Hamburg, 20. Juni 2017
Lieber Herr Kaiser,
haben Sie vielen Dank für Ihr freundliches Antwortschreiben, in dem Sie zumindest ein zentrales Mißverständnis meinerseits benennen, an welchem Sie aber vielleicht nicht ganz unschuldig sind, so daß ich es nur teilweise als ausgeräumt betrachten kann.
Wenn Sie nämlich, was »Maximalprogramme« und »große Entwürfe jenseits des Kapitalismus anbelangt«, nunmehr bescheiden einräumen, »keine Patentrezepte« zu haben und »passen« zu müssen, so erleichtert mich dies zwar ungemein, aber dazu will doch nicht recht passen, daß Sie in Ihrem Querfront-Büchlein der Imperialismusschrift von Lenin, der darin in der Tat ein maximalprogrammatisches Patentrezept ausstellte, vollmundig unverminderte Aktualität bescheinigen.
Gleichviel: An Ihrer Werbung für »Alternativität und Solidarität jenseits des kapitalistischen Betriebes« habe ich so wenig auszusetzen wie an anderen Versuchen, ein richtiges Leben im Falschen zu führen, und selbst an Ihrer Charakterisierung meiner Bedenken als »bürgerlich-konservativ« nehme ich keinen Anstoß, solange Sie mich nicht des Wirtschaftslobbyismus bezichtigen.
Grundsätzlich zustimmungswürdig, obschon um andere Weltübel ergänzungsbedürftig, finde ich auch den von Ihnen bekenntnishaft zitierten Satz Drieus, nötig sei eine politische Arbeit, die auf dem »gründlichen Bewußtsein der sozialen Unordnung« beruht, welche durch einen »dekadenten Liberalismus, durch einen Kapitalismus bar jeder Tugend« hervorgerufen worden sei.
Und wenn mich dieses Zitat in seinem moralistischen Impetus auch an P. J. Proudhon erinnert, der von Marx wegen seines kleinbürgerlichen Anarchismus attackiert wurde, so bestätigt dies wiederum nur, daß Sie tatsächlich als Angehöriger einer anderen Famille spirituelle argumentieren, und es erklärt nicht zuletzt, warum Sie sich so »gänzlich unbefleckt von historischen Altlasten des real-existierenden sozialistischen Lagers« wähnen.
Allerdings bleibe ich weiterhin skeptisch gegenüber der unbefleckten Empfängnis »reiner« Theorie, auf die sich ja auch linke Denker gern herauszureden pflegen, nachdem genügend Proben aufs Exempel gemacht und nie bestanden wurden; denn immer, wenn Revolutionäre zur politischen Tat oder Untat schritten, war es um die reklamierte Jungfräulichkeit ihrer Utopie geschehen. Ich will Sie, als Experten auf diesem Gebiet, aber nicht über die überraschenden Wahlverwandtschaften unterschiedlicher geistiger Herkunftsfamilien belehren, sondern lieber auf ein Mißverständnis Ihrerseits aufmerksam machen, das immerhin einen wichtigen Punkt unseres Dissenses betrifft:
So machen Sie gegen meine Rettungsabsicht des National- und Sozialstaates geltend, es gäbe »keine nationale Bourgeoisie mehr, mit der zu kooperieren wäre«. Das sehe ich nun ganz genauso, und darum habe ich als Kooperationspartner gerade nicht die wirtschaftlich herrschende Klasse empfohlen, sondern vielmehr den zu einer politischen Kaste verkommenen Staat, der sich durchaus auf seinen ursprünglichen Daseinszweck zurückbesinnen könnte, gegenüber den Privatinteressen der Ökonomie eine maßgeblich am Gemeinwohl ausgerichtete Politik zu betreiben.
Daß die von Ihnen festgestellte und für unsere globalistische Epoche fraglos charakteristische »Tateinheit« politischer und wirtschaftlicher Eliten gleichwohl keine überall vorfindliche und unveränderliche Gegebenheit ist, sondern durch eine Renationalierungspolitik durchaus aufgebrochen werden kann, zeigt doch gerade die gegenwärtige antiglobalistische Tendenzwende in mehreren osteuropäischen und sogar den mächtigsten angloamerikanischen Staaten (was natürlich nicht heißt, daß man es dort besonders geschickt anstellte und dabei nicht auch mit Risiken und Nebenwirkungen zu rechnen wäre).
