Ulrike Guérots „Streitschrift“ Der neue Bürgerkrieg – Das offene Europa und seine Feinde.
Es handelt sich hier indes weniger um eine Streitschrift denn um eine Art chiliastisch aufgeladene Großpredigt, die das radikal zu Ende bringen will, was Rolf Peter Sieferle in Finis Germania in all seinen Facetten auf seine Konsequenzen hin analysiert, nämlich die Zerstörung des Nationalstaates. Das „Streitschrift“ ist eine Art Kompilat von Guérots im letzten Jahr veröffentlichter Beschwörung Warum Europa eine Republik werden muß! Eine politische Utopie, die aus ihrer Sicht offenbar nicht genügend Resonanz erzielt hat.
Also mußte jetzt eine inhaltlich griffigere „Volksausgabe“ her, um die Reichweite ihrer Botschaft zu erhöhen. Diese ist so simpel wie grundstürzend: Beendet endlich den ganzen Nationalquatsch und ruft den grenzenlosen Vielvölkerstaat Europa mit einem europäischen „Staatsvolk“ (besser: einer beliebigen Ansammlung von Menschen) aus, und zwar „asap“, sprich so schnell wie möglich.
Flankiert wird sie dabei gelegentlich von dem mit Auszeichnungen aller Art nur so überhäuften, im medialen Mainstream überall gehätschelten österreichischen Schriftsteller Robert Menasse, mit dem sie das „Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik“ (2013) verfaßt hat. Jeder Mensch müsse, so Guérot, „in Zukunft das Recht haben, nationale Grenzen zu durchwandern und sich dort niederzulassen, wo er will.“ Konsequenterweise fordert sie deshalb: „Weg mit den Grenzen. Her mit den Flüchtlingen, egal wie viele, egal woher sie kommen.“
Flüchtlinge will sie wohl auch deshalb nicht mehr als Flüchtlinge bezeichnet wissen, sondern als „Weltgäste“, die in ihren Gastländern ihre eigenen Städte nachbauen sollen, so wie es europäische Auswanderer in Nordamerika getan haben (in weitgehend menschenleeren Gebieten indes, die sie vorher von Indianern „gesäubert“ hatten …).
Sie hält das für einen „interessanten Lösungsansatz“, um die „Konkurrenz um billigen Wohnraum und Jobs“ zu lindern, und hat offensichtlich mittlerweile in der Co-Vorsitzenden der Grünen im Europaparlament, Ska Keller, eine gelehrige Schülerin gefunden. Neu-Mossul in Mecklenburg-Vorpommern, Neu-Aleppo in Nordrhein-Westfalen oder Neu-Lumbumbashi in Bayern? Da wurde es dann selbst Peter Kapern, der Guérot im Deutschlandfunk interviewte, ein wenig blümerant. Ein großer Teil der Zuhörer werde jetzt gleich rufen, die „Frau sei doch nicht mehr zu retten“, habe sie das, so wirft er ein, einkalkuliert? Die Antwort der Politologin ist aufschlußreich:
Ja natürlich wird uns – das sagen Sie ja jetzt auch schon – Irrealismus oder Träumerei vorgeworfen, daß das ja gar nicht möglich ist. Dagegen stellen wir einfach mal Tertium datur … Wir sehen ja in Griechenland, daß wir auf Stränden am Mittelmeer keinen Stacheldraht bauen können. Und da haben wir einfach gesagt, das machen wir. Wir erinnern uns an die Geschichte. Es ist ja auch nichts Neues in dem Vorschlag, sondern wir haben einfach daran erinnert, daß nationale Grenzen etwas sehr Neues sind. Das haben wir leider vergessen, weil wir im 20. Jahrhundert gelebt haben. Aber meistens hat man grenzenlos in Europa gereist.
„Dagegen stellen wir einfach mal Tertium datur“: Weg mit den Nationen und den Grenzen, man habe in Europa (angeblich) sowieso die meiste Zeit „grenzenlos“ gereist. Und dann gibt es ja noch den Philosophen Immanuel Kant, „der allen Erdenbürgern ein Weltgastrecht“ zugestanden haben soll. Alle Menschen seien nach Kant als Erdenbürger angeblich gleich und hätten „das gleiche Recht“, „auf jedem Platz der Erde zu wohnen“. „Dieses Weltgastrecht“ gelte es sich „heute in Erinnerung zu rufen und zu sagen, wie organisieren wir denn heute Weltgastrecht“. Diese Interpretation Kants, mit der Guérot hier hausieren geht, ist, wie Tobias Vetter in seinem Blog aufzeigt, mehr als fragwürdig, hatte Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) doch unmißverständlich ein Besuchsrecht im Auge; als Referenz für die Behauptung, Kant stehe für ein Recht darauf, überall auf dieser Welt seine Zelte aufzuschlagen oder gar seine Städte nachzubauen, taugt er also nicht.
