Niklas Luhmann, oder: Der Mensch im Netzwerk

PDF der Druckfassung aus Sezession 72 / Juni 2016

Michael Wiesberg

Michael Wiesberg ist Lektor und freier Publizist.

Aus dem umfang­rei­chen Nach­laß des 1998 ver­stor­be­nen Sozio­lo­gen und Gesell­schafts­theo­re­ti­kers Niklas Luh­mann hat der Suhr­kamp Ver­lag drei Auf­sät­ze aus den 1960er Jah­ren, dar­un­ter einen bis­her unver­öf­fent­lich­ten, zu einem hand­li­chen Bre­vier kom­pi­liert, das durch sei­ne Signal­far­be Oran­ge unüber­seh­bar ins Auge sticht. Der neue Chef heißt das Büch­lein und trägt damit den Titel eines der drei Auf­sät­ze. Der FAZ-Mit­her­aus­ge­ber und Luh­mann-Schü­ler Jür­gen Kau­be (Nach­fol­ger des im Juni 2014 ver­stor­be­nen Frank Schirr­ma­cher und eben­so wie die­ser für das Feuil­le­ton zustän­dig) hat ein Nach­wort bei­gesteu­ert, in dem er die dis­kur­si­ven Rah­men­be­din­gun­gen die­ser drei Auf­sät­ze auf­zeigt, die im Umfeld von Luh­manns 1964 publi­zier­tem Buch Funk­tio­nen und Fol­gen for­ma­ler Orga­ni­sa­ti­on ent­stan­den sind.

Wel­chen Wert hat ein Auf­satz des Minis­te­ri­al­be­am­ten Luh­mann – in die­ser Funk­ti­on war er von 1954–1962 tätig – über Pro­ble­me, die beim Wech­sel von Vor­ge­setz­ten ent­ste­hen kön­nen, aus heu­ti­ger Per­spek­ti­ve? Luh­mann nimmt die Erschüt­te­run­gen, die ein Wech­sel an der Füh­rungs­spit­ze in jeder Orga­ni­sa­ti­on aus­löst, akri­bisch unter die Lupe und spie­gelt das kom­pli­zier­te Bezie­hungs­ge­flecht zwi­schen Vor­ge­setz­ten und Unter­ge­be­nen wider. Da sind ein­mal Kom­mu­ni­ka­ti­ons­schwie­rig­kei­ten und Rol­len­fin­dungs­pro­ble­me, aber auch unter­schied­li­che Wert­vor­stel­lun­gen zu nen­nen. Der neue Chef bekommt es womög­lich mit inner­be­trieb­li­chen Cli­quen (heu­te wür­de man wohl »Netz­wer­ke« sagen) zu tun, die sich einen mehr oder weni­ger gro­ßen Einfluß ver­schafft haben. Damit steht die Macht­fra­ge im Raum, die nicht a prio­ri zuguns­ten des neu­en Chefs ent­schie­den ist. Ver­ste­hen es näm­lich die Unter­ge­be­nen, ihren Chef sub­til zu len­ken, stellt sich die Macht­fra­ge dif­fe­ren­zier­ter dar. Luh­mann hat die­sem Phä­no­men einen eige­nen Auf­satz gewid­met: »Unter­wa­chung oder die Kunst, Vor­ge­setz­te zu len­ken«. Bei der Dis­kus­si­on dar­über, wel­che Mit­tel dabei anzu­wen­den wären, demons­triert Luh­mann, war­um ihn der Spie­gel als »Iko­ne der Küh­le und der intel­lek­tu­el­len Mokanz« cha­rak­te­ri­siert hat, emp­fehlt er doch fol­gen­den Kunst­griff: »Hilf­reich ist dabei die Vor­stel­lung, der Vor­ge­setz­te habe kei­ne Klei­der an.«

