drohen Abgründe. Voran geht es nur in einem Balanceakt, auf einem „Mittelweg“, der ständig neu ertastet werden muß. Daraus ergeben sich einige Paradoxien.
Zwei davon möchte ich in diesem Text vorstellen. Denn je mehr sich dieser Problematik bewußt sind, mitdenken und sich in die richtige Richtung „mitlehnen“, desto leichter könnte der Balanceakt werden.
Das erste ist das sogenannte Political Identity Paradox und wurde erstmals von Jonathan Matthew Smucker, einem linksradikalen Berkeley-Professor, benannt und folglich „entdeckt“. Es beschreibt eine grundlegende Problematik. Jede politische Bewegung braucht einen Kern an idealistischen Aktivisten, die sie langfristig tragen. Wenn sie wirklich oppositionell, also in einer Randposition ist, hat sie einen habituellen Mangel an Masse, Mensch und Material, der nur mit Idealismus ausgeglichen werden kann. Dieser Idealismus, und mit ihm Mut, Disziplin und Verläßlichkeit, braucht eine starke Gruppenidentität. Das „Wir“-Gefühl, an das man als Teil der Bewegung andockt, muß die Opfer, welche sie fordert, wettmachen.
Eine starke Gruppenidentität ist allerdings – und hier beginnt das Paradoxon – stets und notwendig exklusiv. Das „Dazugehören“ zu einer Clique, ob Bikergang, Hooligan- oder Antifagruppe ist deswegen so begehrenswert, weil eben nicht jeder dazugehören kann. Kleidung, Verhalten und Jargon markieren eine scharfe Grenze zwischen der elitären Gemeinschaft und „den Anderen“. Diese Grenze erzeugt erst die innere Spannung, die eine starke Gruppenidentität aufbaut, welche die Grundlage für langfristigen Idealismus ist.
Doch genau diese starke Gruppenidentität und Grenze führen auch zu einer Abstoßung und Isolation der Bewegung. Für eine Bikergang oder Antifagruppe, die keine konkreten politischen Ziele oder Strategien haben, ist das kein Problem. Jede metapolitische Gruppe braucht aber ein konstantes Wachstum.
Mit der starken Gruppenidentität verringern sich jedoch die Möglichkeiten des Wachstums, der Bildung von Allianzen, der Anschlußfähigkeit und der Einflußnahme, was den politischen Zweck der Gruppe vereitelt. Was die Gruppe als Treibstoff zum Aktivismus braucht, führt gleichzeitig gesetzmäßig zu ihrer Isolation. Was ihre Strahl- und Anziehungskraft ausmacht, stößt gleichzeitig ab. Das ist das Political Identity Paradox.
Smucker führt als Beispiel dafür den Zerfall der großen Massenorganisation SDS („Students for a democratic society“) in den 1960er Jahren an. Die breite, strukturbasierte, linksradikale Bewegung wurde von der extremistischen und später terroristischen „Weathermen“-Fraktion zerschlagen. Die elitäre Kerngruppe hatte sich von den eigenen Mitgliedern entfernt, die sie aufgrund ihrer liberalen Halbheit verachteten. Diese Verachtung zeigte sich in den „Days of Rage“. Zwischen 8. und 11. Oktober 1969 wollte die elitär-extremistische Fraktion den „Krieg nach Hause bringen“ und zog eine Spur der Verwüstung durch Chicago. Mark Rudd, einer der radikalen Sprecher, verkündete in einer Ansprache: „Der SDS ist nicht radikal genug. Er muß sterben.“
Er und ein anderer Hundertprozentiger gingen sogar soweit, alle Akten und Mitgliederlisten aus dem SDS-Büro in Chicago auf einer Müllhalde abzuladen. Mit dieser elitär-extremistischen Haltung, die folgerichtig in den Terrorismus führte, hatten die elitären Extremisten, wie das FBI genüßlich vermerkte, „fast alle Anhänger verschreckt“ und ihre eigentliche Schlagkraft zerstört.