Hauptagitationsfeld aber bleibt Guérots Forderung nach einer Europäischen Republik und die Behauptung, die Zeit der Nationalstaaten sei (in Europa) vorbei. Diese Forderung steht auch im Mittelpunkt ihres von der Sachbücher-Jury so wärmstens empfohlenen Buches Der neue Bürgerkrieg. Die Hauptkampflinie in diesem „Bürgerkrieg“ verläuft zwischen den bösen Rechtspopulisten und der noch unentschlossenen „Zivilgesellschaft“, die nicht den notwendigen Furor entwickelt, um endlich die Europäische Republik herbeizuzwingen.
Wie nun kann aus der Sicht von Guérot Bewegung in die erstarrten Frontlinien kommen? Antwort: Durch die bösen „Rechtspopulisten“ von Orbán bis zur AfD (= „Vertreter des europäischen Ungeistes“), die die Rolle der (unfreiwilligen) „Agenten des Wandels“ übernehmen und als Sturmtruppen dessen agieren sollen, was Hegel „List der Vernunft“ nannte. Sie, die Rechtspopulisten, können „uns eine Mammutaufgabe abnehmen, indem sie die Nationalstaaten, die zu einen sie vorgeben, de facto spalten und damit kaputtmachen“, erklärt Guérot. Erst aus „der Gärmasse des gekippten Sees“ entstehe nämlich „neues Leben. Das ist die Chance für Europa, für seine Neugründung“.
Das „richtige Europa“ bringt Guérot auf folgende Formel, die allerdings schon einen gewissen Hautgout hat: „Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie.“ Derzeit steht dem als „größter Knackpunkt“ einmal wieder Deutschland im Weg: Es ist „die deutsche Ideologie der Nicht-Monetarisierung von Staatsschulden, der Geldwertstabilität und der Exportüberschüsse“, die es zu schleifen gilt, sollen eine europäische Arbeitslosenversicherung, Eurobonds, Bürgergeld und andere Segnungen Europäischen Republik durchgesetzt werden. „Wer diesen Bürgerkrieg beenden will“, müsse, so Guérot apodiktisch, „zurück an seine Ursprünge, die fehlende Fiskal- und Sozialunion“.
Wer in ihrem Buch danach sucht, wie das alles finanziert werden soll, findet außer den ständig wiederholten Appellen, daß jetzt der Kairos gekommen sei, die Europäische Republik zu verwirklichen, nichts Greifbares. Der Hinweis auf derart banale Dinge hat vor dem Hintergrund des Jahrtausendprojektes zu schweigen. Wer dennoch weiterfragt, steht als kleinbürgerlicher Beckmesser am Pranger. Es versteht sich allerdings von selbst, daß vor allem Deutschland die Rechnung aufgemacht würde. Deutsche Bedenkenträger, die sich hier zu Wort melden könnten, schreibt sie schon einmal ins Stammbuch: „Von ‚Transferunion‘ zu sprechen, aber nicht einzurechnen, daß der deutsche Exportgewinn ohne den Euro in dieser Form gar nicht zustande gekommen wäre, ist der Gipfel der Scheinheiligkeit.“
Die Publizistin Friederike Beck hat in ihrem Buch Die geheime Migrationsagenda aufschlußreiche Fakten zur Person von Ulrike Guérot zusammengetragen. Bestens in den transatlantischen Netzwerken positioniert, leitete sie von 2007–2013 das Berliner Büro des Council on Foreign Relations (CFR), der in enger Verbindung mit dem einflußreichen CFR der USA steht. 2014 gründete sie das „European Democracy Lab“, deren Direktorin sie ist. Programm dieses „Lab“ ist wenig überraschend die politische Ausgestaltung Europas als Republik. Auf einer Konferenz von re:publica erklärte sie 2015 laut Beck:
Wir haben uns etwas Großes vorgenommen – nämlich den kompletten Umbau von Europa. Die Vereinigten Staaten von Europa – das war gestern. Europäische Republik – das ist morgen!
Thomas Schmid hat in einem Artikel in der Welt für diese Art „theatralischen Gründungsdonner“, wie er es nennt, die richtigen Worte gefunden: Es handelt sich hier um eine „an sich selbst berauschende Rhetorik des intellektuell drapierten Größenwahns“.
Wenn für die Juroren der „Sachbücher des Monats Juni“ Grund zur Scham besteht, dann vor allem deshalb, weil sie dieses geschichtsnihilistische Pamphlet auf Platz eins gesetzt haben. Sie dokumentieren damit das, was sie dem Spiegel-Redakteur Johannes Saltzwedel im Fall Finis Germania implizit unterstellen, nämlich daß es ihnen an hinreichender Urteilskraft mangelt.
P. S.: Dieser „Blick auf den Gegner“ ist der erste Beitrag einer neuen Rubrik, die von nun an in lockerer Folge fortgesetzt werden soll.
Albert
Frau Guerot war vor 10 Jahren mal meine Chefin. Ich fand sie damals ganz nett. Sie war der erste Mensch, den ich getroffen habe, der tatsächlich mit Begeisterung über die EU gesprochen hat.