Ein neu­er Chef mag zwar die for­ma­len Zustän­dig­kei­ten beherr­schen, wird sich aber mit der »infor­ma­len Ord­nung« von »Cli­quen« – wie sie unter ande­rem in dem Auf­satz »Spon­ta­ne Ord­nungs­bil­dung« dis­ku­tiert wer­den – erst noch ver­traut machen müs­sen. »Jeden­falls gehö­ren Unbe­fan­gen­heit und Pie­tät­lo­sig­keit gegen­über loka­len Gewohn­hei­ten« zur Anfangs­rol­le eines neu­en Chefs. Eine sol­che Ein­stel­lung wer­de erwar­tet und des­sen Umge­bung »skep­tisch und zurück­hal­tend stim­men. Sie hält sich in Ver­tei­di­gungs­be­reit­schaft«. Es liegt im Ermes­sen des neu­en Chefs, mit wel­chen Mit­teln, die Luh­mann aus­führ­lich dar­stellt, er die­ser Umge­bung sei­nen Stem­pel auf­drückt und den »Hosti­le Native«-Komplex – wie er mit Blick auf die neu­en Chefs nach dem Ein­zug der Eisen­hower-Ver­wal­tung in den USA genannt wur­de – durchbricht.

Gele­gent­lich ein­ge­streu­te For­mu­lie­run­gen wie »Jede sozia­le Ord­nung kann funk­tio­nal ana­ly­siert wer­den« lesen sich heu­te als ein Art Indi­ka­tor jener Ein­flüs­se auf Luh­mann, die der US-Sozio­lo­ge Tal­cott Par­sons und des­sen struk­tur­funk­tio­na­le Sys­tem­theo­rie im Rah­men eines Fort­bil­dungs-Sti­pen­di­ums für die Har­vard-Uni­ver­si­tät in den Jah­ren 1960/61 bewirkt haben mögen. Luh­mann erwei­ter­te in der Fol­ge die Theo­rie Par­sons, ver­wen­de­te aber nicht mehr den Hand­lungs­be­griff, son­dern den all­ge­mei­ne­ren Begriff der Ope­ra­ti­on. Wenn Ope­ra­tio­nen anein­an­der anschlie­ßen, ent­ste­hen Sys­te­me. Kom­mu­ni­ka­ti­on ist nach Luh­mann die Ope­ra­ti­on, in der sozia­le Sys­te­me ent­ste­hen. Schließt eine Kom­mu­ni­ka­ti­on an eine ande­re an, ent­steht ein sich selbst beob­ach­ten­des sozia­les Sys­tem. Kom­mu­ni­ka­ti­on wird durch Spra­che und durch »sym­bo­lisch gene­ra­li­sier­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­en« wie Geld, Wahr­heit, Macht oder Lie­be – einem zen­tra­len Topos in der Sys­tem­theo­rie Luh­manns – wahrscheinlichgemacht.

Im Hin­blick auf Luh­manns Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­griff ist die Beson­der­heit zu beach­ten, daß er Kom­mu­ni­ka­ti­on nicht als Han­deln deu­tet, das ein­zel­ne Men­schen in den Blick nimmt. Statt von Men­schen geht Luh­mann von der Kom­mu­ni­ka­ti­on kon­stru­ier­ter Ein­hei­ten (»Iden­ti­fi­ka­ti­ons­punk­ten«) aus; er argu­men­tiert, so erläu­tert bei­spiels­wei­se Nor­bert Bolz den Luh­mann­schen Ansatz, bewußt am Men­schen vor­bei; weder sei die­ser ein Sys­tem noch das Ele­ment eines Sys­tems. Das gip­felt in dem pro­vo­kan­ten Satz: »Die Gesell­schaft besteht nicht aus Men­schen, sie besteht aus Kom­mu­ni­ka­tio­nen zwi­schen Menschen.«

