Es sind offenbar keine hochkonzentrierten Gespräche, sondern eher Pausendialoge in Dauerschleife. Tochter sieht sich stets in der Defensive. Mal soll sie verteidigen, warum sie was gegen Frauen habe (es ging im Unterricht um Frauenquoten), dann, warum sie keine Ausländer möge (es ging in Wahrheit um Migrationsströme), dann, weshalb sie Jazz hasse (es ging um die schlichte Abstimmung, ob dieses oder jenes Lied gesungen werden solle).
Tochter, stets: „Du verdrehst mir die Worte im Mund. Das habe ich nicht gesagt! Meine Begründung war folgende: […]. Woher kommt mein Eindruck, daß du nicht bereit bist, mal sachlich auf irgendein Argument zu reagieren?“ Die Linke: „Argumente, ha, da fühlst du dich wohl stark. Du mußt mal eines kapieren: Ich will nicht argumentieren. Ich will dich entlarven!“
Kindermund, hach, schön wär‘s. Kubitschek hat mich neulich in einer Diskussion mit der Kühnheit überrascht, daß er gern ein Wahlrecht ab dem Alter von 30 hätte. Komische Hoffnung, daß Leute mit dem Alter weiser würden.
––––––
20. 8. 17 – Meine Güte, sie titulieren uns als Scharfmacher, Angstmacher, Pack! Den Eindruck, daß Klett-Cotta, immerhin der Verlag Ernst Jüngers, ziemlich auf den Hund gekommen sei, hatten wir schon vor dem dort verlegten Machwerk Die bürgerliche Revolte, wonach (affirmative) Ernst-Jünger-Lektüre bereits ein Schritt ins absolut menschenverachtende Rechtsaußen sei.
Nun hat Klett-Cotta das Inzest-Tagebuch einer „Anonyma“ übersetzt und publiziert: Angeblich die wahre Geschichte einer Frau, die von ihrem dritten bis 21. Lebensjahr von ihrem Vater höchst brutal sexuell mißbraucht wurde. Eine echte Splatter-Story voller Blut.
Jedoch: Das ganze kommt als Porno daher! Die „Anonyma“ ist noch im Rückblick höchst erregt, sie konnte nicht anders, als diese Missetaten als überaus geil zu empfinden. Ist das ein Skandal? Pervers? Indexwürdig? Nö, wieso auch.
Der engagierte, höchst angetane Rezensent urteilt im öffentlich-rechtlichen Bezahlfunk: Die „absolute Individualität auch einer solcher Erfahrung“ sei publikationswürdig; jeder Mensch habe „das Recht, seine Geschichte zu erzählen.“ Das ist mal cool im Wortsinne.
––––––
21. 8. 17 – Man hat bereits sieben Einschulungen hinter sich gebracht, circa 100 Elternabende, man hat den Kindern bei der Vorbereitung auf x Referate und x Klassenarbeiten geholfen. Das früher oft überschwengliche Engagement ist der Routine gewichen.
Ich erinnere mich noch, wie beim ersten Grundschulkind „Sexualaufklärung“ anstand und wir eigens einen Gesprächstermin mit der Lehrerin vereinbarten, weil wir sehr genau wissen wollten, was und wie vermittelt würde. Heute nehmen wir alles gelassener, in Teilen auch desinteressierter. Es hat wenig Sinn, sich gegen ohnehin mahlende Mühlen zu verausgaben, das ist die pessimistische Erkenntnis.
Positiv hingegen jene Erfahrung: Alles hängt doch an der primären Sozialisation. Die ersten (schulfreien) Jahre des Kindes sind entscheidend. Prägt das Elternhaus gut und kräftig, dann ist eigentlich alles getan, was getan werden kann. Und später gibt es ja immer noch die gemeinsamen Mahlzeiten und die Gespräche.
Im Bekanntenkreis haben wir jetzt eine Familie, die sehr mißmutig auf den Religionsunterricht ihrer Kinder schaut und eine Alternative sucht. Kurzes Erschrecken: Stimmt, vor fünfzehn Jahren, bei den ersten Kindern, war das auch für uns ein Thema.
Es wird bei uns nur evangelisch oder Ethik angeboten – damals fanden wir das schon skandalös. Die beiden katholischen Pfarrer der örtlichen Umgebung, die wir dann vor lauter Sorge ums Seelenheil nebenbei bemühten, sind mittlerweile schon lang suspendiert. Pornogeschichten beim einen, Verheiratung beim anderen. Traurig-schaurige Zeiten!
Längst setzen wir daher auf jene Katholiken und Patres, die den zermürbenden Weg des II. Vatikanischen Konzils, also der 68er-Kirche, nicht mitgegangen sind.
Aber was läuft eigentlich ab im Religionsunterricht, an dem unsere Kinder nach wie vor teilnehmen? Es hat uns lange nicht weiter interessiert, erst durch jene besorgte Familie wurde das wieder Thema.
Große Tochter: „Ach, hör auf. Es ist eine große Diskussionsveranstaltung. Mal ein Beispiel: Gesetzt den Fall, ein Papst merkt erst im fortgesetzten Alter, daß er eigentlich eine Frau sei. Er wird also leiblicher Vater, aber soziale Mitmutter eines Kindes, das er mit einer lesbischen Frau gezeugt hat. Darf dieser Papst dann im Amt bleiben, und wenn nein, mit welcher Begründung?“ – „Das ist jetzt aber ein Witz. Soll sicher dazu dienen, den Lehrer zu stressen und die Unterrichtsstunde in Nonsens aufzulösen, oder?“ – „Nein, das wird im Ernst gefragt und im Ernst ausdiskutiert.“
––––––
22. 8. 17 – Trüber Tag, Herbststimmung. Nichts läuft, wie es soll. Im Freibad ist außer mir nur einer. Ich kenne ihn vom Grüßen und von kurzen Gesprächen. Er ist sehr nett, er hat eine leichte geistige Behinderung (weiß nicht, wie man das heute noch freundlicher benennt). Ich verlasse das Becken nach einer Viertelstunde, meine Finger sind weiß vor Kälte. Er: „Aber noch nicht heme, oder?“ (Sachsenanhaltisch für nach Hause/zu Hause.) Doch! Mir langt es. Er erzählt, daß er jeden Tag 3000 Meter absolviert im Becken (Kopf über Wasser). Ich: „Puh, das ist extrem tapfer.“ – „Was soll man machen. Man muß ja fit bleiben. Wir wissen alle nicht, was noch alles kommt.“
–
Ellen Kositzas gesammelte Wochenrückblicke der Jahre 2014–2016 sind in Buchform erhältlich! Ellen Kositza: Das war’s. Diesmal mit: Kindern, Küche, Kritik, Schnellroda 2017. Hier einsehen und bestellen!
H. M. Richter
"Wir wissen ja alle nicht, was noch kommt" [s. o.]
___________________________________________________
Und unversehens hat der Badegast damit Ernst Jünger zitiert, dessen Aussage sich allerdings auf die Zeit nach dem Tode bezieht. Der Schwimmer, der sich auf irdische Art mit den letzten Dingen zu beschäftigen scheint, sollte vielleicht mal in den Religionsunterricht eingeladen werden. Sollte man sich dort mal mit Wichtigem beschäftigen wollen ...