Daher leuchtet mir nicht ein, inwiefern meine Verteidigung des Nationalstaates »romantischer« Natur sein sollte. Ein starkes Stück »politischer Romantik« bieten Sie allemal selbst, wenn Sie sich zu dem »unzerstörbaren Gefühl für das Vaterland« bekennen, welches sich nach Ihrer Verabschiedung des Staates aber doch unweigerlich in eine auch von keiner anderen Macht mehr geschützte Innerlichkeit auflösen würde.
Überhaupt scheint mir Ihre »realistische Lageinschätzung« nur die liberale Lektion des »It’s the economy, stupid!« zu wiederholen, die freilich immer auch ein linker Gemeinplatz gewesen ist: Wie schon Marx sein rein ökonomistisches Staatsverständnis, welches der Eigengesetzlichkeit des Politischen kaum Rechnung trug, von der liberalen Nationalökonomie übernommen hatte, so behauptete später Lenin die nationalstaatliche Unreformierbarkeit der kapitalistischen Krisenökonomie, welcher vielmehr eine unaufhaltsame Tendenz zu imperialistischer Expansion innewohne.
Und nach Maßgabe desselben reduktionistischen und deterministischen Ökonomismus verschnüren schließlich auch Sie Kapitalismus und Imperialismus zu einem »Kausalzusammenhang ohne Chance auf Trennung«.
Damit komme ich endlich zum jüngeren Zwillingsbruder »Imperialismus«: Daß die seinerzeit kapitalistisch fortgeschrittensten Länder in Anbetracht von Überakkumulation und Unterkonsumption längst zur Erschließung von neuen Anlagemöglichkeiten fürs Kapital und Absatzmärkten für Waren übergegangen waren, hatte Lenin bei J. A. Hobson gelernt. In seiner weitergehenden Annahme aber, der Monopolkapitalismus wäre ohne solches imperialistische Ausgreifen in Übersee bis zur vollständigen Aufteilung der Welt unweigerlich zusammengebrochen, konnte sich Lenin keineswegs auf Hobson berufen, der realistischer damit rechnete, daß sich das Problem der Absatzkrisen durch eine zur Hebung der Massenkaufkraft beitragende aktive Sozialpolitik bewältigen ließe.
Vor allem aber hatte Hobson die mangelnde Rentabilität der imperialistischen Kolonialherrschaft herausgestellt, von der lediglich das Finanzkapital profitierte, während die Staatsmächte für die zivile Verwaltung und miltärische Sicherung der Kolonien allemal draufzahlten. Und für Joseph Schumpeter stellte der ausgerechnet in Zeiten eines durchrationalisierten Kapitalismus auftrumpfende Imperialismus sogar einen »irrationalen Atavismus« dar: ein letztes Aufbäumen durchweg vorkapitalistischer, noch absolutistisch geprägter politischer Machteliten aus Adel und Militär, die eben nicht aus ökonomischem Kalkül, sondern aus politischem Prestigestreben Eroberungsprojekte auf den Weg nach Afrika brachten, nur um dort, koste es was es wolle, einen »Platz an der Sonne« zu ergattern.
Hannah Arendt schließlich schüttelte nur noch den Kopf darüber, daß zu einer Zeit, als »der ökonomische Faktor längst dem imperialen zum Opfer gefallen war«, sozialistische Theoretiker sich weiterhin damit abmühten, die »Gesetzmäßigkeit des Imperialismus« zu entdecken. Diese Ihnen zweifellos bekannten Einwände gegen Lenins Imperialismustheorie scheinen mir jedenfalls auch auf die unausgeprochenen konzeptionellen Prämissen Ihres Antiimperialismus zuzutreffen!
Beim historischen Imperialismus spielten eben weniger ökonomische Antriebe als der politische Wille zu einem imperialen Dasein die entscheidende Rolle, und insofern stellte er, wie Arendt bemerkte, weniger das letzte Stadium das Kapitalismus als die erste politische Herrschaftsform der Bourgeoisie dar. Anders gesagt: Nicht der Monopol- und Finanzkapitalismus bildete die entscheidende Voraussetzung des Imperialismus, sondern die von einem transnationalen Gestaltungswillen erfüllten europäischen Machtstaaten, die sich schließlich zu einem dissonanten Konzert von Großmächten zusammenfanden.