Luh­mann unter­schei­det drei Typen sozia­ler Sys­te­me, näm­lich Interaktions‑, Orga­ni­sa­ti­ons- und Gesell­schafts­sys­te­me. Inter­ak­ti­ons­sys­te­me bestehen aus ein­ma­li­gen Begeg­nun­gen in Gesprä­chen, die an der Super­markt­kas­se, auf Par­tys oder bei einem Geschäfts­tref­fen statt­fin­den kön­nen. Orga­ni­sa­tio­nen (z.B. Unter­neh­men) fußen auf einer Mit­glied­schaft und klar ver­teil­ten Kom­pe­ten­zen. Die Gesell­schaft umfaßt nach Luh­mann alle Kom­mu­ni­ka­tio­nen und ist weder per­so­nell noch ter­ri­to­ri­al abgrenz­bar. Gesell­schaft ist das umfas­sen­de Sys­tem, das sich in Funk­ti­ons­sys­te­men aus­dif­fe­ren­ziert. Auf die­se Wei­se ent­ste­hen unter ande­rem das Recht, die Wirt­schaft, die Wis­sen­schaft, die Poli­tik, die Reli­gi­on als funk­tio­nal aus­dif­fe­ren­zier­te Sys­te­me. Die sozia­le Welt besteht also, ver­sucht man Luh­mann auf den Punkt zu brin­gen, aus Sys­te­men und kann des­halb mit­hil­fe der Sys­tem­theo­rie beschrie­ben wer­den. Wo in die­sen Sys­te­men wären dann Netz­wer­ke zu verorten?

Bezeich­nen­der­wei­se wird der Begriff Netz­werk im Luh­mann­schen Werk nur gele­gent­lich benutzt; so zum Bei­spiel in der grund­le­gen­den Kon­zep­ti­on des Auto­poie­sis-Begriffs, spä­ter dann auch mit Blick auf Phä­no­me­ne wie Mafa, Fave­las oder Orga­ni­sa­ti­ons­netz­wer­ke. Auto­poie­sis def­nier­te Luh­mann ein­mal dahin­ge­hend, »daß ein Sys­tem sei­ne eige­nen Ope­ra­tio­nen nur durch ein Netz­werk der eige­nen Ope­ra­tio­nen erzeu­gen kann. Und das Netz­werk der eige­nen Ope­ra­tio­nen ist wie­der­um erzeugt durch die­se Ope­ra­tio­nen«. Die »basa­le Res­sour­ce des Netz­werks scheint zu sein«, so Luh­mann Mit­te der 1990er Jah­re, »daß man jeman­den kennt, der jeman­den kennt; und daß das Bit­ten um Gefäl­lig­kei­ten der­art ver­brei­tet ist, daß man, wenn man über­haupt die Mög­lich­keit hat zu hel­fen, es nicht ableh­nen kann, ohne bin­nen kur­zem aus dem Netz der wech­sel­sei­ti­gen Dis­kur­se aus­ge­schlos­sen zu wer­den«. Das Netz erzeu­ge einen eige­nen »Exklu­si­ons­me­cha­nis­mus«, der bewir­ken kön­ne, daß man zur »Unper­son« wird, die nie­mand kennt und die eben des­halb »trotz aller for­ma­len Berech­ti­gun­gen auch kei­nen Zugang zu den Funk­ti­ons­sys­te­men fndet«.

Die Gren­ze zwi­schen Exklu­si­on und Inklu­si­on wer­de durch netz­werk­ar­ti­ge Struk­tu­ren von wech­sel­sei­ti­gen Guns­t­er­wei­sen kon­sti­tu­iert. Wer in sol­che Netz­wer­ke ein­ge­bun­den sei, kön­ne auch in den Funk­ti­ons­sys­te­men auf Inklu­si­on rech­nen. Netz­wer­ke ent­ste­hen nach Luh­mann aus der Gewohn­heit, in »Netz­wer­ken der Hil­fe, der För­de­rung und der erwart­ba­ren Dank­bar­keit zu den­ken«. Netz­wer­ke sind aus der Sicht von Luh­mann damit »rea­le sozia­le Struk­tu­ren«, die durch das Den­ken in die­sen Struk­tu­ren kon­sti­tu­iert werden.

