Marx neu lesen 4

von Adolph Przybyszewski

"Radikal sein, heißt, die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen aber ist der Mensch selbst", schreibt Marx in seiner Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.

Es gel­te daher, bestehen­de poli­ti­sche Pro­ble­me “ad homi­nem zu demons­trie­ren”, also am Men­schen selbst aufzuzeigen.

Aus­gangs­punkt für die­se For­de­rung, ein radi­ka­les Den­ken zu wagen, ist Mar­xens Fest­stel­lung, daß im Deutsch­land des 19. Jahr­hun­derts die “Kri­tik der Reli­gi­on im wesent­li­chen been­digt” sei, das Instru­men­ta­ri­um des Begriffs und ent­spre­chen­de Befun­de also vor­lä­gen. Die­se Ent­fal­tung einer Kri­tik der Reli­gi­on bil­de die “Vor­aus­set­zung aller Kri­tik”, und das nicht nur in dem Sinn, daß die Reli­gi­ons­kri­tik dem Men­schen “in der phan­tas­ti­schen Wirk­lich­keit des Him­mels, wo er einen Über­men­schen such­te, nur den Wider­schein sei­ner selbst” offen­bart und ihn damit auf sich zurück­ver­wie­sen hat.

Das “Fun­da­ment der irreli­giö­sen Kri­tik” sei näm­lich die Erkennt­nis – oder Annah­me, wie man will –, daß der Mensch die Reli­gi­on mache und nicht die Reli­gi­on den Men­schen, so Marx. Da dem Men­schen indes­sen ein, mit Schil­lern zu spre­chen, “reli­giö­ser Trieb” inne­wohnt, ver­fiel er sogleich der Wirk­macht ande­rer Feti­sche, die ihm durch die Hin­ter­tür ein­ge­schmug­gelt wur­den, dar­un­ter im 20. Jahr­hun­dert an ers­ter Stel­le Mar­xens Nach­be­ter mit ihrer mar­xis­ti­schen “Fetisch­die­ne­rei”.

Nun mag der Bedarf an Sinn und Ver­an­ke­rung im Abso­lu­ten tat­säch­lich etwas eigen­tüm­lich Mensch­li­ches sein, ein anthro­po­lo­gi­sches Fak­tum; doch ist gewiß auch rich­tig, daß der Mensch “kein abs­trak­tes, außer der Welt hocken­des Wesen” ist, son­dern “die Welt des Men­schen, Staat, Sozie­tät.” Und die­ser Staat, betont Marx, “die­se Sozie­tät pro­du­zie­ren die Reli­gi­on” in ihrer je spe­zi­fi­schen Form: “Die Reli­gi­on ist die all­ge­mei­ne Theo­rie die­ser Welt, ihr enzy­klo­pä­di­sches Kom­pen­di­um, ihre Logik in popu­lä­rer Form, ihr spi­ri­tua­lis­ti­scher Point-d’hon­neur, ihr Enthu­si­as­mus, ihre mora­li­sche Sank­ti­on, ihre fei­er­li­che Ergän­zung, ihr all­ge­mei­ner Trost- und Rechtfertigungsgrund.”

In die­sem Sinn ist die Reli­gi­on für Marx ein “ver­kehr­tes Welt­be­wußt­sein”, da es von der “ver­kehr­ten Welt” der gegen­wär­ti­gen Sozie­tät pro­du­ziert wird und die­se damit repro­du­ziert. So ver­stan­den ist Reli­gi­on “das Selbst­be­wußt­sein und das Selbst­ge­fühl des Men­schen, der sich selbst ent­we­der noch nicht erwor­ben oder schon wie­der ver­lo­ren hat”, wor­über man zumin­dest gele­gent­lich nach­den­ken sollte.

Wer näm­lich heu­te das Gefühl hat, in einer “ver­kehr­ten Welt” zu leben, kommt nicht umhin, nach dem gegen­wär­ti­gen “ver­kehr­ten Welt­be­wußt­sein” und sei­nen reli­giö­sen Pro­jek­tio­nen zu fra­gen. Der Mar­xis­mus als Fetisch­dienst exis­tiert nur noch in unbe­deu­ten­den Sek­ten, die Una sanc­ta in ihren deut­schen Filia­len hat sich pro­tes­tan­ti­siert, wie das Ver­hal­ten der dor­ti­gen katho­li­schen “Wür­den­trä­ger” anläß­lich der letz­ten Debat­ten um den deut­schen Papst zeig­te. Und die EKD  ist nur mehr “der Komö­di­ant einer Welt­ord­nung, deren wirk­li­che Hel­den gestor­ben sind”.

Den­noch ist der Pro­tes­tan­tis­mus ein wich­ti­ger Ansatz­punkt, um das heu­ti­ge ver­kehr­te Welt­be­wußt­sein in Deutsch­land ver­ste­hen zu kön­nen. Mar­tin Luther hat­te näm­lich die römisch-katho­li­sche “Knecht­schaft aus Devo­ti­on besiegt”, wie Marx tref­fend ana­ly­siert, doch dies nur um den Preis, daß er die evangelische

Knecht­schaft aus Über­zeu­gung an ihre Stel­le gesetzt hat. Er hat den Glau­ben an die Auto­ri­tät gebro­chen, weil er die Auto­ri­tät des Glau­bens restau­riert hat. Er hat die Pfaf­fen in Lai­en ver­wan­delt, weil er die Lai­en in Pfaf­fen ver­wan­delt hat. Er hat den Men­schen von der äußern Reli­gio­si­tät befreit, weil er die Reli­gio­si­tät zum innern Men­schen gemacht hat. Er hat den Leib von der Ket­te eman­zi­piert, weil er das Herz in Ket­ten gelegt. (MEW 1, S. 386)

Seit­her habe der Kampf des Deut­schen nicht mehr “dem Pfaf­fen außer ihm” gegol­ten, son­dern “es galt den Kampf mit sei­nem eige­nen innern Pfaf­fen, sei­ner pfäf­fi­schen Natur.” Und die­ser Kampf mit dem “eige­nen innern Pfaf­fen”, der “pfäf­fi­schen Natur” der Deut­schen, ist bei­lei­be nicht abge­schlos­sen, im Gegen­teil: Man schaue nur in die pro­tes­tan­tisch durch­säu­er­ten Gesich­ter des heu­ti­gen anci­en régime, die­ser Fetisch­die­ner der “Zivil­re­li­gi­on”, und es wird deut­lich, wes­halb man bis­wei­len Marx neu lesen soll­te, ohne dar­über selbst zum Die­ner einer abge­ta­nen Ersatz­re­li­gi­on zu werden.

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