Und hier gaben prestige- und geopolitische Motive den Ton an, zumal sich auch ökonomische Verluste als politischer Gewinn erweisen konnten – etwa wenn es gelang, durch kostspielige Investitionen die koloniale »Peripherie« zu fördern und dem imperialen »Zentrum« gegenüber loyal zu stimmen.
Um die Grenzen eines rein ökonomistischen Imperialismusbegriffs noch deutlicher hervortreten zu lassen, empfiehlt es sich übrigens, die so landläufige wie willkürliche historische Eingrenzung des Imperialismusbegriffs auf die kurze imperialistische Periode der europäischen Geschichte einmal aufzuheben und die Weltgeschichte insgesamt als eine Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs von Imperien zu begreifen.
In dieser Großperspektive erkennt man nämlich besser, daß die in historischen Zwischenperioden ohne imperiale Zentralgewalt auftretenden Machtvakuen in aller Regel von Chaos und Bürgerkrieg ausgefüllt werden. Jedenfalls nimmt sich unter diesem Gesichtspunkt ein generalisierter Antiimperialismus, der davon ausgeht, daß eine globale Ordnung gleichberechtigt souveräner Staaten ohne imperiale oder zumindest hegemoniale Mächte wünschenswert wäre, reichlich geschichts- und politikfremd aus, da er die Schutzfunktion und Ordnungsleistung imperialer Gebilde verkennt.
Über weite Strecken hinterläßt Ihr Büchlein allerdings eher den Eindruck, daß Sie einen spezifischen Antimperialismus verfechten, der sich ausschließlich gegen die USA richtet, weil diese gegenwärtig eben die einzige Weltmacht darstellen, während China bislang noch eine bloße Großmacht ist und Rußland sogar zu einer Regionalmacht herabzusinken droht. Daher meine Frage: Wäre mit der Ablösung der »unipolaren« durch eine »multipolare« Weltordnung ihr antiimperialistisches Ziel bereits erreicht, oder würden Sie sich dann erst recht für sozialistisch und regionalistisch ausgerichtete anti-imperialistische Mehrfrontenkriege rüsten?
Und weiter: Wie soll sich der Expansionismus des US-Imperiums zurückdrängen lassen, wenn Europa sich nicht zur Wiederübernahme der alten imperialen Rolle eines »Katechon« entschließt – welche es aber doch nur spielen kann, wenn die faktisch hegemoniale Stellung Deutschlands in Europa nicht wiederum aus eurosozialistischen oder ethnopluralistischen Gründen bekämpft wird?
Wie auch immer Sie diese Fragen im einzelnen beantworten: Daß Sie zumindest vorrangig den »westlichen Imperialismus« als Feind bestimmen, scheint mir evident, und gegen diese Feindbestimmung möchte ich zu bedenken geben, daß Sie sich dabei wohl auf Lenin, nicht aber auf Marx berufen können. In seinem Beitrag zur Festschrift für Günter Maschke hat der konservative Marxist Stefan Dornuf, ein Schüler Wolfgang Harichs, drei idealtypische politische Einstellungen zum Imperialismus pointiert auf den Punkt gebracht.
