Ich halte es nimmer aus, daß ich von Lemmingen umgeben bin. Ein besonders lieber Lemming sitzt im Wohnzimmer und hat vorhin, natürlich sprachen wir über Frankreich, anhand des Konzepts der “ethnischen Wahl” absolut nicht verstehen können und wollen, daß und warum ich so einen “Alarmismus” verbreite: Dies zu tun sei “immer falsch”.
„Du gehst immer von der größtmöglichen Katastrophe aus und machst diese zu deiner politischen Direktive. Aber ihr sehnt euch ja nach der Apokalypse.“
„Ich denke doch nur von Zahlen und Befunden her, die vorliegen.“ Aus Zahlen zu extrapolieren, ist gängige Praxis beispielsweise in den Wirtschaftswissenschaften oder in der Demographie, aber sobald daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen für mich zwingend ist, kommt H. und meint, daß ich nur Katastrophen an die Wand malte.
Ich erzählte ihm vom Titelblatt der Gratiszeitung ÖSTERREICH, auf dem zu lesen war, oben: „66 % – Macron zerstört Le Pen“, und unten: „3000 am Tag – Neue Asylwelle im Mittelmeer“, und wagte es, einen Zusammenhang herzustellen: „Da haben sie ja dann, was sie wollen!“
H. schüttelte den Kopf, die Franzosen hätten doch Macron „wegen der Arbeitsplätze“ gewählt, und Sahra Wagenknecht, die er ja zu wählen gedenke, habe Macron kritisiert wegen des Sozialabbaus. Genau dadurch würde Le Pen doch gestärkt.
Ich wandte ein, daß das linke Thema „soziale Gerechtigkeit“ wohl doch entschieden von Le Pen bedient worden wäre (was ihr ja auch Vorwürfe von Alice Weidel eingebracht habe) und man die Soziale Frage heute nicht ohne die Migrationsfrage stellen dürfte, und da müßte man sehen, daß in Frankreich bereits ganze Stadtviertel und Städte gekippt seien.
„Gekippt? Das glaube ich nicht! Welche denn?“ Ad hoc konnte ich das auch nicht beantworten, aber allein das Wundern über diese Tatsache war nahe daran, meinen Frame zu Fall zu bringen: Was macht man, wenn jemand eine Tatsache so betrachtet, als höre er diese nicht nur zum ersten Mal, sondern als wäre diese absolut begründungsbedürftig und völlig außerhalb des gemeinsamen Paradigmas?
Nichts Geringeres als alle meine Annahmen (zum Großen Austausch, zum Globalismus, zur Migration aus Afrika, zur Ressourcenendlichkeit aka Peak oil, zur Tragfähigkeit dieses Wirtschaftssystems, zur Dekadenz dieser Kultur, des Christentums und seiner Wehrhaftigkeit) hält H. für „Katastrophensehnsucht“, um einer vermeintlichen Langeweile zu entfliehen.
Dabei gelte es doch, mit Augenmaß und Sachverstand die Dinge zu beobachten und nicht brutale Lösungen aus imaginierten Szenerien abzuleiten. Die Vernunft liege doch eindeutig auf seiner Seite, die Phantasterei auf meiner, und ich hielte sie bloß für Realitätsbeobachtung. Es gelte außerdem, gerade diesen langweiligen Zustand einer seit Jahrzehnten befriedeten Demokratie mit Wohlfahrtsstaat und Lebensversicherungen hoch- statt geringzuschätzen. Meine Apokalyptik untergrabe alle ja durchaus angebrachte Skepsis und das Abwägen rationaler Argumente.
Woher bilde ich mir eigentlich ein, Dinge sehen zu können, die er und die Mehrheit der Gesellschaft nicht sehen können oder wollen? Wahrscheinlich habe ich mir ein hartnäckiges Kassandra-Syndrom eingefangen.
Gustav Schwab erzählt in den Sagen des klassischen Altertums (Christa Wolfs feministische, beharrlich „Achilles das Tier“ hassende Kassandra ist nur ihre dekadente Schwester):
Kassandra veränderte ihre Miene nicht bei diesen Worten; lange blieb sie ohne Regung auf dem Stuhl ihres Wagens sitzen, die Dienerinnen mußten sie nötigen, ihren Platz zu verlassen. Endlich sprang sie vom Sitze wie ein gescheuchtes Wild, ihr Herz wußte alles, was ihr bevorstand; sie war gewiß, daß der Schluß des Schicksals nicht zu ändern sei.
Die Seherin ist bekanntlich mit dem Fluch geschlagen, die Zukunft voraussagen zu können, aber ihr wird keine Voraussage geglaubt. Alles Mahnen und Warnen und Zusammenrechnen und Extrapolieren von der unmittelbaren Gegenwart auf Zukunft wird als „wieder mal typisch Kassandra“ lächerlich gemacht. Aber es tritt mit Notwendigkeit ein, es ist „der Schluß des Schicksals“.
Das Kassandra-Syndrom ist nicht meine Erfindung. Problematisch an ihm ist zweierlei:
- „Wenn wir über Verleugnung sprechen, nehmen wir doch wohl als gegeben an, daß wir genau wissen, was die Wahrheit ist.“ (Léon Wurmser) Ich kann mir nur die Rolle der Kassandra anmaßen, wenn ich weiß, daß die anderen die blinden Lemminge sind, die die Realität verleugnen.
