Dafür gebe es „viele Ursachen und Schuldige“. Bezeichnend bleibt allemal, daß nun auch die Mainstreammedien den Linksextremismus plötzlich als Gefahr entdecken und Hätschelprojekte wie das „Autonome Zentrum“ Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel in Frage stellen.
Mir geht es an dieser Stelle aber nicht primär um die Vorgänge in Hamburg am letzten Wochenende, sondern um den Hinweis darauf, daß die Wurzeln für die jüngste (neuerliche) Gewalteskalation in den Jahren 1967–1977 zu suchen sind, also in einer Zeitspanne, die Gerd Koenen in seinem gleichnamigen Buch als das Rote Jahrzehnt gekennzeichnet hat.
Was Koenen herausarbeitet, ist unter anderem der vollständige Realitätsverlust der radikalen Linken in dieser Zeit, ein Verlust, der sich bis heute durchzieht. Er zeigt sich in den Äußerungen des Salonlinken Jakob Augstein genauso wie in den Verlautbarungen der „autonomen & antikapitalistischen Allianz gegen den G20-Gipfel in Hamburg“, die sich unter das doppeldeutige Motto „Welcome to hell“ gestellt hat.
Dieser Realitätsverlust resultiert maßgeblich aus den Formen der mit herrischem Gestus vorgetragenen moralischen Kritik an der nur „schlechten (= repressiven, kapitalistischen, autoritären etc.) Gesellschaft“, die letztlich auf die Pauschalablehnung des Vorhandenen hinausläuft; als Gegenentwurf steht eine Gesellschaft ohne Herrschaft, Hierarchie und Ordnung im Raum, vorexerziert zum Beispiel im Mikrokosmos Rote Flora.
Die deutsche und andere kapitalistische Gesellschaften sind „schlecht“, weil sie Gewalt ausübten, und zwar „strukturelle Gewalt“, ein Zauberwort linker Analyse.
Der Begriff „strukturelle Gewalt“, der auf den norwegischen Mathematiker und Soziologen Johan Galtung zurückgeht, der gern auch als „Gründungsvater der Friedens- und Konfliktforschung“ vorgestellt wird, hat den Gewaltbegriff mit dieser Begriffsschöpfung quasi schrankenlos ausgeweitet.
Gewalt liegt nach Galtung bereits dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre tatsächliche körperliche und geistige Selbstverwirklichung hinter ihrer möglichen Selbstverwirklichung zurückbleibt. Diese Definition stellt die Auslegung dessen, was als Gewalt zu werten ist, mehr oder weniger in das Belieben des einzelnen.
Ob die Auslegung des Begriffs „strukturelle Gewalt“ durch linke bis linksextremistische Gruppen im Sinne Galtungs ist, soll hier dahingestellt bleiben. Seine eigentliche Sprengkraft bekommt dieser Begriff aber erst durch die von Herbert Marcuse inspirierte Denkfigur, daß es gegen diese Form der Gewalt ein „Naturrecht auf Widerstand“ gebe, also
außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. […] Wenn sie [= diejenigen, die unter der „etablierten Hierarchie leiden und gegen sie kämpfen“] Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. (Marcuse: Repressive Toleranz, 1966)
Bringe man die Deutung von „struktureller Gewalt“ mit Marcuses Definition von „befreiender Toleranz“ in Verbindung, so zum Beispiel Rolf Zundel, der der 1989 verstorbene ehemalige stellvertretende Chefredakteur der ZEIT, sei folgender „Kurzschluß“ naheliegend: „Linke Minderheiten (womöglich solche, die sich als revolutionäres Subjekt verstehen) haben das Recht, ja die Pflicht zum Widerstand“.
Ob dieser „Kurzschluß“ bei Marcuse impliziert war oder nicht, ist ein anderes Thema. Vor diesem Hintergrund dürfte im übrigen auch die Einlassung des Rote-Flora-Anwalts Andreas Beuth „Wir als Autonome und ich als Sprecher der Autonomen haben gewisse Sympathien für solche Aktionen“ zu sehen sein.
Zundel bringt im übrigen noch ein drittes Kriterium ins Spiel, das den Gewaltausbruch durch „autonome“ Schlachtenbummler, wie sie in Hamburg einmal mehr beobachtet werden konnte, zu erklären hilft. Gemeint ist hier das altbekannte Konzept „Frustration und Aggression“, das auf US-Verhaltensforscher zurückgeht.
Der Politologe Manfred Funke und der Publizist Walter Laqueur haben sich an einer aktualisierten Variante dieses Konzeptes versucht: „Je größer die sozialen Ansprüche sind und je weniger sie befriedigt werden, um so größer wird die systemimmanente Frustration.“ Eine Frustration, die dann zwangsläufig in der Forderung nach „Gesellschaftsveränderung“ mündet.
