Des Pudels Kern findet sich jedoch in Wahrheit erst im auf diese vielzitierte und ‑kritisierte Passage folgenden Satz, der nichts weniger als das Selbstverständnis der Deutschen als Volk selbst in Frage stellt:
Schon historisch haben eher regionale Kulturen, haben Einwanderung und Vielfalt unsere Geschichte geprägt.
Soll heißen: Die sich da als “wir Deutsche” verstehen, klammern sich an das Konstrukt eines Volks, das so nie interessiert hat, sondern in Wahrheit immer nur eine – postmodern-aktuell mit Negri und Hardt gesprochen – Multitude, eine “Vielheit” zweck- und interessengebunden gemeinsam handelnder Individuen bzw. Stämme und Gruppen war.
Daß Özoğuz in ihrem Debattenbeitrag für Tagesspiegel Causa den Begriff des deutschen Volks derart ins Reich des Surrealen abzuschieben suchte, kommt nicht von ungefähr: Anläßlich der zaghaften und schnell erloschenen Neuauflage der Leitkulturdebatte konstatiert die studierte Anglistin ein verkommenes »Klischee des Deutschseins«. Nota bene: kein klischeehaftes Deutschsein oder Klischee vom Deutschen, nein – das Deutschsein an sich wird ihr zum Klischee, das abzuräumen ist.
Diese zeitgeistige Scheindebatte um Gemeinschaft, Tradition und Geschichte wird, wie gewohnt, nahtlos in die Vergangenheit zurückprojiziert. Da eine gemeinsame volkliche Geschichte den sich zufällig auf deutschem Boden vorfindenden Haufen an Konsummonaden und global beweglichen Arbeitsdrohnen nur verunsichern würde, bedarf es einer gründlichen Dekonstruktion. Die fällt bis zurück zu Martin Luther unter Verweis auf mythische zwölf Jahre denkbar leicht.
Und mit dem gleichen Mechanismus soll es auch der Vor- und Frühgeschichte an den Kragen gehen. Vorschub leistet dabei die im Fach selbst seit Anfang der 1960er Jahre virulente Tendenz zur Revision des Volksbegriffs “Germanen”, die sich samt ihrer heutigen Epigonen nahtlos in das große Mantra der globalen Menschenverschiebung einreiht: daß es selbstverständlich keine Völker gebe, ohnehin nichts als substantielle Einheit gegeben sei.
»Die Germanen haben in Wirklichkeit nie existiert. Sie sind ein Mythos«, und den hätten maßgeblich »die Nazis« kreiert, hieß es etwa von Frauke von der Haar. Ihr hatte die Stadt Bremen 2013 die Ausstellung »Graben für Germanien – Archäologie unter dem Hakenkreuz« zu verdanken. “Völkisch” ist also auch derjenige, der selbstverständlich die Germanen als Urväter eines deutschen Volks annimmt.
Dieser zeitgeistig-politisch kontaminierten Selektion wissenschaftlicher Befunde und Diskurse tritt nun der bewährte Anthropologe und Historiker Andreas Vonderach entgegen. Sein druckfrisches Werk Gab es Germanen? Eine Spurensuche widmet sich der Debatte um Existenz und Charakter der Germanen von den Anfängen bis zum heutigen Stand. Der “moderne” Germanenbegriff – daß sie eben kein eigenes Volk gewesen seien – wird dabei aus dem Blick der drei für diese Frage maßgeblichen Wissenschaften durchgemustert: Völkerkunde, Archäologie und Linguistik.
Zu guter Letzt widmet sich ein eigenes Kapitel der Frage, ob die zeitgenössischen Germanen denn auch ein eigenes Bewußtsein ihres Volkscharakters gehabt hätten. Es kann wohl so viel verraten werden: Die Autoren der antiken und klassischen Quellen haben nicht bloß spekuliert und voneinander abgeschrieben; die “Germanisierung” weiter Teile des germanischen Stammesgebiets vollzog sich nicht erst im Rahmen der Völkerwanderung; und, ja, es gab die Germanen als selbstbewußtes Volk diverser Stämme wirklich, ebenso wie es heute ein deutsches Volk gibt.
Wir sind mit Deutschland »ein Lebewesen, das 2000 Jahre alt ist«, wie es Alexander Kluge so schön beschrieb. Dieses Erbe und diese Geschichte gilt es, zu verteidigen – und vor allem zu kennen. Wer der polit-wissenschaftlichen Demontage unseres Volksbewußtseins widerstehen und entgegentreten will, der hat mit Vonderachs bündigem Werk eine zuverlässige Quelle zur Hand, die darüber hinaus allgemeinverständlich geschrieben ist und einleuchtend argumentiert.
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Andreas Vonderach: Gab es Germanen? Eine Spurensuche, Schnellroda 2017. 208 S., 19 € – hier einsehen und bestellen!
Der Starost
Nach dem üblichen "Betroffenheitsgetue" und anschließendem Rückzieher bei "Maischberger"
https://www.welt.de/politik/deutschland/article168405164/Oezoguz-zeigt-sich-schwer-schockiert-von-Gauland-Aeusserungen.html
kann man sich des Eindrucks schlecht erwehren, dass Alexander Gauland doch nicht sehr neben der Sache gelegen hat.