- Selbstgerechtigkeit droht, Abkapselung im immer wieder von Linken uns gern vorgeworfenen „geschlossenen Weltbild“. Sozial ist Kassandra nicht anschlußfähig. Die Diagnose der Dummheit der Lemminge wird mit dem Preis der Einsamkeit erkauft, in der man sich bei entsprechender Veranlagung auch gefallen kann.
Das Kassandra-Syndrom wird in der Psychologie als typisch für Asperger-Autisten thematisiert. Um in der modernen Kassandra-Metaphorik zu bleiben: Vielleicht sind die Rechten die „Aspies“ der Gesellschaft, die ihrerseits massiv irritiert auf sie reagiert?
Die Betroffenen leben nach einem selbst erstellten Schema (die „Vorhersagen“), reagieren unangemessen auf Verständnislosigkeit der Außenwelt und entwickeln neben sprachlichen und verhaltenstechnischen Besonderheiten nicht selten auch Inselbegabungen und hohe Intelligenz.
Diese Definition entstammt einem früheren Wikipedia-Artikel zum „Kassandra-Syndrom“, der nicht mehr existiert. Dies liegt möglicherweise daran, daß die Existenz des Syndroms überhaupt bestritten wurde, und zwar von seelisch Gesunden. Diese leiden darunter, Kassandren in ihrer Umgebung zu haben, und entwickeln gesteigerte Streßsymptome.
Ihre Logik: Daß die Aspies ihre Perspektive auch noch zu verteidigen wagen (einfach, weil die Vorhersagen objektiv wahr sind und, verdammt noch mal, zutreffen!), liegt an – deren Empathielosigkeit! Es zeugt also von mangelnder Empathie, mich nicht in die Menschen meiner Umgebung hineinversetzen zu können, die durch die „Vorhersagen“ gestreßt werden. So als wäre der Überbringer der Botschaft das Übel selbst.
Der Psychoanalytiker Léon Wurmser hat 1989 in seinem Werk „Die zerbrochene Wirklichkeit“ das “Kassandra-Syndrom” als kollektives Problem umrissen.
So gäbe es denn auch eine Art kulturelles Kassandra-Syndrom: einen (phobischen) Kern der Angst, […] Vermeidung und globale Verleugnung, Glaubensstrukturen, die dem Gefürchtet-Gemiedenen entgegengesetzt sind, Handlungsabläufe, die der Beschützung gegen jene Gefahren dienen sollen, und der daraus resultierenden Spaltung des Selbst- und Welterlebens (die Kassandra-Konfiguration).
Das erklärt, inwiefern rechte Kassandren ungehört bleiben müssen – die institutionalisierten und verinnerlichten Glaubenssysteme dienen dem seelischen Selbstschutz der Mehrheitsgesellschaft. Wurmser pathologisiert nun nicht die gesamte westliche Gesellschaft, für einen Psychoanalytiker ist eine gewisse Dosis Phobie, Neurose, Abwehr, Abspaltung überlebensnotwendig. Offene Konfrontation mit dem Abgewehrten erzeugt indes namenlose Angst.
Den Empathielosigkeitsvorwurf können wir argumentativ parieren, die Spaltung des Selbst- und Welterlebens müssen wir zu ertragen lernen. Und was tun mit den Lemmingen, den „Feinden des Volkes“? Kassandra, die Seherin, gibt ihren schwarzen Rat nicht ohne Hintersinn:
Ihr Herz wußte alles, was ihr bevorstand; sie war gewiß, daß der Schluß des Schicksals nicht zu ändern sei; und hätte sie ihn ändern können, sie hätte der Rachegöttin den Feind ihres Volkes nicht entziehen wollen, und weil er doch ihr Retter war, so verdroß es sie nicht, mit ihm zu sterben.
H.: „Ein selbstzerstörerischer Schluß! Ich hoffe, keine selbsterfüllende Prophezeiung!“
Starhemberg
An den kommenden Beben sind dann die Seismographen schuld...
Nach Jahrzehnten der Vollkaskomentalität und einem Jahrhundert der Sozialdemokratisierung ist der reale Zusammenbruch einer fragilen Gesellschaftsstruktur für solche Menschen einfach nicht mehr vorstellbar. Die Generation, die noch aktiv den letzten Krieg erlebte, wusste, wie schnell es gehen kann. Nur die sind inzwischen tot oder dement.
Doch steter Tropfen höhlt den Stein, ich argumentiere viel mit Zahlen, z.B. Fertilitätsrate etc... Oder die Kosten der bisherigen Entwicklungshilfe in Afrika, ohne jedes erkennbare Ergebnis. Und, dass "Empathie" nichts, aber auch gar nichts mit Sicherheitspolitik zu tun hat. Auch wenn die Bundeswehr wohl die erste "empathische Inklusionsarmee" der Welt sein wird. Das gibt sich wieder, spätestens sobald die ersten Massengäber ausgehoben werden müssen.
Ich kann aber nicht verhehlen, dass sich mein Bekanntenkreis in den letzten vier, fünf Jahren deutlich reduziert hat. Dafür sind allerdings auch ein paar neue, rechtsdenkende Menschen dazugekommen, eine wahre Bereicherung. Vor allem die Opportunisten sollte man weglassen. Diese sind, so glaube ich, die Mehrheit. Und Menschen, die tatsächlich "DIE LINKE" wählen wollen, finde ich höchstens bizarr, sonst aber nichts. Mit denen diskutieren ist mehr "Comedy", man darf das unmöglich ernst nehmen. Überhaupt - Humor hilft, so finde ich.
Und eine Waffe im Haus.