Ach, Deutschland!

PDF der Druckfassung aus Sezession 73 / August 2016

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Begin­nen wir mit dem unsicht­ba­ren Bild­hin­ter­grund: Ein leer­ste­hen­des Gebäu­de in der Riga­er Stra­ße 94, Ber­lin, Bezirk Fried­richs­hain, ist bereits vor über 26 Jah­ren besetzt wor­den. Seit­her wur­de es abwech­selnd »geräumt«, saniert, wie­der besetzt, geräumt und­so­wei­ter. Nach der Stür­mung die­ser links­ra­di­ka­len Hoch­burg durch das SEK anno 2013 (gefun­den wur­de Sta­chel­draht, Brand­sät­ze und der­glei­chen) und nach Häu­fung »poli­tisch moti­vier­ter Gewalt­ta­ten« galt die Riga­er Stra­ße der Poli­zei als »kri­mi­na­li­täts­be­las­te­ter Ort«.

Spä­tes­tens seit Janu­ar 2016 steht Ber­lins Innen­se­na­tor Frank Hen­kel (CDU) unter Druck. Damals hat­te er einen Groß­ein­satz der Poli­zei auf dem Gelän­de des besetz­ten Hau­ses gerecht­fer­tigt. Am 22. Juni 2016 wur­den dann Tei­le der Riga­er Stra­ße 94 geräumt, vor allem die exklu­si­ve, also nicht öffent­lich zugäng­li­che Sze­ne­knei­pe »Kadt­er­schmie­de«. An einer Soli­da­ri­täts­de­mons­tra­ti­on gegen die Räu­mung betei­lig­ten sich am 9. Juli rund 3500 Sym­pa­thi­san­ten der links­ra­di­ka­len Sze­ne. Nach Ein­schät­zung der Poli­zei ent­stand dar­aus die aggres­sivs­te und gewalt­tä­tigs­te Demons­tra­ti­on der zurück­lie­gen­den fünf Jah­re in Ber­lin: 123 Poli­zis­ten wur­den dabei verletzt.

Das Ber­li­ner Land­ge­richt ließ am 13. Juli durch Rich­te­rin Nico­la Herbst erklä­ren, daß die Räu­mung des extre­mis­ti­schen Sze­ne­treff­punkts aus for­ma­len Grün­den rechts­wid­rig gewe­sen sei: Unter ande­rem war kein Ver­fah­rens­be­tei­lig­ter zur Ver­hand­lung erschie­nen. Der Ber­li­ner Anwalt der Lon­do­ner Eigen­tü­mer­ge­sell­schaft begrün­de­te sein Feh­len damit, daß in der Vor­nacht ein Auto vor sei­nem Haus in Brand gesteckt und völ­lig zer­stört wor­den sei und daß im Vor­feld bereits sein eige­nes Auto und sein Wohn­haus atta­ckiert wor­den waren. Im Rah­men von »Riga­er 94« sind in Ber­lin Ende Juni, Anfang Juli rund 50 Kraft­fahr­zeu­ge »aus Pro­test« ange­zün­det wor­den. Die Front der Mit­kämp­fer for­mier­te sich über­re­gio­nal. Auf dem links­extre­men Sze­ne­por­tal Indy­me­dia bekann­te man: »Auch in Kas­sel wird Soli­da­ri­tät gezeigt: In der Nacht zum Mon­tag, 5.7.2016, wur­den sowohl in der Süd­stadt als auch im Vor­de­ren Wes­ten zwei Luxus­wa­gen angezündet.«

Nach dem Land­ge­richts­ur­teil waren es zwei mas­kier­te Ver­tre­ter des lin­ken Ver­eins »Freun­de der Kadt­er­schmie­de«, die in Ber­lin vor der Pres­se und Anwoh­nern eine Erklä­rung ver­la­sen: »Der Ein­bruch der Poli­zei erfolg­te ohne Rechts­grund­la­ge, das war uns von vorn­her­ein klar.« Man freue sich über die Nie­der­la­ge des »rech­ten Het­zers Hen­kel«. Nun – was sehen wir auf dem Pho­to vom 13. Juli 2016, dem Tag des Zwi­schen­siegs der gewalt­be­rei­ten und ‑täti­gen Linksextremisten?

