Wir mögen die Ereignisse der Kölner Silvesternacht ein Fanal nennen – Allgemeingut ist das nicht. Vier Beispiele verdeutlichen, daß man die »Sachlage« anders interpretieren kann. Womöglich (Denn: Ist die Debatte nicht rasch beendet worden? Durch einen »Abgas-Skandal«, durch Rechtspopulistenalarm?) sind diese Sichtweisen sogar die durchschlagenden – zumindest bis zur gerade erst beginnenden Freibadsaison.
Folgende Einlassungen stammen nicht von randständigen Einzelpersonen, sondern von Multiplikatoren. Aiman Mazyek, Vositzender des Zentralrats der Muslime, sprach Ende Januar abfällig von einer »Hysterie um die Silvesternacht in Köln«. Das neofeministische Neue-Medien-Sternchen Anne Wizorek (#aufschrei) schrieb: »Das Fatale an der Situation ist, daß wir nur auf sexualisierte Übergriffe von Männern mit Migrationshintergrund gucken. […] Wenn wir nur […] sie als alleinige Täter identifizieren, ist das eine rassistische Annahme.« Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski ätzte: »Überall werden nun aus besorgten Bürgern edle Ritter, die ›unsere‹ – also ›ihre‹ – Frauen beschützen wollen. Die eigenen Frauen will der gute Deutsche immer noch selbst belästigen dürfen. Und er ist fleißig dabei.« Und Topjournalist und Verleger Jakob Augstein fand: »Der Fremde und seine bedrohliche Sexualität – das ist das älteste Vorurteil des Rassismus.« Spöttisch hatte Augstein beizeiten getwittert: »Ein paar grapschende Ausländer und schon reißt bei uns [sic] Firnis der Zivilisation.«
Man kann also nicht behaupten, daß in Köln offenkundig und für jeden zutage getreten sei, was unsereins schon immer sagte: daß die Wertvorstellungen des Islam unvereinbar seien mit der kerneuropäischen Zivilisation, und daß hierbei die eingewanderten Männer das Problem seien. Jeder sieht, was er sehen will – bei manchem Zeitgenossen scheint die Augenbinde besonders fest gewickelt zu sein. Selbst die Urfeministin Alice Schwarzer, die seit Jahrzehnten vor der Gefahr des Islamismus warnt, hatte im Sinne der ungeschriebenen Täterverschleierungsgesetze (teils auch der geschriebenen, siehe Pressekodex, der die ethnische Herkunft der Täter nicht genannt sehen will) tagelang in dauernd aktualisierten Kommentaren »zu Köln« taktisch laviert. Sie war zunächst (man darf es »treudeutsch« nennen) davon ausgegangen, daß nur, wenn überhaupt, eine kleine Minderheit der Täter Flüchtlinge gewesen seien. »Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß jemand so dumm sein kann, auf Gastfreundschaft und Asyl zu hoffen – und sich dann so benimmt.« Sagt eine gerade nicht mainstreamförmige Journalistin mit 73jähriger Lebenserfahrung, sozialisiert in westeuropäischen Großstädten; eine, die in ihrer eigenen Zeitschrift (Emma) seit Jahrzehnten den frauenverachtenden Islam geißelt und unerbittliche Islamkritiker zu Wort kommen läßt! Aber eben auch eine, die die Hälfte ihres Lebens den schwerwiegenden Vorwurf abwehren muß, »Rassistin« zu sein. Die Fakten, schreibt Schwarzer nun in ihrem Sammelbändchen Der Schock. Die Silvesternacht von Köln (Köln 2016, 144 S., 7.99 €) hätten sie eines Besseren belehrt: Sämtliche der achtzig Tatverdächtigen (derer man habhaft werden konnte) seien Asylbewerber oder Illegale.
Es fällt schwer, an einen »Schock« zu glauben. Einerseits! Mit einem umgangssprachlichen »Schock« verbinden wir doch dies: Der Geschockte reißt die Augen auf, schlägt die Hände vor dem Mund zusammen; hervorgepreßter Leitspruch: »Das hätte ich von dem nie erwartet!« Schockiert sind wir über Ereignisse, die uns mit jäher Wucht überraschen. Unsereins wurde entsprechend von »Köln« nicht schockiert, nahm auch keinen Schockfaktor wahr.
Andererseits: Erstens mag es eine erkleckliche Zahl an Leuten geben (mit dem gewiß unschönen Neologismus »Gutmenschen« recht treffend charakterisiert), die »sowas« tatsächlich nicht für möglich hielten, und zwar aufgrund der soften Gefangenschaft in ihrem sozialen Milieu. In jenen urbanen gesellschaftlichen Subsystemen ist der Migrant ein aufstiegs- und anpassungswilliger Geflüchteter, dessen hergebrachte Sitten und Bräuche nur bereichernd auf die Aufnahmegesellschaft wirken können. Alice Schwarzer dürfte entgegen ihrer eigenen Aussage aber nicht zu jenem wohlstandsverdorbenen Juste milieu gehören. Bei ihr und zahlreichen anderen Kommentatoren dürfte zweitens zutreffen, was als Reaktion auf den Schock die Schockdefinition (»akute Belastungssituation«) von Wikipedia beschreibt: »In der Akutphase ist eine Betäubung der betroffenen Person auffällig. Sie scheint wichtige Aspekte der Situation nichtzu bemerken oder führt Handlungen durch, die unangebracht oder völlig sinnlos erscheinen (Wahrnehmungsstörung). […] Ausgeprägte Trauer kann sich mit Wut oder Aggression oder scheinbarer Teilnahmslosigkeit abwechseln.«
Also, nehmen wir ihnen die Schockiertheit ab und freuen uns über jene, die seither nicht in Teilnahmslosigkeit verfallen sind – die »Köln« nicht ad acta gelegt haben. In ihrem neuen Buch zitiert Schwarzer die pensionierte Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner, die schon in den frühen Abendstunden zu Silvester bemerkt hatte, daß die Situation außer Kontrolle war. Und die sich sicher ist, daß mit den Böllern und Raketen der Dom als Symbol des christlichen Abendlandes gemeint war. Schwarzer zitiert einen Polizisten, dem von den Delinquenten eine Respektlosigkeit entgegenschlug, wie er sie »in 29 Dienstjahren nicht erlebt« hatte. Sie erwähnt Haßtiraden gegen jene Frauen, die in Facebook-Gruppen ihre Erlebnisse auf dem Domplatz schilderten. Ihnen wurde vorgeworfen, mit ihrem »Gejammer« (»Bist ja nicht mal vergewaltigt worden!«) rassistische Vorurteile zu schüren.