Luh­mann hat sich, dar­auf hat unter ande­rem der Sozio­lo­ge Jan Fuh­se hin­ge­wie­sen, nie grund­sätz­lich über das Ver­hält­nis von Sys­tem- und Netz­werk­be­griff geäu­ßert. Ob er die von ihm beschrie­be­nen Netz­werk­phä­no­me­ne auch als sozia­le Sys­te­me auf­ge­faßt hat, dar­über kann nur spe­ku­liert wer­den. Mög­li­cher­wei­se hängt die­ser theo­re­ti­sche »Schwe­be­zu­stand« der Luh­mann­schen Beob­ach­tun­gen im Hin­blick auf das Phä­no­men Netz­wer­ke mit dem oben bereits ange­spro­che­nen metho­di­schen Anti­hu­ma­nis­mus sei­ner Sys­tem­theo­rie zusam­men. Der Mensch ist im Den­ken Luh­manns, so Nor­bert Bolz mit unüber­les­bar iro­ni­schem Unter­ton, kein Sys­tem, und immer dann »wenn der Mensch im Mit­tel­punkt steht, steht er der Wis­sen­schaft im Weg«. Luh­mann brach­te die­se metho­di­sche Grund­ent­schei­dung knapp und klar mit der Ein­las­sung: »Der Mensch inter­es­siert mich nicht.« auf den Punkt. Es über­rascht vor die­sem Hin­ter­grund nicht, daß er das The­ma Netz­wer­ke, in dem bestimm­te Cha­rak­te­ris­ti­ka der Natur des Men­schen zum Tra­gen kom­men, eher kur­so­risch streif­te. Daß Luh­mann zuletzt den Fak­tor Mensch in sei­nen sys­tem­theo­re­ti­schen Refle­xio­nen doch wie­der in den Blick nahm, war unter ande­rem durch sei­ne Beob­ach­tun­gen in den bra­si­lia­ni­schen Fave­las motiviert.

In die­sem Zusam­men­hang wäre es auf­schluß­reich, wie Luh­mann heu­te ein Phä­no­men wie das der trans­na­tio­na­len Netz­wer­ke der Finanz­eli­ten und deren Inklu­si­ons- und Exklu­si­ons­me­cha­nis­men bewer­tet hät­te, das jüngst von der Finanz­ex­per­tin San­dra Navi­di in ihrem Buch Super-Hubs umfas­send the­ma­ti­siert wur­de. Navi­di macht gleich in der Ein­lei­tung klar, was das »exklu­sivs­te und wert­volls­te Gut« der Finanz­chefs und »hoch­ran­gi­gen Ent­schei­dungs­trä­ger« ist, näm­lich »ein all­um­span­nen­des Netz­werk höchst­per­sön­li­cher Bezie­hun­gen«. »Ver­netzt-Sein« sei ange­sichts »fort­schrei­ten­der Glo­ba­li­sie­rung« uner­läß­lich, denn es wer­de als »Teil des Human­ka­pi­tals bei Füh­rungs­kräf­ten vor­aus­ge­setzt« und stel­le gegen­über gleich qua­li­fi­zier­ten Kon­kur­ren­ten »einen ent­schei­den­den Wett­be­werbs­vor­teil« dar. Das »Netz­werk-Kapi­tal«, zu denen Navi­di »Sta­tus, Repu­ta­ti­on und das Trans­ak­ti­ons­po­ten­zi­al des sozia­len Kapi­tals« zählt, kor­re­lie­ren direkt mit »finan­zi­el­lem Gewinn und Macht«.