Der Linke dekretiert: »Imperialismus ist böse, also darf es ihn nicht geben«. Der Rechte wiederum rebelliert: »Alle anderen sind Imperialisten, also wollen wir Deutschen es auch sein dürfen«. Der Marxist hingegen reflektiert: »Natürlich sind alle Imperialisten – aber welches ist der jeweils vorwärtsweisende Imperialismus?« Tatsächlich hat Marx selbst in dieser Richtung exemplarisch nach den »künftigen Ergebnissen der englischen Herrschaft in Indien« Ausschau gehalten, um in dem kolonialen Eisenbahnwesen die Voraussetzung für eine moderne indische Industrie zu erkennen: »Die Frage ist daher nicht, ob die Engländer ein Recht hatten, Indien zu erobern, sondern ob ein von den Türken, den Persern, den Russen erobertes Indien dem von den Briten eroberten vorzuziehen wäre.«
Und Marxens Antwort fiel ganz unmißverständlich aus: »England hat in Indien eine doppelte Mission zu erfüllen: eine zerstörende und eine erneuernde – die Zerstörung der alten asiatischen Gesellschaftsordnung und die Schaffung der materiellen Grundlagen einer westlichen Gesellschaftsordnung in Asien.« Die »revolutionäre Rolle« der westlichen Bourgeoisie lag für Marx ja nicht zuletzt darin beschlossen, daß sie »die barbarischsten Nationen in die Zivilisation« hineinreißt, und nur folgerichtig sah er in einem fortschrittlichen Kolonialimperialismus eine für rückständige Länder jenseits von Gute und Böse stehende historische Notwendigkeit.
Wäre es nun allzu verwegen oder sogar abwegig, Marxens dialektische Rede von der »Zerstörung« als Voraussetzung der »Erneuerung«, die geradezu nach Schumpeter klingt, zum Maßstab für die Beurteilung jenes »eigentlichen« Imperialismus zu nehmen, der sich am »Scramble for Africa« entzündete? Da Sie die »Mär eines guten Imperialismus« nur müde belächeln können, möchte Sie an jenes unbestreitbar »Gute« erinnern, das den europäischen Imperialismus vor allen anderen historischen Imperialismen auszeichnet: die Abschaffung der Sklaverei in Angriff genommen und weitgehend durchgesetzt zu haben.
Und entsprechend wird man etwas ebenso unbestreitbar »Böses« in dem Versuch der »antiimperialistischen Befreiungsbewegungen« Afrikas erblicken dürfen, die einheimische Sklaverei, die in die Anfänge der afrikanischen Geschichte zurückreicht und noch um die Wende zum 20. Jahrhundert die profitabelste ökonomische Institution darstellte, zu verteidigen und in der Periode der Entkolonialisierung sogar wiederherzustellen.
Mit diesem Beispiel, das übrigens Egon Flaig in seiner hervorragenden Weltgeschichte der Sklaverei ausführlich behandelt, will ich Ihnen nur deutlich machen, warum mir weder die Dämonisierung des Imperialismus noch die Idealisierung des Antiimiperialismus sonderlich imponiert.
Was man mit Marx (und ohne Lenin) dem aktuellen »westlichen Imperialismus« gleichwohl wird vorwerfen dürfen, ist immerhin dies, daß er sich aufgrund seiner neoliberalen Globalisierungsagenda vor allem »zerstörerisch« auswirkt, während es ihm durchaus möglich wäre, auch »aufbauend« zu wirken – etwa, indem er die Eigenwirtschaft in fremden Ländern, aber auch in deutschen Landen förderte.
Um dieser seiner »fortschrittlichen« Bestimmung aber gerecht werden zu können, müßte in seinem inneren Machtgefüge zuallererst der Primat des Politischen gegenüber dem Ökonomischen wiederhergestellt werden. Denn erst wenn die Staatsmächte nicht länger unter der »Herrschaft des Finanzkapitals« stehen, können sie so frei sein, einen sozialkonservativen Hegemonialismus an die Stelle eines marktradikalen Imperialismus treten zu lassen. – Wäre das eine Konsensbasis?
Mit besten Grüßen
Ihr Siegfried Gerlich
Schnellroda, 5. Juli 2017
Lieber Herr Gerlich,
um direkt zu erwidern: Ja, ich schreibe in Querfront, daß Lenins Analyse des Imperialismus als jüngstem, höchstem, neustem Stadium des Kapitalismus (die freilich wiederum auf Analysen anderer zeitgenössischer Denker aufbauen konnte) insbesondere auch angesichts der gegenwärtigen Bedeutung von Finanz- und Industriekapital nach wie vor aktuell zu lesen ist, in Teilen gewinnbringend.