Der Rassismusvorwurf erscheint auch in diesem Sammelband als erstaunliches Multifunktionsding: Man kann ihn als Keule zum Draufhämmern nutzen oder als stöckchenförmigen Vorwurf, Motto: »Spring drüber! Brav!« Artig wird von Schwarzer und den meisten Autoren zwischen Islam und Islamismus unterschieden. Allein Rita Breuer und Necla Kelek verzichten darauf. Breuer sagt gewohnt deutlich, daß es hierbei keine Trennschärfe gebe und »Islamismus« ohnehin niemals als Selbstbezeichnung fungiere. Kelek antwortet scharf auf den »Kulturalisierungs«-Vorwurf der linken Köln-Versteher: Er sei eine modische Variante des Rassismus-Verdachts und komme deshalb immer häufiger zusammen zur Anwendung, weil Rassismus, also Abwertung einer Ethnie, im öffentlichen Raum seit Jahrzehnten nicht existiert. Man dürfe »Köln nicht kulturalisieren? Das Gegenteil ist richtig: Die Moscheevereine und ihre Gefolgschaften sind es, die das Zusammenleben von Männern und Frauen islamisieren wollen«. Kelek erinnert daran, daß Erdogan wiederholt seinen »Deutschtürken« einschärfte, daß »Assimilation ein Verbrechen« sei.
Nun, Türken waren damals in Köln nicht in nennenswerter Zahl vertreten. Aber: Algerier. Auch der Algerier Kamel Daoud schreibt in Schwarzers Band. Für seinen Text wurde er von einer Riege französischer und arabischer Wissenschaftler der »Islamophobie« bezichtigt; eine Fatwa wurde bereits 2014 gegen ihn verhängt. Daouds Text ist ein Musterbeispiel dafür, daß die Stöckchenspringerei und die Keulenausweichversuche nicht weit führen. Zahnlos grenzt er sich gegen die »Phantasmen« und »Hirngespinste« der Rechten ab, einziger Grund: »Die haben die Fakten gar nicht erst abgewartet.« Und: »Ist der Flüchtling also etwa ein ›Wilder‹? Nein. Er ist nur anders.« Es reicht nicht, das Stöckchen zu überspringen, wenn man es gleich darauf mit Verve reißt. Das tut Daoud. Er spricht von »Gutmenschentum«, von einer »Überdosis Naivität« des Westens, die »im Flüchtling nur seinen Status, nicht aber seine Kultur« erkenne. »Der andere kommt aus dieser schmerzlichen unn schrecklichen Welt, mit all ihrer sexuellen Not in der arabisch-muslimischen Welt, mit diesem kranken Verhältnis zur Frau, zum Körper und zur Lust. Ihn aufzunehmen bedeutet nicht, ihn zu heilen.« Bassam Tibi ergänzt das Verhältnis des unintegrierten Moslems zur Frau um dasjenige zum deutschen Mann. In Köln sei zugleich ein Racheakt an deutschen Männern vollzogen worden: durch die Schandtaten an den Frauen sei absichtlich die Ehre der Männer beschmutzt worden. Schwarzer: »Ist die öffentliche Gewalt gegen Frauen jetzt aus Nordafrika und Nahost auf Europa übergeschwappt? War die Silvesternacht in Köln also ein politisches Signal? Und warum sagt das in Deutschland niemand?«
Naja. Es wurde durchaus gesagt, lange schon. Warum wollte es keiner hören? Weil jene, die es sagten, als rechts gelten. Warum gelten sie als rechts? Weil sie vor genau jener Gewalt warnten. Das ist paradox. Es ist zum Schwindeligwerden. Was man aber nie tun sollte: schwindeln. Auch nicht vor sich selbst. Auch nicht in bester Absicht! Die Schwarzer vermutet übrigens die deutsche Vergangenheit als Grund dafür, daß »Köln« verharmlost wird. In zweierlei Hinsicht. Einmal, weil wir aufgrund der nationalsozialistischen Erfahrungen heute mit den Fremden alles »unbedingt ganz richtig machen wollen«. Dann: Ob die traumatischen Erfahrungen der deutschen Mütter und Großmütter nach dem Krieg und das damalige Schweigegebot etwas mit dem jetzigen Vertuschen und Lieber-nicht-darüber-Reden zu tun haben? Schwarzer, Frühjahr 2016: »Eine gute Frage. Über die Antwort muß ich noch nachdenken.«