. Da Octavius als Volkstribun offensichtlich gegen den Volkswillen handle, ließ er ihn durch die Volksversammlung abwählen. Das war bisher noch nie vorgekommen, aber strenggenommen auch nicht verboten. Noch befand man sich in juristischem Niemandsland.
Als aber Octavius nicht weichen wollte, ließ Gracchus ihn durch einen seiner Amtsdiener von der Rednertribüne zerren. Seine aufgebrachten Anhänger hatte er aber jetzt nicht mehr im Griff. Sie stürmten auf Octavius zu, schlugen einem seiner Sklaven ein Auge aus und hätten den gerade auf zweifelhafte Weise seines Amtes Enthobenen gelyncht, wenn die anwesenden Senatoren mit ihrem Anhang ihn nicht handfest verteidigt hätten.
Dem herbeieilenden Gracchus gelang es, den Tumult zu beruhigen, das Ackergesetz konnte verabschiedet werden, und bald nahm auch die Kommission zur Landverteilung ihre Arbeit auf. Doch Tiberius Gracchus hatte sich eine entsetzliche Blöße gegeben. Seine Leute hatten sich an der Sacrosanctitas, der von alters her geheiligten Unantastbarkeit der Volkstribunen, vergriffen. Noch schützte ihn seine Amtsimmunität vor Strafverfolgung, doch unzweifelhaft würden ihn seine Gegner nach Ablauf seines Amtsjahres vor Gericht zerren – mit einer Geschworenenbank voll derjenigen, die durch sein Gesetz ärmer geworden waren – und in die Verbannung schicken lassen. Er brauchte eine zweite Amtszeit und bewarb sich um das Tribunat des folgenden Jahres. Das war der nicht mehr abweisbare Verfassungsbruch. Es reichte. Als der amtierende Konsul noch zögerte, einzuschreiten, stürmten die Senatoren, den Pontifex maximus an der Spitze, aus dem Senat, sammelten ihre Klienten und schlugen Tiberius Gracchus mit angeblich dreihundert seiner Anhänger tot.
„Seit dem Sturz der Königsherrschaft soll das in Rom der erste Aufstand gewesen sein, der durch Bürgermord und Bürgerblut entschieden wurde“, schrieb Plutarch über das Ende des Mannes, der als Reformer angetreten war, zum Aufrührer wurde, weil er sich am System verrannt hatte, und als Staatsfeind totgeschlagen wurde, weil er seine Anhänger nicht im Griff hatte. Es blieb aber keineswegs der letzte.
Gaius Gracchus, der zehn Jahre nach ihm das Reformwerk wieder aufnahm, scheint aus dem Verhängnis seines Bruders gelernt zu haben. Jedenfalls berichten unsere Quellen uns nichts darüber, daß er einmal zu ähnlich rabiaten Maßnahmen gegriffen hätte wie sein Bruder. Zunächst gelang es ihm auch so, sich durchzusetzen. Seine Gesetze passierten die Volksversammlung, und er erhielt sogar gegen alles Herkommen ein zweites Tribunat. Um jedoch aus den Volksversammlungen eine dauerhafte Macht neben und gegen die Senatsoligarchie zu machen, hätte er ihnen einen beständigen Vorstand geben, das heißt: das Tribunat auf längere Zeit besetzen müssen. Doch ein drittes Mal gelang es ihm nicht mehr, die Konvention zu brechen. Seine Gegner gewannen wieder an Einfluß, und während er in Amtsdingen auf Reisen war, wurden seine Reformen stückweise zurückgenommen. Erst jetzt, als sein Stern bereits am Sinken war, geschah es, daß einer seiner Anhänger einen Sklaven oder Freigelassenen des Konsuls Lucius Opimius erdolchte.
Das war der Anlaß, ihn zu beseitigen. Diesmal begnügte sich die Oligarchie nicht mehr mit den Toten einer Straßenschlacht. Nachdem sie Gaius Gracchus mit zahlreichen seiner Anhänger im Straßenkampf getötet hatte, fegte unter der Leitung des Opimius eine Welle von Säuberungsprozessen durch Rom. Plutarch beziffert die Opferzahl dieser Justizmorde mit dreitausend. Auch wenn das wahrscheinlich zu hoch ist: die Popularen wurden weitestgehend zerschlagen.
Beide Gracchen waren mit ihrem Versuch gescheitert, das schwerfällige, von Interessengruppen besetzte und prinzipiell auf den Erhalt des Status quo ausgerichtete System ohne Gewalt zu reformieren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Zwei Jahrzehnte später beschlossen daher zwei andere Männer, aufs Ganze zu gehen, Lucius Appuleius Saturninus und Gaius Servilius Glaucia. Inzwischen hatte sich in Rom die Lage in einer Hinsicht entscheidend verändert.
Innerhalb des Pomeriums, der heiligen Stadtgrenze, waren keine regulären Truppen erlaubt, es gab nicht einmal so etwas wie eine gewöhnliche Polizei. Außer daß dies den republikanischen Respekt vor dem Gemeinwesen auf besonders heilige Weise zum Ausdruck brachte, hatte dies für die Nobilität auch den angenehmen Nebeneffekt, daß sie als Stand, nicht als einzelne, mit ihren Klienten, Freigelassenen und Sklaven im Zweifelsfalle über das Gewaltmonopol verfügte. Dies änderte sich, als nach den Kriegen gegen Jugurtha und gegen die Kimbern und Teutonen die Stadt mit den entlassenen Veteranen des Marius überquoll, die auf ihre Versorgung warteten. Das hieß, es mußten Land verteilt und Kolonien gegründet werden. Nur fand der Senat sich dazu wenig geneigt.
