Wir kennen die Strecke und das Procedere und sind, untypisch, drei Stunden vor Abfahrt in Calais. Alles sieht anders aus als das letzte Mal, vor drei Jahren. Die Zufahrt ist nun kilometerlang mit Stacheldrahtzaun gesäumt. Wir werden vier Stunden in Calais verbringen.
Hubschrauber am Himmel, Polizei, oft mit Blaulicht, überall. Die Autoschlange ist endlos, nichts geht voran. Was sind das für Menschen, die, durchweg jung, durchweg schwarzhäutig, die Straße entlangrennen? Wohin rennen sie?
Jenseits des Stacheldrahts, direkt neben unserem Auto, hat sich ein Grüppchen eingefunden. Sie haben Werkzeug dabei. Sie klettern am Stacheldrahtzaun hoch, Hexenleiter und Schultertreppe. Sie werkeln. Kubitschek (sehr ulkig, als einziger von hundert Autofahrern in der Reige) steigt aus und ruft: „Go down! You‘re not allowed!“ Huch, sie kriechen tatsächlich zurück ins Gebüsch! Logisch nur für Minuten. Dann sind sie wieder oben, frickeln an der Stacheldrahtkrone – und machen rüber. Die Polizisten gucken gerade in die andere Richtung, auch da ist „was los“.
Eine Stunde später, wir sind hundert Meter vorgerückt, stehen wir neben einem LKW, der gerade gestürmt wird von vier, fünf „jungen Männern“. Der Fahrer, von uns alarmiert (das Ganze geschieht hinter seinem Rücken), drückt auf die Hupe, Dauerton. Irgendwann kommt die Polizei. Sieht, daß die Plane des Anhängers von oben gemessert wurde. Daß da bereits eine Handvoll Menschen drin ist.
Versteckt, entdeckt, aber raus wollen sie nicht. Die Polizisten setzen Gas ein. Die Leute kriechen raus, benommen. Werden fortgejagt. (Wozu eigentlich der Stacheldrahtzaun?) Irgendwann sieht man die Kerle nicht mehr. Doch, da: Sie entern einen weiteren LKW. Vielleicht ist es der 20. Versuch für heute. Vielleicht haben sie beim 25. „Glück“. Es ist längst dunkel, als wir auf die Fähre rollen.
5. 9. 17 – Früher, als junge Mutter, hing ich gelegentlich mit anderen jungen Müttern ab. Damals war noch nicht netzweit bekannt, wie „kraß rechts“ ich bin, und politische Einstellungen spielten in solchem Beisammensein auch keine Rolle. Nie in meinem Leben hab ich jemandem politische Diskussionen aufgedrängt. Ich erinnere mich aber noch gut an den Punkt, wo ich dachte: Gesellschaft kann ätzend sein.
Es war die Feier eines vierten Geburtstags. Die Mütter („Akademikerinnen“) schauten Autorennen im Fernsehen, derweil die sogenannten Kids flotte Musik aufgelegt bekamen. Als der freudig begrüßte Hüftschwung von Leona (dreieinhalb) mit der Champagnerdusche eines Rennstars zusammenfielen, wußte ich: Unter Müttern – nicht mehr mit mir. Jetzt war Sezession angesagt, kein Spielplatzgetratsche mehr, keine Diskussionen über die besten Haferkekse und die vermaledeiten Männer.
Nach Jahren des mütterlichen Einzelgängertums heute der Recall-Effekt: Eine Mama, mit der ich eher zwangsweise zusammensitzen muß, macht für ihr Gör Musik von „Die Gäng“ an. Ich würde es nennen: Reeducation for the youngest ones. In bestimmten Kreisen ist das wohl angesagt. Das Lied heißt „Blablabla“. Eine kieksende Kleinmädchenstimme singt zu coolen Rhythmen darüber, daß die nervigen Eltern immer rumlabern. Du liebe Güte, jetzt wird der Trotz schon aus Erwachsenenhänden in die Kinderzimmer getragen, die Wege zum dämlichen Aufbegehren werden schon professionell betoniert!
Selbstbeschreibung von „Die Gäng“:
Das ist Musik, die nicht nur die ganz Kleinen begeistert, sondern auch die Großen. Die Kleinen freuen sich über die Inhalte – da gibt es […] aufmüpfige Kritik an nervenden Erwachsenen (z.B. Müde, BlaBlaBla) und auch lustige Gedankenspiele darüber, was etwa der Weihnachtsmann den ganzen Rest des Jahres so treibt. Die Großen finden sich in der Musik wieder, die von Ska, Rocksteady und erdigem Reggae bestimmt ist. Da lässt man sich die Dauerschleife im Kinderzimmer gerne gefallen, wenn man ganz nebenbei noch selber was zum Popowackeln hat! […] D!E GÄNG ist im Kern generationsübergreifend und die Resonanz bei Live-Konzerten enorm. Kinder und Eltern feiern sich gegenseitig, es wird viel gelacht, getobt und frech drauflosgerappt. Hier begegnen sich alle auf Augenhöhe, und es entsteht ein tiefes Gefühl der Verbundenheit.
Bei mir nicht. Es entsteht ein tiefes Gefühl der Befremdung.
6. 9. 17 – Da ich also seit langem nicht mehr mit Muttis beisammenhocke, habe ich eventuell den Maßstab verloren. Manchmal frage ich mich in einsortierender Absicht: Glucke, Helikoptermama, Rabenmutter – bin ich alles definitiv nicht. Bin ich eine Tiger-Mom? Kommt gewiß näher, auch wenn ich nie drohen würde, bei ausbleibendem Lernerfolg Kuscheltiere zu verbrennen (wie Amy Chua).