Als »Super-Hubs« bezeich­net Navi­di die am bes­ten ver­netz­ten Kno­ten­punk­te im Zen­trum der trans­na­tio­na­len Finanz­netz­wer­ke. Hier­bei han­de­le es sich um ein paar hun­dert Füh­rungs­kräf­te welt­weit, die »den Dia­log domi­nie­ren«. Sie mögen nicht so bekannt oder pro­mi­nent wie Poli­ti­ker sein, »aber einer glo­ba­len ›Über­re­gie­rung‹ gleich ver­fü­gen sie über eine grö­ße­re Macht­fül­le als gewähl­te Volks­ver­tre­ter«. Das US-Nach­rich­ten­ma­ga­zin News­week kom­men­tier­te die­se Ent­wick­lung mit der bezeich­nen­den Schlag­zei­le »Der Auf­stieg der Über­klas­se«. Im »Ner­ven­zen­trum« inter­na­tio­na­ler Netz­wer­ke sieht Navi­di unter ande­rem Geor­ge Sor­os, seit zwei Jahr­zehn­ten zum Bei­spiel Stamm­gast beim Welt­wirt­schafts­fo­rum in Davos, »wo er das Orches­ter der Netz­werk-Sym­pho­nie vir­tu­os diri­giert«. Netz­wer­ke bestehen aus »Noden« (Kno­ten), die durch »Lei­tun­gen« mit­ein­an­der ver­bun­den sei­en. Alle »Noden« kon­kur­rier­ten fort­wäh­rend um neue Ver­bin­dun­gen; je mehr Ver­bin­dun­gen eine »Node« habe, des­to grö­ßer sei ihre Über­le­bens­chan­ce. Alle »Noden« ori­en­tier­ten sich an den »Super-Hubs« (wie Sor­os) in dem Bedürf­nis, anzu­do­cken. Die­se sei­en begehrt, weil ihr »Sozi­al­ka­pi­tal« Zugang zu allem und jedem eröffneten.

Mensch­li­che Netz­wer­ke ent­wi­ckel­ten sich fort­wäh­rend, so stellt Navi­di mit Blick auf neue­re For­schungs­er­geb­nis­se fest, »im Ein­klang mit den Geset­zen der Homo­phi­lie« (Vor­lie­be für das Gleich­ar­ti­ge), was nichts ande­res bedeu­te, als daß sich Men­schen »vor­zugs­wei­se mit Men­schen zusam­men­tun, die ihnen ähn­lich sind«. Gemeint ist damit ein ähn­li­cher beruf­li­cher, gesell­schaft­li­cher, bil­dungs­mä­ßi­ger oder wirt­schaft­li­cher Hin­ter­grund. Hier begin­nen die Exklu­si­ons- und Inklu­si­ons­me­cha­nis­men zu wir­ken, von denen mit Blick auf Luh­mann oben die Rede war. Die »Noden« und erst recht die »Super-Hubs« der Finanz­netz­wer­ke brin­gen einen ähn­li­chen »kul­tu­rel­len Fit«, sprich: den pas­sen­den »sozio­öko­no­mi­schen Hin­ter­grund« mit, der sich in einer »gewis­sen Welt­läufgkeit, Kul­ti­viert­heit und Gra­vi­tät« mani­fes­tiert. Hier sind jene »Struk­tu­ren der Distink­ti­on« am Wir­ken, die der fran­zö­si­sche Sozio­lo­ge Pierre Bour­dieu in einem sei­ner wich­tigs­ten Wer­ke auf die For­mel »Fei­ne Unter­schie­de« brach­te. Die­je­ni­gen, die über gutes Beneh­men, Wis­sen und Bil­dungs­ti­tel ver­fü­gen, also über öko­no­mi­sches, sozia­les und kul­tu­rel­les Kapi­tal, kön­nen, ähn­lich wie die Besit­zer von Eigen­tum, auf einen grö­ße­ren Teil des gesell­schaft­lich her­vor­ge­brach­ten Kapi­tals zugrei­fen. Eben­so haben jene Vor­tei­le, die hohes sozia­les Kapi­tal (z.B. ein ein­fluß­rei­ches Netz­werk hoher sozia­ler Ver­pflich­tun­gen) besitzen.