Zugleich aber ein „nein“: Das impliziert nicht, daß man Lenins Theorie und Praxis der Jahre 1917ff. eins zu eins als Leitmotiv wählen könnte oder sollte. Ich halte es gleichwohl mit dem Leipziger Forscher Christoph Türcke, der zu Lenins umfassendem Werk wie auch zu seinen Taten schrieb, daß die Roßkur Lenins „furchtbar“ war „und durch nichts zu rechtfertigen”. Aber ausblenden, wogegen sie sich richtete, ist ähnlich ignorant, wie minutiös alle Schäden einer Chemotherapie aufzulisten, ohne auch nur einmal die Krankheit zu erwähnen, gegen die sie erfunden wurde.
“Aus dem verunglückten Sozialismus lernen kann nur, wer nicht daran vorbeisieht, dass sein Anlass fortdauert”. Mit Anlaß gemeint ist die fortwährende Existenz einer zunehmend „kannibalischen Weltordnung“ (Jean Ziegler), deren Selbstreform nicht in Sicht ist. Ebensowenig, im übrigen, wie eine „gegenwärtige antiglobalistische Tendenzwende in mehreren osteuropäischen und sogar in einigen angloamerikanischen Staaten“, von der Sie schreiben. Wo ist eine solche Tendenzwende in den von Ihnen genannten Räumen sichtbar?
Donald Trumps Regierungsantritt und erste Amtsphase können Sie nicht meinen, der Brexit ist eine Farce, und aus Australien oder von den Caymans sind mir keine antiglobalistischen Entwicklungen bekannt. Was Osteuropa anbelangt, so gibt es in Ungarn, Polen und Tschechien die Devise „Grenzen dicht“, immerhin, aber das ist keine Tendenzwende, sondern eine pragmatische, kluge Selbstschutzmaßnahme ohne einen dieser zugrundeliegenden weltanschaulichen Imperativ, der eine Tendenzwende auslösen könnte.
Was nun das weite Feld Imperialismus-Hegemonie-Großräume anbelangt, ist von einem manichäischen Vulgär-Antiimperialismus selbstverständlich Abstand zu nehmen, der in den USA den alleinverantwortlichen Teufel ausmacht, ohne dessen Existenz die Welt in Love, peace and harmony zusammenfinden würde. Das ist Unsinn, gefährlicher zumal. Zugleich kann und muß aber konstatiert werden, daß die Stabilität der gegenwärtigen Weltordnung, die nun mal von einer globalen Hegemonie der Vereinigten Staaten geprägt ist, zu bröckeln beginnt, was dazu führen dürfte, daß Interventionen – direkte wie im Irak oder Libyen, Mischformen wie in Syrien, indirekte wie in der Ukraine – weiter zunehmen und die Gewaltspirale am Leben gehalten wird.
Gleichzeitig wächst Chinas Hunger nicht nur auf Afrika, will Rußland nicht mehr länger als bloßer Verlierer des Kalten Krieges genannt werden, verschärfen sich Widersprüche im Nahen und Mittleren Osten usw. usf. Da jedoch die USA, wie Sie ja einräumen, einstweilen die einzige Weltmacht verkörpern, und sie in diesem Sinne überall „aktiv“ sind (kennen Sie die wunderliche Weltkarte, auf der alle bekannte US-Army-Basen eingezeichnet sind?), und unter Trump gar an einer „arabischen NATO“ mit einem Staat wie Saudi-Arabien arbeiten, und zwar zur Niederhaltung Syriens und vor allem des Iran – da die USA hier überall offensiv und völkerrechtswidrig eigene Interessen vertreten, müssen auch sie zuallererst in den Fokus der Kritik genommen werden.
Ich könnte mir aber nun vorstellen, daß die neue Unübersichtlichkeit der globalen Politik zur sukzessiven Bedeutungsabnahme Washingtons führen wird. Will man wieder mal Gramsci hervorkramen, könnte man mit ihm von einer „organischen Krise“ sprechen, in der eine alte große Ordnung keinen Fortbestand mehr aufrecht erhalten kann, aber eine neue noch nicht denk- bzw. sichtbar ist. In diesem Interregnum kann von einer besonderen Dichte an Gewaltexplosionen, Bürgerkriegen und, allgemeiner, kultureller Regression im Zeichen einer umfassenderen Entzivilisierung ausgegangen werden.