An unserem Musikschultag muß ich dieses Jahr stets recht viel Zeit in dieser Institution verbringen. Ein Kind beginnt um drei mit dem Chor, ein anderes endet um viertel nach sechs mit der Streichergruppe (und passablen öffentlichen Nahverkehr gibt es hier nicht.) In der Zwischenzeit haben meine gerade nicht musizierenden Kinder ein straffes Programm unter meiner Aufsicht. (Vielleicht wär‘s ihnen lieber, wie die andere Kinder die Zeit im Aufenthaltsraum übers Smartphone gebeugt zu verbringen – ich verzichte darauf, ihre Meinung dazu abzufragen.)
Hausaufgaben, Katechismus, Topographiequiz (Dauerbrenner bei uns seit vielen Jahren, Europakarte ist immer dabei; wer mit zwölf Jahren Neapel in Spanien sucht, muß sich Häme gefallen lassen). Für ein halbes Stündchen setze ich mich immer mit der Jüngsten in einen unbesetzten Proberaum, dort wird geflötet, weil diese Hausaufgaben unter der Woche immer zu kurz kommen.
Heute war ich ungeduldig, obwohl die Kleine generell schön und gern flötet: „Ich weiß nicht, wie oft ich das noch sagen soll!!! Ein Auflösungszeichen gilt IMMER NUR FÜR EINEN TAKT!“, „Jetzt noch mal: Was heißt legato?!? Abgehackt?“
Sonst bin ich nicht so sehr tiger-momig, heute schon. Als ich den Proberaum verlasse und die Tochter zum Unterricht schicke, spricht mich ein Elternpaar mit osteuropäischem Zungenschlag (Russen?) an. Sie hätten ein bißchen zugehört, von außen. Es hätte ihnen gefallen.
Ob ich (sie hielten mich für eine Musiklehrerin, völlige Verkennung, ich kann grad mal Noten lesen) noch freie Kapazitäten hätte? Sie suchten jemanden „mit bißchen streng“. Oh. Am Abend war ich besonders lieb zu meiner Kleinen.
7. 9. 17 – Apropos „streng“, hier mehrfach: Ich hatte zuletzt vom anstehenden Spendenlauf für eine marode Schule in Nepal berichtet. Heute fand er statt. Zwei Kinder pro Klasse durften laufen, meine waren dabei.
Mit der Tochter habe ich zwei Wochen lang allabendlich trainiert, es war ätzend. Vorpubertät. Schneckentempo rein aus Bockigkeit. Zunge am Boden nach einem Kilometer. Extremes Seitenstechen nach anderthalb. Offene Schuhe nach zwei Kilometern. Dumme Sprüche nach zweieinhalb.
Heute war also der Lauf und, oh Wunder, wir sind als Sponsoren mächtig Geld „für Nepal“ losgeworden. Die Kinder haben sich schier aufgeopfert für ihre Fernsten in Asien. Musikalisch begleitet hat dieses Event der berüchtigte linke Dorf-DJ, der immer vornedran steht, wenn es ans Demonstrieren geht „gegen Schnellroda“. Der etwas abgehalfterte Typ geht auf die fünfzig zu und trägt bis heute im Alltag eine Frisur, die in den Achtzigern als crazy gegolten haben mag.
Jeder Läufer, das war ein Lockmittel, durfte sich einen Musiktitel wünschen. Der Wunschhit unseres Sohns (irgendwas Romantisch-Pathetisches von Leger des Heils) wurde nicht gespielt. Auf Nachfrage beschied der verkrachte Strenge, er spiele nichts, was er nicht kenne. Klar, was der Bauer nicht kennt…
Blamabler (oder: heroischer?) war es für D. aus der zehnten Klasse, denn da wurde die Verweigerung des Wunschhits begründet: „Den Wunschsong von D. aus der Zehnten spiele ich nicht, da eindeutig zu rechts.“
Rätselraten. War es der All-Time-Klassiker „Panic“ von The Smiths (man achte auf den Refrain)? Apropos, wenn ich mir dieses verstrahlte Video (damals galt das als cool) anschaue:
Ich liebte damals die Smiths. Damals ahnte ich übrigens nicht, daß sämtliche Künstler, die ich damals verehrte, schwul waren. Alle, alle! (Morrissey, jener Sänger, gilt heute aufgrund diverser Aussagen als „rechts“ und fremdenfeindlich“.)
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RMH
"Die Zufahrt ist nun kilometerlang mit Stacheldrahtzaun gesäumt. Wir werden vier Stunden in Calais verbringen."
Unglaublich, was aus dem ehemals freien Europa geworden ist. Wir waren anno 2009 das letzte mal mit dem Auto in UK und haben damals Calais-Dover eben auch aus dem Grund gewählt, weil wir keine Lust auf ewige Sicherheitskontrollen, Gepäckbeschränkungen etc. am Flughafen hatten. Damals war das alles so schön easy, roll on roll off, keine großen Wartezeiten etc. - und heute so etwas. Seit 9/11 kein schönes Fliegen mehr, spätestens seit 2015 weitere Schickanen. Bei der Einreise nach Dänemark muss man sich mittlerweile auch auf Wartezeiten einrichten (wenn auch deutlich harmloser und weniger schlimm, als hier geschildert). Zu alldem schweigt der Blätterwald und selbstredend auch die Politik. Da kann man nur Danke sagen an alle, die den Islam als Bereicherung sehen, die Europas Außengrenzen nicht sichern wollten und wollen und die Orban einen Faschisten nennen. Der Brexit wird immer verständlicher. Beim nächsten Trip nach UK werden wir - da es dann auch mal wieder eher Richtung Schottland gehen wird - die Fähre Amsterdam-Newcastle benutzen. Bin heute schon gespannt, wie das dann ablaufen wird (bislang noch nicht als großes Migranten-Einfallstor bekannt).