Navi­di macht klar, war­um die Fähig­keit, in trans­na­tio­na­len Finanz­netz­wer­ken Bezie­hun­gen zu knüp­fen, in Zei­ten der Glo­ba­li­sie­rung mas­siv an Bedeu­tung gewon­nen hat. Ab einer bestimm­ten Kar­rie­re­stu­fe wer­de von Spit­zen­kräf­ten das »Vor­han­den­sein eines exzel­len­ten Netz­wer­kes« erwar­tet. Bezie­hungs­ka­pi­tal schaf­fe Netz­werk­ka­pi­tal, was die »Bezie­hungs­ren­di­te« erhöht. Aus dem »Ver­netzt­sein« ist im Zuge der Glo­ba­li­sie­rung eine geson­der­te Wett­be­werbs­ka­te­go­rie gewor­den, da die­se »einen Auf­wärts­druck auf Qua­li­tät und einen Abwärts­druck auf Prei­se« aus­übt, was es für Unter­neh­men schwie­ri­ger mache, ihre Pro­duk­te und Dienst­lei­tun­gen von Kon­kur­ren­ten abzu­he­ben. Mensch­li­che Bezie­hun­gen bekom­men in die­sem Kon­text eine stei­gen­de Bedeu­tung, weil sie das »Züng­lein an der Waa­ge« sein können.

Daß auch »Super-Hubs« nicht vor einem kom­plet­ten Netz­werk­zu­sam­men­bruch gefeit sind, zeigt Navi­di anhand des tie­fen Fal­les des ehe­ma­li­gen IWF-Chefs Domi­ni­que Strauss-Kahn, dem sexu­el­le Über­grif­fe zum Ver­häng­nis wur­den. Sein Fall ist ein schla­gen­der Beleg für Luh­manns oben genann­te The­se, daß das Netz »einen eige­nen Exklu­si­ons­me­cha­nis­mus« erzeu­ge, der bewir­ken kann, »daß man zur Unper­son wird«. Navi­di faßt die­ses Phä­no­men in ihre eige­nen Wor­te: Strauss-Kahn war »poli­tisch und per­sön­lich so toxisch gewor­den«, daß sich Groß­tei­le sei­nes per­sön­li­ches Netz­werk und schließ­lich auch sei­ne Ehe­frau »von ihm distanzierten«.

Offen indes bleibt bei Navi­di mit Blick auf Strauss-Kahn und ande­re Bei­spie­le die Fra­ge, inwie­weit das bei­spiel­lo­se Macht­po­ten­ti­al, mit der die Netz­wer­ke der Finanz­eli­ten die Geschi­cke der Welt beein­flus­sen, kor­rum­pie­re – ver­stan­den als Miß­brauch einer Macht­po­si­ti­on zum Erzie­len per­sön­li­cher Vor­tei­le. Ihr Vor­schlag näm­lich, die »Bevöl­ke­rung« sol­le Druck auf ihre Poli­ti­ker aus­üben, damit die­se wie­der­um »Druck auf die Super-Hubs« machen, nimmt sich vor dem Hin­ter­grund der Tat­sa­che, daß etli­che Poli­ti­ker ja mehr oder weni­ger Teil die­ser Netz­wer­ke sind, doch reich­lich naiv aus. Womög­lich bedarf es im Sin­ne des öster­rei­chi­schen Natio­nal­öko­no­men Joseph Schum­pe­ter doch wie­der einer »schöp­fe­ri­schen« oder »krea­ti­ven Zer­stö­rung«, die die bedroh­li­che Macht­ak­ku­mu­la­ti­on der trans­na­tio­na­len Finanz­eli­ten und ihrer »Super­Hubs« neu justiert.

Im Sin­ne Luh­manns könn­te sich die Gesell­schaft als umfas­sen­des Sys­tem dann neu aus­dif­fe­ren­zie­ren. Eine »schöp­fe­ri­sche Zer­stö­rung« wür­de auch das unter­strei­chen, was Luh­mann lako­nisch ein­mal in fol­gen­de Wor­te gefaßt hat: »Wir leben, wie man seit dem Erd­be­ben von Lis­sa­bon weiß, nicht in der bes­ten der mög­li­chen Wel­ten, son­dern in einer Welt vol­ler bes­se­rer Möglichkeiten.«

Michael Wiesberg

Michael Wiesberg ist Lektor und freier Publizist.

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