Die starke Gruppenidentität ist notwendig, um das habituelle Fehlen von festen Strukturen, Hierarchien und Gehältern auszugleichen. Sie allein trägt das Vertrauen und den nötigen Zusammenhalt für politischen Aktivismus. Sie wächst als seltenes Gut aus den Momenten der Prüfung, in durchlebten Abenteuern und Gefahren. Es bilden sich abgeschlossene, private Kreise mit eigenen Ritualen, einem Lebensstil und oft gemeinsamen Wohnprojekten. Diese Kreise präfigurativer Politik erzeugen für Neulinge aber oft einen „Kulturschock“. Sie erschweren den Einstieg bzw. verlangen eine langwierige, totale Assimilation.
Aus diesem Grund wird oft darauf verzichtet, und der Kreis der Vertrauten wächst nicht. Während dieser unter seinem Arbeitspensum ächzt, stehen die Sympathisanten, nicht abgeholt und untätig, am Rand. Smucker empfiehlt einen Ausgleich zwischen Bonding und Bridging. Ohne starkes Bonding und „Wir“-Gefühl fehlt der Gruppe die Kraft für langfristigen Aktivismus. Aber ohne Bridging, also die Offenheit, Transparenz und Anschlußfähigkeit, verkommt die Gruppe zu einer isolierten und apolitischen Sekte, deren Weg todsicher in Gewalt und Terror führt.
Bei jedem Interview, bei jedem Banner und jedem T‑Shirt-Design stellt sich die Frage, ob es sich „nach innen“, also an den elitären Insider-Jargon, oder „nach außen“, also an das Mainstreamgelaber richten soll. Es ist die Schnittmenge zwischen beiden Sphären, auf der ein schmaler Grat durch das Paradoxon führt. Sie kann in keiner Formel festgelegt werden, sondern ist eine Ermessenssache.
Das Political Identity Paradox zu überwinden, ist daher die größte Verantwortung der leitenden Figuren. Sie müssen das Wachstum einer starken Gruppenidentität fördern, dürfen aber niemals selbst in ihr aufgehen. Tendenziell neigen politisch-idealistische Gruppen zum Abgleiten in die Isolation.
Das Bonding geschieht von selbst, wenn man den Raum dafür offen läßt und gemeinsame Wohnprojekte, soziale Aktivitäten abseits von Aktionen, gemeinsame Reisen etc. fördert. Das Bridging erfordert das gezielte Eingreifen. Der Leiter muß daher die Brücke nach außen bleiben, indem er als ständiges Korrektiv da einbremst, wo sich eine elitäre Lust an der Marginalisierung einstellt. Weniger äußerliche Codes als ein gemeinsames Ziel und ein gemeinsamer Wille zur politischen Veränderung soll den Geist der Kerngruppe bilden. Ein hungrig-politisches und nicht statisch-subkulturelles „Wir“-Gefühl verhindert die selbstgenügsame Isolation und das Abgleiten in präfigurative Politik und strategische Ohnmacht.
Andrenio
Als studentischer Aktivist der 70er habe ich glatt 5 Semester studienmässig "verplempert" und dem Kampf gegen die schon damals extrem links dominierten ASTAs und das DDR-Regime geführt.
Unterstützung kam eigentlich nur von den schlagenden Verbindungen und, man halte sich fest: Von der Robert-Bosch-Stiftung. Es gab also nicht nur in der Siemensstiftung mit Armin Mohler aufrechte Patrioten. (Heute bei der stromlinienartigen Ausrichtung der Grossindustrie undenkbar)
Waren das verlorene Jahre? Keinesfalls für mich!
Einige der Wegbegleiter sind heute allerdings skurrile Einzelkämpfer geblieben, denen man für Ihre Geradlinigkeit höchsten Respekt zollen sollte, die aber nichts bewirken.
Einzelne haben es geschafft in beiden deutschen Staaten in politische Haft zu kommen.
Martin Sellner hat die Problematik auf den Punkt gebracht und man kann nicht froh genug sein, dass es Führungsfiguren wie ihn gibt. Schon sein Verhalten als Vorbild zieht an wie ein Magnet.
ich wünsche ihm, dass er
1. Eine bodenständige Frau findet, die ihm in allem den Rücken stärkt, und
2. Dass er einen Abschluss schafft.
3. Dass er nicht unter misteriösen Umständen im Mittelmeer ertrinkt (Die Liberty ist trotz Dauerbeschuss nicht gesunken)