23. Mai 2017, 21:04 Uhr, Manchester. Von offizieller Seite ist alles gesagt worden zu der Nagelbombe, die am Montagabend insgesamt 23 Menschen zerriß. Theresa May, der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan und das englische Königshaus klopfen sich beruhigend auf die Schulter, nach der Schweigeminute am Freitag wird man wieder zum Tagesgeschäft zurückkehren und vielleicht sogar irgendwann in den nächsten Wochen die kritische Terrorwarnstufe aufheben können.
Und überhaupt: Was für eine schöne Sinfonie aus so einem fürchterlichen Einzellfall ersteht: Ein neues “Seid umschlungen Millionen!”, gesungen von Katy Perry, deren internationale Expertise ihr die geniale Erkenntnis bescherte, daß die Reaktion auf einen solchen Terroranschlag nur lauten kann: No borders, more love, coexist! Dazu das beruhigende Stampfen der Druckerpressen, die schon heute wissen: Es lag an der mangelnden Integration. Gekrönt wird die Harmonie durch das anschwellende Tirilieren der Twitterflöten engagierter Netzaktivisten, die sich weniger dafür interessieren, daß ein paar englische Eltern jetzt die zerfetzten Körper ihrer Kinder begraben müssen, als dafür, dass #notallmuslims Terroristen sind.
Fast hätte es geklappt, hätte sich da nicht plötzlich ein wütender, schriller Mollakkord aus dem blutenden Herzen Englands hervorgewühlt und den bunten Menschheitslügnern und rosa-Luftballon-aufsteigen-Lassern die Party versaut.
Morrissey, jener Antiheld der britischen Rockgeschichte, feiert gerade in Manchester seinen 58. Geburtstag, als ihn die Nachricht vom Anschlag erreichte. Einen Tag später verfaßt er auf Facebook ein Schreiben, das sich gewaschen hat:
Celebrating my birthday in Manchester as news of the Manchester Arena bomb broke. The anger is monumental.
For what reason will this ever stop?Theresa May says such attacks “will not break us”, but her own life is lived in a bullet-proof bubble, and she evidently does not need to identify any young people today in Manchester morgues. Also, “will not break us” means that the tragedy will not break her, or her policies on immigration. The young people of Manchester are already broken – thanks all the same, Theresa. Sadiq Khan says “London is united with Manchester”, but he does not condemn Islamic State – who have claimed responsibility for the bomb. The Queen receives absurd praise for her ’strong words’ against the attack, yet she does not cancel today’s garden party at Buckingham Palace – for which no criticism is allowed in the Britain of free press. Manchester mayor Andy Burnham says the attack is the work of an “extremist”. An extreme what? An extreme rabbit?
In modern Britain everyone seems petrified to officially say what we all say in private. Politicians tell us they are unafraid, but they are never the victims. How easy to be unafraid when one is protected from the line of fire. The people have no such protections.Morrissey
23 May 2017.
Inhaltlich schreibt Morrissey nichts, was für unsereins in irgendeiner Art und Weise neu wäre, beachtenswert ist auch nicht was hier veröffentlicht wurde, sondern von wem. Wer nicht ganz im gestern lebt und sich also auch gelegentlich für das Werk zeitgenössische Künstler begeistern kann, der muß als Rechter zweifelsohne eine dicke Haut haben. Zu groß ist die Verlockung, in den einstimmigen Chorgesang von Vielfalt, Menschlichkeit und Frieden einzustimmen, zu begehrt die Meinung Prominenter zum Weltgeschehen, als daß man riskieren könnte, etwas wirklich Kontroverses zu sagen.
Es ist zweifelsohne eine Stärke unseres Milieus, daß wir als Zeugen unserer Idee keine Popsternchen, Hollywood-Schauspieler oder glattgeleckte Wutbürger à la Serdar Somuncu brauchen; uns reichen die großen Toten, in deren Verantwortung wir uns sehen, deren Auftrag wir tragen.
Und doch, mal so ganz unter uns Allzumenschlichen: Ist es nicht mal eine erfrischende Brise, aus dem Mund eines so herausragenden Musikers das zu hören, was man als Gewissheit seit Jahr und Tag gegen wohlmeinende Arbeitskollegen, ignorante Journalisten und nicht zuletzt das eigene Bedürfnis nach Ruhe und Frieden verteidigt?
Mein Rat daher an den Teil der Leserschaft, der meinen Musikgeschmack teilt: Schenken Sie sich einen Doppelten ein, legen Sie The Smiths oder direkt den Großmeister persönlich auf und gönnen Sie sich den Luxus einen Facebookpost lang zu den Guten zu gehören. Wir haben es uns verdient.
Ein gebürtiger Hesse
Man würde den letzten Satz Morriseys gern anders fassen:
The people HAS no such protections - das VOLK hat keine derartigen Mittel, um sich zu schützen,
aber was der Mann sagt, läßt einen herrlichen frischen Wind durchs Fenster wehen. Möge sein Beispiel Schule machen und noch viel mehr Prominente zu ähnlichen Widerstandsworten bewegen. Der verlinkte Song geht ebenfalls ins Blut.