Es gelte daher, bestehende politische Probleme “ad hominem zu demonstrieren”, also am Menschen selbst aufzuzeigen.
Ausgangspunkt für diese Forderung, ein radikales Denken zu wagen, ist Marxens Feststellung, daß im Deutschland des 19. Jahrhunderts die “Kritik der Religion im wesentlichen beendigt” sei, das Instrumentarium des Begriffs und entsprechende Befunde also vorlägen. Diese Entfaltung einer Kritik der Religion bilde die “Voraussetzung aller Kritik”, und das nicht nur in dem Sinn, daß die Religionskritik dem Menschen “in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst” offenbart und ihn damit auf sich zurückverwiesen hat.
Das “Fundament der irreligiösen Kritik” sei nämlich die Erkenntnis – oder Annahme, wie man will –, daß der Mensch die Religion mache und nicht die Religion den Menschen, so Marx. Da dem Menschen indessen ein, mit Schillern zu sprechen, “religiöser Trieb” innewohnt, verfiel er sogleich der Wirkmacht anderer Fetische, die ihm durch die Hintertür eingeschmuggelt wurden, darunter im 20. Jahrhundert an erster Stelle Marxens Nachbeter mit ihrer marxistischen “Fetischdienerei”.
Nun mag der Bedarf an Sinn und Verankerung im Absoluten tatsächlich etwas eigentümlich Menschliches sein, ein anthropologisches Faktum; doch ist gewiß auch richtig, daß der Mensch “kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen” ist, sondern “die Welt des Menschen, Staat, Sozietät.” Und dieser Staat, betont Marx, “diese Sozietät produzieren die Religion” in ihrer je spezifischen Form: “Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund.”
In diesem Sinn ist die Religion für Marx ein “verkehrtes Weltbewußtsein”, da es von der “verkehrten Welt” der gegenwärtigen Sozietät produziert wird und diese damit reproduziert. So verstanden ist Religion “das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat”, worüber man zumindest gelegentlich nachdenken sollte.
Wer nämlich heute das Gefühl hat, in einer “verkehrten Welt” zu leben, kommt nicht umhin, nach dem gegenwärtigen “verkehrten Weltbewußtsein” und seinen religiösen Projektionen zu fragen. Der Marxismus als Fetischdienst existiert nur noch in unbedeutenden Sekten, die Una sancta in ihren deutschen Filialen hat sich protestantisiert, wie das Verhalten der dortigen katholischen “Würdenträger” anläßlich der letzten Debatten um den deutschen Papst zeigte. Und die EKD ist nur mehr “der Komödiant einer Weltordnung, deren wirkliche Helden gestorben sind”.
Dennoch ist der Protestantismus ein wichtiger Ansatzpunkt, um das heutige verkehrte Weltbewußtsein in Deutschland verstehen zu können. Martin Luther hatte nämlich die römisch-katholische “Knechtschaft aus Devotion besiegt”, wie Marx treffend analysiert, doch dies nur um den Preis, daß er die evangelische
Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußern Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum innern Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt. (MEW 1, S. 386)
Seither habe der Kampf des Deutschen nicht mehr “dem Pfaffen außer ihm” gegolten, sondern “es galt den Kampf mit seinem eigenen innern Pfaffen, seiner pfäffischen Natur.” Und dieser Kampf mit dem “eigenen innern Pfaffen”, der “pfäffischen Natur” der Deutschen, ist beileibe nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Man schaue nur in die protestantisch durchsäuerten Gesichter des heutigen ancien régime, dieser Fetischdiener der “Zivilreligion”, und es wird deutlich, weshalb man bisweilen Marx neu lesen sollte, ohne darüber selbst zum Diener einer abgetanen Ersatzreligion zu werden.