Ein Netz bietet viele Möglichkeiten und hat ebenso viele Tücken. So, wie man seine Unsichtbarkeit ausnutzt, um ahnungslose Geschöpfe, vor allem Vögel und Fische, zu fangen, so leicht kann man sich selbst darin verheddern. Im Alten Rom war das der Ausgangspunkt für eine ungewöhnliche Duellsituation. Bei Gladiatorenkämpfen wurde ein Mann, der lediglich mit einem Wurfnetz und einem Dreizack bewaffnet war, der Retiarius, einem klassisch mit Schild und Schwert bewaffneten Gegner gegenübergestellt. Der Sinn dieser Paarungen war es, den Zuschauer durch einen möglichst interessanten Kampf zu unterhalten. Gelang es dem Retiarius, den Gegner im Netz zu fangen und damit zumindest kurzzeitig bewegungsunfähig zu machen, hatte er eine realistische Chance, ihn zu besiegen. Verhedderte er sich selbst oder verfehlte mit seinem Netz das Ziel, ging es für ihn in der Regel übel aus.
Diese Doppelgesichtigkeit des Netzes setzt sich bis in die Gegenwart fort und ist so etwas wie ein ewiges Gleichnis dafür, daß nicht die Dinge selbst, sondern der Gebrauch der Dinge über ihren Wert entscheidet. Es sei nur an Jesus erinnert, der den nach erfolglosem Fischzug Netze reinigenden Petrus noch einmal auf den See hinausschickt und ihm die Netze füllt. Dem überwältigten und gläubigen Petrus gibt Jesus die Worte mit auf den Weg: »Fürchte dich nicht, von nun an wirst du Menschen fangen.« Das Netz, das Petrus jetzt benutzt, ist der Glaube; er wird zum Menschenfischer und macht reiche Beute für das Himmelreich. Man kann die Gemeinde der Gläubigen als vernetzt bezeichnen (untereinander und mit Gott), aber dabei gerät aus dem Blick, daß es hier gar nicht um die Vernetzung, sondern um die Handhabung des Netzes geht.
In Zeiten der virtuellen »sozialen Netzwerke« gewinnt dieser Aspekt eine ganz neue Dimension. Das Netz ist öffentlich, wir alle können uns daran beteiligen, und vor allem ist es sichtbar (hier wird die Forderung nach Transparenz, Durchsichtigkeit, gleichsam umgedreht) und damit nicht geheim. Es wird suggeriert, daß in einem solchen Netzwerk ein Haufen Gleichberechtigte am Werke seien und daß es keine Hierarchien oder Autoritäten gebe: Autonome Individuen bastelten gemeinsam und gleichberechtigt an der besseren Welt. Daß es sich dabei um eine Illusion handelt, sollte selbstverständlich sein. Allein die Tatsache, daß sich immer wieder Netzwerker im eigenen Netz verheddern, wenn ihnen selbst nicht klar ist, wer alles noch dazugehört, sollte bezüglich der Beherrschbarkeit des Netzes demütig machen.
Der Gedanke, daß alles »Netz« sei, ist omnipräsent. Wenn keines offenkundig ist, wird eines konstruiert: Wer hängt mit wem über welche Knoten zusammen? Auf diesem Wege läßt sich jedes beliebige Netz knüpfen, da über zig Knoten irgendwie jeder mit jedem vernetzt ist – und sei es nur, daß man die gleiche Zeitung liest oder jeden Morgen die S‑Bahn benutzt.
Der Vorwurf an den politischen Gegner lautet, er habe ein Netz geknüpft, um darin die Ahnungs- oder Wehrlosen zu fangen. Man unterstellt ihm Hinterlist. Das Sichtbarmachen des Netzes ist daher als Anklage zu verstehen, die mindestens den unlauteren Wettbewerb mittels Öffentlichkeit aus der Welt schaffen will. Und ganz selbstverständlich sucht man sich dabei selbst eines Netzwerkes zu bedienen, um den Vorwurf und die Aufklärung über den Gegner entsprechend verbreiten zu können.