Mit Carl Schmitts zeitlosen Untersuchungen und mit auf ihnen fußenden aktuellen Ergänzungen Chantal Mouffes muß in diesem Kontext der Diskussion – USA als Primärziel des Antiimperialismus? – daran erinnert werden, daß die neue Welle des Terrorismus als „das Resultat einer neuen Konfiguration des Politischen“ erscheint, „die für den Typus der durch Hegemonie einer einzigen Hypermacht geschaffenen Weltordnung charakteristisch ist“.
Dagegen erscheint mir in der Theorie ein „Pluriversum“ (erneut Schmitt und Mouffe) verschiedener Großräume noch sicherer als der jetzige Zustand, wobei in praxi direkt einzuwenden wäre, daß die Konfliktlinien derzeit ja vor allem innerhalb bestimmter Großräume aufbrechen – etwa entlang der Frage, ob es im Mittleren Osten eine hegemoniale Rolle des Iran oder der wahabitischen Diktatur der Saudis geben kann. Was aber theoretisch und praktisch denkbar bleibt, ist eine multipolare Welt.
Hier muß man einige – eigentlich selbstverständliche – Maximen wiederholen: Erstens verträgt die Welt auf Dauer keine unipolare Ordnung, zweitens stellt die westliche Form von Wirtschaft und Politik nur eine von vielen Optionen dar (keineswegs aber eine universalgültige), drittens muß es verschiedene regionale Pole geben (z.B. Europa als eigenständiger, souveräner und starker Akteur), was viertens bedeutet, daß eine Vielzahl an Entscheidungszentren nötig wären sowie daß ein relatives Gleichgewicht der einzelnen Machtblöcke herzustellen ist, deren Entstehung – fünftens – eine globale Dynamik der Pluralisierung vorauszugehen hat, an deren prozessualem, langfristigen Ende – sechstens – ein internationales Rechtssystem stehen müßte, „das auf der Idee regionaler Pole und kultureller Identität basierte, die in Anerkennung ihrer vollen Autonomie miteinander vereint wären“ (Mouffe). In den Worten Friedrich Engels’ ist „internationales Zusammenwirken […] nur unter Gleichen möglich“, weshalb es auch um Europa als Europa geht – und nicht, wie wohl leider von Ihnen intendiert, um Deutsch-Europa.
Das ist, zugegeben, sehr idealistisch formuliert und trägt somit die Gefahr in sich, die materiellen und realpolitischen Verhältnisse zu vernachlässigen. Aber man braucht ein Bild, ein Ziel, den Ansatz einer großen Erzählung, um zu wissen, weshalb es im jetzigen Weltsystem nötig ist, die Kritik an der hegemonialen Macht, den USA, zu formulieren, ein langfristiges Gegenbild zu zeichnen, auch wenn dies bisweilen den Vorwurf des Antiamerikanismus mit sich bringen mag.
Zu Ihren interessanten, geschichtswissenschaftlich-spezifischen Ausführungen zu Marx und Indien, zu Fragen des Kolonialismus und seiner Überwindung, zu alldem ist zunächst nicht viel hinzuzufügen, und was es darüber fachspezifisch – und den hiesigen Rahmen dabei wieder sprengend – zu schreiben gäbe, hat bereits Domenico Losurdo in seiner (von Ihnen ja ebenfalls geschätzten) Schrift Der Klassenkampf formuliert; da gibt es kein Rad neu zu erfinden.
Die Abschaffung der Sklaverei jedoch als Leistung des westlichen Imperialismus respektive Kapitalismus zu beschreiben, ist ein starkes Stück, war doch der Sklavenhandel kein Randphänomen, sondern ein inhärenter Part der kapitalistischen Prozesse. Wird das Kapital nicht daran gehindert (v.a. durch den Staat, früher durch Kämpfe der Arbeiter usw.), läßt es stets unmittelbar Gewalt zu, entgrenzt es die „Ausbeutung“. Alle sozialen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte mußten in unterschiedlichen Kämpfen unterschiedlicher Intensität abgenötigt werden; sie waren kein Geschenk, selten ein Akt der Wohltätigkeit.
