Schwarzers Silvester

PDF der Druckausgabe aus Sezession 72 / Juni 2016

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Wir mögen die Ereig­nis­se der Köl­ner Sil­ves­ter­nacht ein Fanal nen­nen – All­ge­mein­gut ist das nicht. Vier Bei­spie­le ver­deut­li­chen, daß man die »Sach­la­ge« anders inter­pre­tie­ren kann. Womög­lich (Denn: Ist die Debat­te nicht rasch been­det wor­den? Durch einen »Abgas-Skan­dal«, durch Rechts­po­pu­lis­ten­alarm?) sind die­se Sicht­wei­sen sogar die durch­schla­gen­den – zumin­dest bis zur gera­de erst begin­nen­den Freibadsaison.

Fol­gen­de Ein­las­sun­gen stam­men nicht von rand­stän­di­gen Ein­zel­per­so­nen, son­dern von Mul­ti­pli­ka­to­ren. Aiman Mazy­ek, Vosit­zen­der des Zen­tral­rats der Mus­li­me, sprach Ende Janu­ar abfäl­lig von einer »Hys­te­rie um die Sil­ves­ter­nacht in Köln«. Das neo­fe­mi­nis­ti­sche Neue-Medi­en-Stern­chen Anne Wiz­o­rek (#auf­schrei) schrieb: »Das Fata­le an der Situa­ti­on ist, daß wir nur auf sexua­li­sier­te Über­grif­fe von Män­nern mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund gucken. […] Wenn wir nur […] sie als allei­ni­ge Täter iden­ti­fi­zie­ren, ist das eine ras­sis­ti­sche Annah­me.« Spie­gel-Kolum­nis­tin Mar­ga­re­te Sto­kow­ski ätz­te: »Über­all wer­den nun aus besorg­ten Bür­gern edle Rit­ter, die ›unse­re‹ – also ›ihre‹ – Frau­en beschüt­zen wol­len. Die eige­nen Frau­en will der gute Deut­sche immer noch selbst beläs­ti­gen dür­fen. Und er ist flei­ßig dabei.« Und Top­jour­na­list und Ver­le­ger Jakob Aug­stein fand: »Der Frem­de und sei­ne bedroh­li­che Sexua­li­tät – das ist das ältes­te Vor­ur­teil des Ras­sis­mus.« Spöt­tisch hat­te Aug­stein bei­zei­ten get­wit­tert: »Ein paar grap­schen­de Aus­län­der und schon reißt bei uns [sic] Fir­nis der Zivilisation.«

Man kann also nicht behaup­ten, daß in Köln offen­kun­dig und für jeden zuta­ge getre­ten sei, was unser­eins schon immer sag­te: daß die Wert­vor­stel­lun­gen des Islam unver­ein­bar sei­en mit der kern­eu­ro­päi­schen Zivi­li­sa­ti­on, und daß hier­bei die ein­ge­wan­der­ten Män­ner das Pro­blem sei­en. Jeder sieht, was er sehen will – bei man­chem Zeit­ge­nos­sen scheint die Augen­bin­de beson­ders fest gewi­ckelt zu sein. Selbst die Urfe­mi­nis­tin Ali­ce Schwar­zer, die seit Jahr­zehn­ten vor der Gefahr des Isla­mis­mus warnt, hat­te im Sin­ne der unge­schrie­be­nen Täter­ver­schleie­rungs­ge­set­ze (teils auch der geschrie­be­nen, sie­he Pres­se­ko­dex, der die eth­ni­sche Her­kunft der Täter nicht genannt sehen will) tage­lang in dau­ernd aktua­li­sier­ten Kom­men­ta­ren »zu Köln« tak­tisch laviert. Sie war zunächst (man darf es »treu­deutsch« nen­nen) davon aus­ge­gan­gen, daß nur, wenn über­haupt, eine klei­ne Min­der­heit der Täter Flücht­lin­ge gewe­sen sei­en. »Ich konn­te mir ein­fach nicht vor­stel­len, daß jemand so dumm sein kann, auf Gast­freund­schaft und Asyl zu hof­fen – und sich dann so benimmt.« Sagt eine gera­de nicht main­stream­för­mi­ge Jour­na­lis­tin mit 73jähriger Lebens­er­fah­rung, sozia­li­siert in west­eu­ro­päi­schen Groß­städ­ten; eine, die in ihrer eige­nen Zeit­schrift (Emma) seit Jahr­zehn­ten den frau­en­ver­ach­ten­den Islam gei­ßelt und uner­bitt­li­che Islam­kri­ti­ker zu Wort kom­men läßt! Aber eben auch eine, die die Hälf­te ihres Lebens den schwer­wie­gen­den Vor­wurf abweh­ren muß, »Ras­sis­tin« zu sein. Die Fak­ten, schreibt Schwar­zer nun in ihrem Sam­mel­bänd­chen Der Schock. Die Sil­ves­ter­nacht von Köln (Köln 2016, 144 S., 7.99 €) hät­ten sie eines Bes­se­ren belehrt: Sämt­li­che der acht­zig Tat­ver­däch­ti­gen (derer man hab­haft wer­den konn­te) sei­en Asyl­be­wer­ber oder Illegale.