Wir sehen vier Män­ner. Der im Vor­der­grund zeigt Zäh­ne. Es sind schö­ne Zäh­ne. Artig ste­hen sie da, weiß, in Reih und Glied, mus­ter­gül­tig. Kei­ner fehlt, kei­ner drängt sich vor, alle sind sie vor­han­den, gut gepflegt. In die­sem Alter (der Gebiß­in­ha­ber dürf­te um die vier­zig sein, im unge­kämm­ten Haar zeich­nen sich graue Strol­che ab) wür­de sich eine miß­li­che Gene­tik bereits deut­lich zei­gen. Aber nein! Hier ist alles tip­top. Nun ist der Zahn­zu­stand eines der kör­per­li­chen Merk­ma­le, die sel­ten mit dem psy­chi­schen Zustand des Men­schen asso­zi­iert wer­den. Wir wis­sen wenig über die­sen Mann. Er hält – Prä­sen­ta­ti­ons­ges­te – eine offen­kun­dig geleer­te und irgend­wie besu­del­te (ver­mut­lich vor Freu­de über­ge­schäum­te) Sekt­fla­sche »Hen­kell Tro­cken« in die Kame­ra. Das zwei­te »l« des Mar­ken­na­mens ist zum »Anarchisten‑A« ergänzt wor­den, die­ses Zei­chen ist seit dem Spa­ni­schen Bür­ger­krieg (1936–39) popu­lär. Das linksan­ar­chis­ti­sche »A im Kreis« wird übri­gens seit zwei­ein­halb Jahr­zehn­ten von allen benutzt, die gele­gent­lich eine Email (@) versenden.

Die infan­ti­le Mes­sa­ge on a bot­t­le soll­te klar sein: »Hal­lo, Hen­kel, merkst du’s noch? Gesetz­lo­sig­keit rules!« Was gibt uns der Fla­schen­hal­ter außer­dem preis? Er trägt ein gestreif­tes Schlaf­an­zug­ober­teil, ver­mut­lich Frot­tee. Der­ar­ti­ges zählt gera­de nicht zu den Insi­gni­en einer urba­nen Cool­ness, es hat eher Retro­charak­ter. Wer trägt heu­te Frot­tee? Wer Ober­tei­le mit Bünd­chen? Ohne Kapu­ze? Ohne­hin ist klar, daß unser Fla­schen­hal­ter kei­ne Äußer­lich­kei­ten feti­schi­siert. Er brennt von innen. Wel­che Span­nung! Anspan­nung, Über­span­nung! Die Hän­de: Hal­tung und Ges­te einer Bal­le­ri­na! Gestreckt, gespannt! Das Gesicht! Es heißt, man brau­che 54 Mus­keln, um ein böses Gesicht zu machen, aber nur 45, um zu lächeln. Die­ser Mensch hier gebraucht zwi­schen Stirn und Kinn geschätzt 123 Mus­keln, um eine Gri­mas­se des äußers­ten Tri­umphs zu per­for­men. Wir sehen nicht das gelas­se­ne Schmun­zeln eines Sie­gers, son­dern die Kämp­fer­f­rat­ze nach einem Zwi­schen­tref­fer: Gesichts­nach­rich­ten aus der Endorphinküche.

Mein Sei­ten­blick gilt dem läs­si­gen Kom­bat­tan­ten im Hin­ter­grund. Er trägt eine Bas­ken­müt­ze, eine der ange­sag­ten Bart­for­men (Schif­fer­krau­se oder Anchor?). Läs­sig wirkt hier eigent­lich alles, die Hän­de in den Taschen der knie­lan­gen Hose, der Sitz des Gür­tels, der Fall des wei­ßen Shirts unter­halb der offe­nen Jacke. Die seh­ni­gen Waden ste­cken strumpflos in out­door­taug­li­chen Tre­tern. Allein die schar­fen Naso­la­bi­al­fal­ten und die pes­si­mis­ti­sche Blick­hal­tung des Her­um­ste­hers las­sen auf eine gewis­se Aus­weg­lo­sig­keit schlie­ßen, auf ein Aus­ge­kämpft­sein. Viel­leicht ist es ein Luft­ho­len? Oder nur ein pein­lich berühr­tes Zu-Boden-Schau­en ange­sichts des aus­flip­pen­den Sek­tfla­schen­freun­des? Wir ken­nen auch die­sen Men­schen nicht. Buen­a­ven­tura Dur­ru­ti, jener spa­ni­sche Syn­di­ka­list, ist ja schon lan­ge tot, San­te Gero­ni­mo Case­rio, der ita­lie­ni­sche Anar­chist, noch län­ger; der Typ hier muß ein Wie­der­gän­ger sein.