Erst dann stelle sich allgemeine „Zufriedenheit“ ein. Kein gutmeinender Mensch könne sich einer derartigen „Gesellschaftsveränderung“ entgegenstellen; er ist dann, wie Zundel schreibt, „unwissend oder böswillig“. Von hier bis zur Forderung „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Dies legt zum Beispiel folgende Erklärung der „autonomen & antikapitalistischen Allianz“ nahe:
Im Gegensatz zur bürgerlichen Opposition werden wir den Herrschenden keine Alternativen vorschlagen, um das kapitalistische System am Leben zu erhalten. Wir sind solidarisch mit allen emanzipatorischen Kräften, die gegen den Gipfel in Hamburg auf die Straße gehen. Und wir werden selbst bestimmen, welche Aktionsformen für uns politisch angemessen und vermittelbar sind.
Diese Auskunft legt folgendes nahe: Herrschaft oder der Einsatz von Macht im kapitalistischen Kontext (wie der der Polizei auf dem G20-Gipfel) ist, sofern nicht revolutionär, sozialistisch oder marxistisch inspiriert, per se ungerecht und Ausdruck „struktureller Gewalt“.
Diese Sichtweise wird ganz unverblümt in der Berichterstattung des Linksaußenblattes junge Welt deutlich. Bei den Plünderungen und Brandschatzungen hätten einige Aktivisten aufgrund des „Bullenterrors“ die „Nerven verloren“, was von vornherein nicht ausgeschlossen werden konnte:
Es war nicht auszuschließen, dass nach den tagelangen Übergriffen der Polizei auf die friedlichen Protestdemonstrationen gegen den G‑20-Gipfel einige Leute die Nerven verlieren, um in ihrer Wut zu nützlichen Idioten der Staatsmacht zu werden.
Bedauert werden hier wohlgemerkt nicht die massiven Angriffe auf die Polizei oder die Brandschatzungen und Plünderungen, sondern einzig der Umstand, daß sich gewisse durchgeknallte „GenossInnen“ zu „nützlichen Idioten der Staatsmacht“ gemacht hätten, sprich: für eine schlechte Presse gesorgt haben.
Dieses Denken, für das Focus Online weitere schlagende Beispiele liefert, ruht hermetisch in sich selbst; kein Lichtstrahl des Zweifels dringt hierher vor; es trägt alle Kennzeichen dessen, was der Wissenschaftstheoretiker Hans Albert „Immunisierungsstrategie“ nennt, worunter er alle Versuche versteht, Theorien, religiöse oder säkulare Anschauungen durch Dogmatisierung gegen unvoreingenommene kritische Überprüfung bzw. rationale Einwände abzuschirmen oder unwiderlegbar zu machen.
Mit anderen Worten: Ein Dialog mit „Autonomen“, Linksextremisten und deren Sympathisanten, die bis in die Reihen der Bündnisgrünen reichen, kann letztlich nur dann Früchte tragen, wenn der Staat Härte zeigt und Normverletzungen konsequent ahndet.
In den letzten Jahrzehnten hat sich der deutsche Staat aber einer Politik des Zurückweichens bzw. Tolerierung von Normverletzungen insbesondere durch linksextremistische Staatsfeinde befleißigt, die als vermeintliche Anwälte für Toleranz und Menschenwürde (gilt nicht für „Bullen“, „Rechte“ etc.) gern für den „Kampf gegen rechts“ vereinnahmt wurden und mit dieser Nobilitierung ihre eigenen Ziele verfolgen konnten.
Dieses Zurückweichen bringt mit Blick auf den militanten Linksextremismus mehr und mehr Freiraum für gesellschaftlich gefährliche Entwicklungen hervor, die nun in Hamburg vor aller Welt offenkundig geworden sind. Daß die derzeit den Ton angebende Classe politique in Berlin und anderswo hieraus wirklich spürbare Konsequenzen ziehen könnte, darf bezweifelt werden. Zeigt der Staat jetzt aber keine Härte, wird das mit Sicherheit als Aufforderung verstanden werden, „zwei, drei, viele G20-Gipfel“ zu schaffen.
Ertrunken
Repression kann nur ein kurzzeitiges Ventil sein. Die Krawallmacher sind ja doch nur der böse Zwillingssohn einer ganz und gar linksliberalen Gesellschaftsformation.
Ansonsten sind die Hintergrundbedingungen gut herausgearbeitet. Immunusierungsstrategien sind dabei auch auf jeder Seite zu finden die allzu sehr ins Extreme ableitet. Sie zu umgehen muss daher stets Aufgabe einer klugen und neuen Rechten sein.