Und fehlt einmal der Druck auf die Kapitalisten, fehlt überdies eine staatlich gesetzte zivilisatorische Grundstruktur, dann wird das auch heute noch unverschleiert sichtbar: Denken wir doch nicht, wie Sie, so apodiktisch und weitschweifend historisch in bezug auf geschichtspolitische Fragen der Kolonialisierung, sondern denken wir lieber ganz tagesaktuell ans gegenwärtige Libyen, wo – verzeihen Sie die Nennung des Übeltäters – die USA samt einiger europäischer Vasallen für einen Regime change sorgten, der für unermeßliche Flüchtlingswellen und die Wiederkehr einer längst vergessen geglaubten Barbarei verantwortlich ist.
Mittlerweile gibt es dort, und das ist keine „antiimperialistische“ Greuelpropaganda, offene Sklavenmärkte, wo das Leben des Menschen nichts zählt außer ein paar Dollars für den „Besitzer“. Das ist ein Extrembeispiel, nur häufen sich entsprechende Verfallserscheinungen des schrankenlosen Kapitalismus mit neofeudalen Einsprengseln, nicht zuletzt auch in den arabischen Golfstaaten – also just bei den Vorzugshandelspartnern der westlichen Welt, auf deren Territorien, wiederum: pardon!, die USA flächendeckend Militärstützpunkte unterhalten, um derzeit die syrische (iranische, russische etc.) „Gefahr“ einzudämmen, wo es im übrigen weder Sklavenmärkte, noch Millionen von rechtlosen Gastarbeitern, noch sonstige entsprechende Zivilisationsbrüche gibt, die God’s own country und seine Freunde zum Wohle der Wirtschaft und der eigenen hegemonialen Position dulden, betreiben, ausnutzen.
Aber wir wollen ja einen Konsens suchen, und hier schlagen Sie vor, daß „zuallererst der Primat des Politischen gegenüber dem Ökonomischen wiederhergestellt werden“ müsse. Ohne Umschweife: Ja, das ist Konsens wohl aller konservativen und neurechten Akteure. Nur: Wie gelangen wir zu dem Punkt? Reichen ein paar staatlich implementierte Gesetze hier, ein paar normative Verschiebungen im gesellschaftlichen Bewußtsein da? Ich glaube nicht.
Am Ende hat im Rahmen des Bestehenden immer derjenige die Gestaltungsmacht, der über Geld disponiert (Hans-Jürgen Jakobs). Um den Primat des Politischen gegenüber dem Wirtschaftlichen also herzustellen, benötigen wir das Bewußtsein dafür, daß dies ohne die Überwindung der kapitalistischen Logik nicht zu haben ist.
Die gegenwärtig wichtigste Aufgabe für alle gutmeinenden politischen Kräfte wird es daher sein, die zu schützende Demokratie aus der Verzahnung mit dem Finanzkapitalismus und seinen Satrapen in Politik, Gesellschaft und Medien zu lösen; ferner muß das Ziel lauten, die Demokratie wieder als diejenige politische Ordnung herzustellen, die ihre Legitimität, ihr Machtmonopol, ihre Daseinsberechtigung aus der Souveränität des Volkes ableitet.
Der „Hauptgegner“ in diesem vielschichtigen politischen Prozeß ist dabei klar: Es ist „der Kapitalismus und die Konsumgesellschaft auf ökonomischer Ebene, der Individualismus auf philosophischer Ebene, die Bourgeoisie auf gesellschaftlicher Ebene und die USA auf geopolitischer Ebene“. Alain de Benoist formuliert hiermit vielleicht keine kompromißbereite Konsenserklärung für die gesamte heterogene politische Rechte, aber er bietet eine kämpferische Ausgangsbasis. Drunter wird es einstweilen nicht gehen.
Beste Grüße
Benedikt Kaiser
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Der Briefwechsel zwischen Benedikt Kaiser und Siegfried Gerlich schließt hiermit ab. Er ist in Gänze als PDF noch einmal hier herunterzuladen.
Der_Jürgen
Ein Dialog auf hohem Niveau, von zwei hellen Köpfen geführt, und dennoch nicht ganz befriedigend, weil er zu sehr im Abstrakten, Theoretischen verharrt. Ich hoffe, dass zentrale Fragen wie die nach der Abschaffung des Finanzkapitalismus (im Gegensatz zum produktiven Kapitalismus) und der Nationalisierung der Banken hier früher oder später zu Wort kommen werden.