Es fällt schwer, an einen »Schock« zu glau­ben. Einer­seits! Mit einem umgangs­sprach­li­chen »Schock« ver­bin­den wir doch dies: Der Geschock­te reißt die Augen auf, schlägt die Hän­de vor dem Mund zusam­men; her­vor­ge­preß­ter Leit­spruch: »Das hät­te ich von dem nie erwar­tet!« Scho­ckiert sind wir über Ereig­nis­se, die uns mit jäher Wucht über­ra­schen. Unser­eins wur­de ent­spre­chend von »Köln« nicht scho­ckiert, nahm auch kei­nen Schock­fak­tor wahr.

Ande­rer­seits: Ers­tens mag es eine erkleck­li­che Zahl an Leu­ten geben (mit dem gewiß unschö­nen Neo­lo­gis­mus »Gut­men­schen« recht tref­fend cha­rak­te­ri­siert), die »sowas« tat­säch­lich nicht für mög­lich hiel­ten, und zwar auf­grund der sof­ten Gefan­gen­schaft in ihrem sozia­len Milieu. In jenen urba­nen gesell­schaft­li­chen Sub­sys­te­men ist der Migrant ein auf­stiegs- und anpas­sungs­wil­li­ger Geflüch­te­ter, des­sen her­ge­brach­te Sit­ten und Bräu­che nur berei­chernd auf die Auf­nah­me­ge­sell­schaft wir­ken kön­nen. Ali­ce Schwar­zer dürf­te ent­ge­gen ihrer eige­nen Aus­sa­ge aber nicht zu jenem wohl­stands­ver­dor­be­nen Juste milieu gehö­ren. Bei ihr und zahl­rei­chen ande­ren Kom­men­ta­to­ren dürf­te zwei­tens zutref­fen, was als Reak­ti­on auf den Schock die Schock­de­fi­ni­ti­on (»aku­te Belas­tungs­si­tua­ti­on«) von Wiki­pe­dia beschreibt: »In der Akut­pha­se ist eine Betäu­bung der betrof­fe­nen Per­son auf­fäl­lig. Sie scheint wich­ti­ge Aspek­te der Situa­ti­on nicht­zu bemer­ken oder führt Hand­lun­gen durch, die unan­ge­bracht oder völ­lig sinn­los erschei­nen (Wahr­neh­mungs­stö­rung). […] Aus­ge­präg­te Trau­er kann sich mit Wut oder Aggres­si­on oder schein­ba­rer Teil­nahms­lo­sig­keit abwechseln.«

Also, neh­men wir ihnen die Scho­ckiert­heit ab und freu­en uns über jene, die seit­her nicht in Teil­nahms­lo­sig­keit ver­fal­len sind – die »Köln« nicht ad acta gelegt haben. In ihrem neu­en Buch zitiert Schwar­zer die pen­sio­nier­te Dom­bau­meis­te­rin Bar­ba­ra Schock-Wer­ner, die schon in den frü­hen Abend­stun­den zu Sil­ves­ter bemerkt hat­te, daß die Situa­ti­on außer Kon­trol­le war. Und die sich sicher ist, daß mit den Böl­lern und Rake­ten der Dom als Sym­bol des christ­li­chen Abend­lan­des gemeint war. Schwar­zer zitiert einen Poli­zis­ten, dem von den Delin­quen­ten eine Respekt­lo­sig­keit ent­ge­gen­schlug, wie er sie »in 29 Dienst­jah­ren nicht erlebt« hat­te. Sie erwähnt Haß­ti­ra­den gegen jene Frau­en, die in Face­book-Grup­pen ihre Erleb­nis­se auf dem Dom­platz schil­der­ten. Ihnen wur­de vor­ge­wor­fen, mit ihrem »Gejam­mer« (»Bist ja nicht mal ver­ge­wal­tigt wor­den!«) ras­sis­ti­sche Vor­ur­tei­le zu schüren.