Kom­men wir zu den bei­den Poli­zis­ten. Sie ste­hen hin­ter dem exal­tier­ten Fla­schen­typ und vor dem gemut­maß­ten Syn­di­ka­lis­ten. Einer ist blond und geschei­telt, der ande­re kurz­ge­lockt, dunk­le­res Haar. Der Blon­de ist etwas feis­ter, er trägt Bart. Sein Blick geht nach rechts, sei­ne Mie­ne wirkt gefaßt. Fast ist es, als läch­le er. Blick nach rechts, gemäß Küchen­psy­cho­lo­gie: Ein »Kör­per­ge­fühl« wird visua­li­siert. Was visua­li­siert unser blon­der Freund und Hel­fer genau? Eine Sze­ne­rie des Ein­grei­fens, Zugrei­fens? Sein Kinn hat er leicht erho­ben, das läßt ihn hoff­nungs­froh wir­ken. Er sieht etwas, das wir nicht sehen. Nun zum vier­ten Mann, von dem der Chef­re­dak­teur die­ser Zeit­schrift auf den ers­ten Blick mein­te: eine Frau! Nein, ich glau­be an den Mann. So ist unse­re Zeit. Mich berührt die­ser Mensch von allen vie­ren im Bil­de am meis­ten. Die­se Hand­hal­tung, die­se Kla­vier­fin­ger, die­se Melan­cho­lie. Die­ser Blick, nach links, unten: See­le, inne­rer Dia­log. Woher ken­ne ich ihn? Zunächst dach­te ich: Klar, das ist einer aus dem prä­raf­fae­li­ti­schen Per­so­nen­kreis! Die eng­li­schen Roman­ti­ker der vik­to­ria­ni­schen Zeit! Es ist viel­leicht der »Wachen­de« aus dem Bild Die Schla­fen­den und der eine Wachen­de von Sime­on Solo­mon, 1870! Aber nein, es gibt eine grö­ße­re Ähn­lich­keit. Sie betrifft die eng­li­sche Pop­ka­pel­le Tears for Fears, man wird sich wohl erin­nern. Die­ser schwer­mü­tig drein­bli­cken­de Poli­zist ist ein Dop­pel­gän­ger von Curt Smith, des­sen Kom­pa­gnon Roland Orzabal einst die trau­rigs­te Hym­ne der acht­zi­ger Jah­re des ver­flos­se­nen Jahr­hun­derts kom­po­nier­te und dich­te­te. Wie sehr und nach­hal­tig »Mad World« den Nerv der Zeit traf, konn­te man auch dar­an able­sen, daß eine Wie­der­auf­nah­me des Lie­des 2003 erneut ein Rie­sen­er­folg war. Das Video dazu ist hun­dert Mil­lio­nen Male auf­ge­ru­fen wor­den. Ich wet­te, der Poli­zis­ten­mensch links im Bild hört im Inne­ren die­sen abwe­sen­den Soundtrack.

All around me are fami­li­ar faces
Worn out places, worn out faces
Bright and ear­ly for their dai­ly races
Going nowhe­re, going nowhere
Their tears are flling up their glasses
No expres­si­on, no expression
Hide my head I want to drown my sorrow
No tomor­row, no tomorrow
And I find it kind of funny
I find it kind of sad
The dreams in which I’m dying
Are the best I’ve ever had.

Irre ist nicht der Ver­rück­te, son­dern die Umstän­de, die ihn dazu machen. Es geht auch kurz und deutsch. Hart­mann von Aue, um 1200, Iwein:

dô wart sîn riuwe alsô grôz
daz im in daz hir­ne schôz.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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