Aber jenseits dieser denunziatorisch gemeinten Konstruktionen und wohlmeinenden Illusionen gibt es natürlich Netzwerke, und es hat sie immer gegeben. Daß man sie nie so genannt hat, ist leicht einzusehen, weil es sich auch hier um die Übernahme eines englischen Begriffs handelt, dem eine doppelzüngige Konnotation anhaftet. Wendet man den Begriff des Netzwerkes auf historische Konstellationen an, wird deutlich, daß es sich dabei zumindest um eine Verschleierung von Tatsachen handelt. Welchen Erkenntnisgewinn hat es, Ernst Jünger als Netzwerker zu klassifizieren, weil er mit der halben Welt in Briefkontakt stand?
Und kaum jemandem würde es einfallen, die Borgias als gute Netzwerker zu bezeichnen, obwohl sie in der Lage waren, über Jahrhunderte ein Netz aus Beziehungen zu knüpfen, zu pflegen und für sich zu nutzen. Der Vorstellung vom Netzwerker haftet doch zu sehr die Illusion der Gleichheit an, die bei den Borgias nicht gegeben war. Hier müßte man dann eher von der Spinne reden, die ein Netz knüpft, das nur ihr nützt und sonst eigentlich niemandem. Sollte auch noch jemand anders davon profitieren, so nur aus dem Grund, weil man nach dem Grundsatz »eine Hand wäscht die andere« gezwungen war, gemeinsam zu handeln, wenn keine anderen Mittel zur Verfügung standen.
Das alles ist recht banal, und schon der Blick auf die schlichten Tatsachen des Lebens lehrt die Grundsätze: Ein Mensch existiert in Beziehungen und kann ohne diese kaum sein Leben bewältigen. Dabei ist es zunächst gleichgültig, welcher Natur diese Beziehungen sind, ob es sich um Geschäfts- oder Liebesbeziehungen handelt. Werden diese Beziehungen nach dem Nutzen sortiert, kommen wir in den Bereich dessen, was man meint, wenn davon die Rede ist, daß man gut vernetzt sei. Familienbande zählen nicht. Die sind in der Regel gegeben, man kann sie pflegen oder vernachlässigen, muß sie aber nicht erst knüpfen.
Da der Mensch seine Umwelt sortieren muß, weil er sonst vor lauter Eindrücken nicht weiß, wie er sich verhalten soll, kann er auch nicht jede Beziehung gleich behandeln. Neben den Nutzen, den eine Beziehung haben kann, also den aktiven Part, tritt gleichsam der passive: das Vertrauen, das da ist, ohne daß es erst gebildet wurde (was als sekundäres Moment erst nach einer Hürde hinzutreten kann). Dieses mag in dem Ruf des anderen begründet sein, beginnt aber üblicherweise damit, daß man seinesgleichen mehr vertraut als Fremden, mit denen also auch das Netzwerken deutlich schwieriger ist.
Vielleicht sollte man dabei nicht unterschätzen, daß viele Beziehungen darauf beruhen, daß man jemand anders etwas schuldet. Und wer mir etwas schuldet, auf den kann ich im Zweifel zurückgreifen und von ihm einen Gefallen verlangen.
Will man etwas erreichen, muß man Beziehungen knüpfen. Weil wir es hier mit etwas zu tun haben, das weder anonym noch virtuell noch demokratisch funktioniert, ist der Begriff »Netzwerk« ungeeignet, um es zu beschreiben. Abgesehen von der Brauchbarkeit des Wortes ist eine Welt voller Netzwerker eine Vorstellung, die irgendwo zwischen Geheimpolizei und Management angesiedelt ist. Wer die Welt in diesem Sinne für beschreibbar hält, will auch, daß sie so ist. Und er wird blind für all die anderen Beziehungen, die es gibt und aus denen im Zweifel eine viel größere Gefahr für ihn erwächst. Wer nur auf das Netz starrt, übersieht vielleicht den Dreizack.