Der Ras­sis­mus­vor­wurf erscheint auch in die­sem Sam­mel­band als erstaun­li­ches Mul­ti­funk­ti­ons­ding: Man kann ihn als Keu­le zum Drauf­häm­mern nut­zen oder als stöck­chen­för­mi­gen Vor­wurf, Mot­to: »Spring drü­ber! Brav!« Artig wird von Schwar­zer und den meis­ten Autoren zwi­schen Islam und Isla­mis­mus unter­schie­den. Allein Rita Breu­er und Necla Kelek ver­zich­ten dar­auf. Breu­er sagt gewohnt deut­lich, daß es hier­bei kei­ne Trenn­schär­fe gebe und »Isla­mis­mus« ohne­hin nie­mals als Selbst­be­zeich­nung fun­gie­re. Kelek ant­wor­tet scharf auf den »Kulturalisierungs«-Vorwurf der lin­ken Köln-Ver­ste­her: Er sei eine modi­sche Vari­an­te des Ras­sis­mus-Ver­dachts und kom­me des­halb immer häu­fi­ger zusam­men zur Anwen­dung, weil Ras­sis­mus, also Abwer­tung einer Eth­nie, im öffent­li­chen Raum seit Jahr­zehn­ten nicht exis­tiert. Man dür­fe »Köln nicht kul­tu­ra­li­sie­ren? Das Gegen­teil ist rich­tig: Die Moschee­ver­ei­ne und ihre Gefolg­schaf­ten sind es, die das Zusam­men­le­ben von Män­nern und Frau­en isla­mi­sie­ren wol­len«. Kelek erin­nert dar­an, daß Erdo­gan wie­der­holt sei­nen »Deutsch­tür­ken« ein­schärf­te, daß »Assi­mi­la­ti­on ein Ver­bre­chen« sei.

Nun, Tür­ken waren damals in Köln nicht in nen­nens­wer­ter Zahl ver­tre­ten. Aber: Alge­ri­er. Auch der Alge­ri­er Kamel Daoud schreibt in Schwar­zers Band. Für sei­nen Text wur­de er von einer Rie­ge fran­zö­si­scher und ara­bi­scher Wis­sen­schaft­ler der »Isla­mo­pho­bie« bezich­tigt; eine Fat­wa wur­de bereits 2014 gegen ihn ver­hängt. Daouds Text ist ein Mus­ter­bei­spiel dafür, daß die Stöck­chen­sprin­ge­rei und die Keu­len­aus­weich­ver­su­che nicht weit füh­ren. Zahn­los grenzt er sich gegen die »Phan­tas­men« und »Hirn­ge­spins­te« der Rech­ten ab, ein­zi­ger Grund: »Die haben die Fak­ten gar nicht erst abge­war­tet.« Und: »Ist der Flücht­ling also etwa ein ›Wil­der‹? Nein. Er ist nur anders.« Es reicht nicht, das Stöck­chen zu über­sprin­gen, wenn man es gleich dar­auf mit Ver­ve reißt. Das tut Daoud. Er spricht von »Gut­men­schen­tum«, von einer »Über­do­sis Nai­vi­tät« des Wes­tens, die »im Flücht­ling nur sei­nen Sta­tus, nicht aber sei­ne Kul­tur« erken­ne. »Der ande­re kommt aus die­ser schmerz­li­chen unn schreck­li­chen Welt, mit all ihrer sexu­el­len Not in der ara­bisch-mus­li­mi­schen Welt, mit die­sem kran­ken Ver­hält­nis zur Frau, zum Kör­per und zur Lust. Ihn auf­zu­neh­men bedeu­tet nicht, ihn zu hei­len.« Bassam Tibi ergänzt das Ver­hält­nis des unin­te­grier­ten Mos­lems zur Frau um das­je­ni­ge zum deut­schen Mann. In Köln sei zugleich ein Rache­akt an deut­schen Män­nern voll­zo­gen wor­den: durch die Schand­ta­ten an den Frau­en sei absicht­lich die Ehre der Män­ner beschmutzt wor­den. Schwar­zer: »Ist die öffent­li­che Gewalt gegen Frau­en jetzt aus Nord­afri­ka und Nah­ost auf Euro­pa über­ge­schwappt? War die Sil­ves­ter­nacht in Köln also ein poli­ti­sches Signal? Und war­um sagt das in Deutsch­land niemand?«

Naja. Es wur­de durch­aus gesagt, lan­ge schon. War­um woll­te es kei­ner hören? Weil jene, die es sag­ten, als rechts gel­ten. War­um gel­ten sie als rechts? Weil sie vor genau jener Gewalt warn­ten. Das ist para­dox. Es ist zum Schwin­de­lig­wer­den. Was man aber nie tun soll­te: schwin­deln. Auch nicht vor sich selbst. Auch nicht in bes­ter Absicht! Die Schwar­zer ver­mu­tet übri­gens die deut­sche Ver­gan­gen­heit als Grund dafür, daß »Köln« ver­harm­lost wird. In zwei­er­lei Hin­sicht. Ein­mal, weil wir auf­grund der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Erfah­run­gen heu­te mit den Frem­den alles »unbe­dingt ganz rich­tig machen wol­len«. Dann: Ob die trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen der deut­schen Müt­ter und Groß­müt­ter nach dem Krieg und das dama­li­ge Schwei­ge­ge­bot etwas mit dem jet­zi­gen Ver­tu­schen und Lie­ber-nicht-dar­über-Reden zu tun haben? Schwar­zer, Früh­jahr 2016: »Eine gute Fra­ge. Über die Ant­wort muß ich noch nachdenken.«

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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