Mishras Ausgangspunkt ist die liberale Fehlannahme, die Welt sei mit dem Abschluß des Kalten Kriegs an ihr »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) gelangt, die Welt gehe daher »den Weg Amerikas«, sie würde »offener, marktfreundlicher und demokratischer« (Fareed Zakaria).
Nun ist bekannt, daß Demokratie und Kapitalismus auch losgelöst voneinander existieren können, daß Modernisierung im kapitalistischen Sinne zum »universalistischen Glaubensbekenntnis« (Mishra) des aufgeklärten Individuums in einer Welt der angerufenen Marktvernunft wurde. Wer hier in den Chor nicht einstimmte, wurde von den radikalen Vertretern eines solchen Glaubensbekenntnisses zur »Achse des Bösen« delegiert und zur »Befreiung« mittels Interventionen auserkoren.
Die Welt war aber noch nie derartig binär erklärbar, und mit den jüngsten Krisen- und Eskalationserscheinungen hat die Komplexität der Dinge einer im Zeichen von Wut und Zorn stehenden Weltunordnung eine neue Dimension erreicht.
Mishra versucht den schwierigen Ritt einer Tour d’horizon dieses längst nicht abgeschlossenen Zeitalters. Die Spaltungen und Irrungen der modernen Welt lassen seine Analysen zwischen dem späten 18. Jahrhundert (als dem eigentlichen Beginn der Moderne) und der Gegenwart oszillieren. Mishra kritisiert die zeitgenössische Verklärung des Rationalismus der französischen Aufklärung.
In diesem, der sich vorgeblich egalitär gegen die überkommene hierarchische und religiöse Ordnung richtete, sieht er eine wesentlich eigennützige Tendenz. Denn dienen sollte er zunächst einer aufsteigenden Kaste Gebildeter auf dem Wege in die vornehme Gesellschaft im Zuge einer »mimetischen Aneignung« (René Girard).
Diese neue siegreiche materialistische Geisteskultur – die Dostojewski in seinen Schriften kritisch erfaßte, während Tschernyschewski mit ihr ein rationalistisches Paradies der Zukunft ersann; die Rousseau leidenschaftlich anzuklagen wußte, während Voltaire sie verherrlichte – habe für brutale Widersprüche in der Weltgeschichte gesorgt, weil sie einen universellen Anstieg des mimetischen Begehrens verursachte, was bedeute, daß Menschen dieselben Dinge begehren und danach trachten, diese zu besitzen.
Heute habe der Materialismus als neuer Gott die Religionen und Kulturen außerwestlicher Völker verdrängt, insbesondere unter den gebildeten Schichten. Der Westen selbst habe diese Roßkur längst hinter sich; später hätten seine Glaubenssysteme und Institutionen (Kommerzgesellschaft, Marktwirtschaft, Rationalismus usw.) auch Asien und Afrika in Aufruhr versetzt.
Ergebnis dieser Prozedur sind Milliarden Menschen außerhalb des Westens, die in den »Strudel des Fortschritts« geworfen wurden und werden, was teils heftige Gegenbewegungen unterschiedlicher Art hervorruft, die sich auch und vor allem gegen eine Westoxification (Jalal Al‑e Ahmad) richten, gleichzeitig den Westen mindestens partiell imitieren und durch die wachsenden Ungleichheiten des globalen Kapitalismus potenziert werden.
Mögliche Gegenbewegungen umfassen auch einen gewalttätigen »Anarchismus der Enterbten und Überflüssigen« im Stile der russischen Bakunin-Anhänger des 19. Jahrhunderts, wobei die Gewaltexplosion sich in unseren Tagen insbesondere islamistisch äußert. Hier ist Kritik angebracht: Während Mishra zu Recht davon ausgeht, daß Erscheinungen wie der Islamische Staat (IS) frustrierte Personen jedweder Nationalität anziehen, die aus der Bahn geworfen und »voller Träume von spektakulärer Gewalt« agieren, so bleibt seine Analyse der islamischen Dimension des IS zu oberflächlich:
Ja, der Neocon-Terror schuf extremes Zornpotential. Und ja, viele der IS-Mörder haben eine kriminelle (ergo »unislamische«) Vorgeschichte, wissen überdies nicht viel von religiöser Überlieferung. Aber nein, deshalb kann man die Bedeutung tatsächlicher islamischer Denkmuster für den Terror nicht relativieren. Der IS ist zwar auch das Produkt fanatisch-zorniger Gewalttäter, die ihren Platz im gegenwärtigen Modernisierungsprozeß nicht finden, auch das Ergebnis der Irak-Kriege, auch Folge wirtschaftlicher und politischer Instabilität, auch ein mafiaähnliches Netzwerk zur Geldbeschaffung; der IS ist vor allem aber das Ergebnis eskalierender wahabitischer Apokalypse-Ideologie, die für entwurzelte Individuen sinnstiftend wirken kann.
Womöglich fehlt Mishra hier der Zugriff auf eine umfassendere Theorie der Entwurzelung und des sunnitischen Neofundamentalismus, die vom französischen Denker Olivier Roy seit vielen Jahren ausformuliert wird. Roy taucht indes im Literaturverzeichnis gar nicht erst auf. Das Zeitalter des Zorns kennt also Stärken und Schwächen. Erstere überwiegen insbesondere, was das Ideenhistorische und Gesellschaftskritische anbelangt.
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Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart, Frankfurt a.M.: S. Fischer. 416 S., 24 €.
Der Gehenkte
Bei allem Respekt - aber wo ist der zündende Gedanke? Das klingt nach abgedroschenem Zeug und Zweitverwertung und vielleicht auch nach Unkenntnis (wie kann man Tschernyschewski so mißverstehen? - allein seine Bedeutung für Lenin spricht dagegen; hat er jemals "Was tun? gelesen?). Das wundert mich allerdings nicht: Vor Jahren hatte ich Mishras Erstling "Unterwegs zu Buddha" gelesen und exakt diese nicht unangenehme, etwas einschläfernde Mediokrität vorgefunden und den Autor ins Regal gestellt. Er war das Epitom der Heideggerschen Aussage: "Die tragenden Gedanken der Metaphysik bleiben uns fremd, solange wir diese Gedanken nicht denken, sondern immer nur darüber berichten." - Viel über aber nichts in. Buddha blieb so ein Phantom. Und wenn ich Sie recht verstehe, Herr Kaiser, dann ist das hier auch nicht anders. Man vergleiche nur Sloterdijks erfrischende Idee der Zorn-Banken in "Zorn und Zeit" mit dem Gerede vom "Materialismus" etc.