Saturninus und Glaucia boten dem politisch wenig geschickten Marius an, die Ansprüche seiner Veteranen durchzusetzen. Als ein entsprechendes Gesetz verabschiedet werden sollte, meinten die Gegner des Antrages auf einmal, Donner gehört zu haben. Offensichtlich wollte Jupiter an diesem Tag keine weitere Abstimmung mehr. Saturninus kehrte sich nicht daran. „Paßt auf, daß auf den Donner nicht noch Hagel folgt.“ Nach erbitterten Straßenkämpfen, nicht nur mit den Knüppelgarden der Nobilität, sondern pikanterweise auch mit der städtischen Plebs, die wenig für die Belange der mehrheitlich aus dem ländlichen Raum stammenden Soldaten übrighatte, wurde das Forum regelrecht erobert und ein Gesetz zur Ansiedlung der Veteranen verabschiedet.
Nur: Wie sollte man, wenn die Schlägerbanden einmal nach Hause gegangen waren, diesem Gesetz noch Geltung verschaffen? Saturninus glaubte, die Lösung gefunden zu haben. Er fügte seinem Gesetz eine Klausel hinzu, nach der es jeder Magistrat und jeder Senator persönlich zu beeiden hatte. Anderenfalls mußte er in die Verbannung gehen. Unter der Drohung der Straße beriet der Senat. Diese Forderung war ein Schlag ins Gesicht, ein unerhörter Gesichtsverlust der ganzen Nobilität und ein brandgefährlicher Präzedenzfall. Doch als es darauf ankam, entschied sich nur ein einziger Mann, Quintus Caecilius Metellus, für die Verbannung.
Indem sie die Gewalt zum äußersten Punkt gesteigert hatten, der vor dem Bürgerkrieg noch blieb, schienen Saturninus und Glaucia alles gewonnen zu haben. Doch in Wirklichkeit hatten sie ihr Blatt überreizt. Denn Marius, dessen Veteranen sie doch die Herrschaft über die Straße verdankten, war durch diesen Streich zutiefst blamiert worden. Als amtierender Konsul konnte er eine solche Demütigung des Senates nicht dulden und hatte auch zuerst versichert, den Eid zu verweigern. Als er dann dennoch schwor, um seine Veteranen nicht vor den Kopf zu stoßen, riß er zwar den Widerstand des Senates um, doch hatte er sich vor der ganzen Stadt lächerlich gemacht.
Fern davon, eine Entscheidung gebracht zu haben, hatten Straßenschlachten und der erzwungene Eid den Konflikt nur weiter zugespitzt. Die nächste Eskalation kam schnell. Glaucia wollte für das Konsulat des Jahres 99 v. Chr. kandidieren, obwohl er im Jahr 100 noch die Prätur bekleidete. Dem Herkommen nach konnte man nicht für ein Amt kandidieren, solange man noch ein anderes besetzte. Marius, der als amtierender Konsul die Wahlen leitete, verweigerte Glaucia die Kandidatur. Bald darauf erschlugen die Schlägerbanden der beiden einen anderen Konsulatsbewerber. Die Situation geriet außer Kontrolle. Saturninus und Glaucia verbarrikadierten sich mit ihren Anhängern auf dem Kapitol. Der Senat erklärte den Notstand und beauftragte ihren ehemaligen Verbündeten Marius damit, den Aufstand niederzuschlagen. Der Feldherr gehorchte, und mit ihm seine Veteranen. Marius versuchte zwar noch, das Leben der Aufrührer zu schonen, doch eine wütende Horde von Senatoren und Rittern kletterte auf das Gebäude, in dem sie gefangengehalten wurden, rissen die Ziegel aus dem Dachstuhl und steinigten sie.
Weder der Weg der Gracchen noch der des Saturninus und des Glaucia hatte sich als gangbar erwiesen, um in der untergehenden Republik auch nur einige Reformen durchzusetzen, geschweige denn den Staat auf neue, festere Grundlagen zu stellen. Wer auf Gewalt verzichten wollte, rannte sich an diesem System tot, wer zu ihr griff, wurde niedergeschlagen. In den Jahren nach dem Tod des Saturninus und des Glaucia wurde Rom von den schwersten Erschütterungen seit dem Punischen Krieg heimgesucht. Der Bundesgenossenkrieg, der Terror Cinnas und die Proskriptionen Sullas fegten über die Republik hinweg, ohne eine Lösung für die tiefgreifende Systemkrise herbeizuführen. Hier noch Reformen durchzupeitschen, ohne die Lage sofort eskalieren zu lassen, das gelang erst einem größeren: Julius Caesar.
Tweed
Sie bringen eine nur scheinbar überflüssige Zusammenfassung eines bekannten historischen Konflikts, die Sie durch die bloße Erwähnung des mit seiner Lösung verbundenen Namens überraschend in eine - im heutigen Kontext - brisante und nachdenkenswerte Gesamtaussage verwandeln. Danke. Brillante Textdramaturgie.