Beginnen wir mit dem unsichtbaren Bildhintergrund: Ein leerstehendes Gebäude in der Rigaer Straße 94, Berlin, Bezirk Friedrichshain, ist bereits vor über 26 Jahren besetzt worden. Seither wurde es abwechselnd »geräumt«, saniert, wieder besetzt, geräumt undsoweiter. Nach der Stürmung dieser linksradikalen Hochburg durch das SEK anno 2013 (gefunden wurde Stacheldraht, Brandsätze und dergleichen) und nach Häufung »politisch motivierter Gewalttaten« galt die Rigaer Straße der Polizei als »kriminalitätsbelasteter Ort«.
Spätestens seit Januar 2016 steht Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) unter Druck. Damals hatte er einen Großeinsatz der Polizei auf dem Gelände des besetzten Hauses gerechtfertigt. Am 22. Juni 2016 wurden dann Teile der Rigaer Straße 94 geräumt, vor allem die exklusive, also nicht öffentlich zugängliche Szenekneipe »Kadterschmiede«. An einer Solidaritätsdemonstration gegen die Räumung beteiligten sich am 9. Juli rund 3500 Sympathisanten der linksradikalen Szene. Nach Einschätzung der Polizei entstand daraus die aggressivste und gewalttätigste Demonstration der zurückliegenden fünf Jahre in Berlin: 123 Polizisten wurden dabei verletzt.
Das Berliner Landgericht ließ am 13. Juli durch Richterin Nicola Herbst erklären, daß die Räumung des extremistischen Szenetreffpunkts aus formalen Gründen rechtswidrig gewesen sei: Unter anderem war kein Verfahrensbeteiligter zur Verhandlung erschienen. Der Berliner Anwalt der Londoner Eigentümergesellschaft begründete sein Fehlen damit, daß in der Vornacht ein Auto vor seinem Haus in Brand gesteckt und völlig zerstört worden sei und daß im Vorfeld bereits sein eigenes Auto und sein Wohnhaus attackiert worden waren. Im Rahmen von »Rigaer 94« sind in Berlin Ende Juni, Anfang Juli rund 50 Kraftfahrzeuge »aus Protest« angezündet worden. Die Front der Mitkämpfer formierte sich überregional. Auf dem linksextremen Szeneportal Indymedia bekannte man: »Auch in Kassel wird Solidarität gezeigt: In der Nacht zum Montag, 5.7.2016, wurden sowohl in der Südstadt als auch im Vorderen Westen zwei Luxuswagen angezündet.«
Nach dem Landgerichtsurteil waren es zwei maskierte Vertreter des linken Vereins »Freunde der Kadterschmiede«, die in Berlin vor der Presse und Anwohnern eine Erklärung verlasen: »Der Einbruch der Polizei erfolgte ohne Rechtsgrundlage, das war uns von vornherein klar.« Man freue sich über die Niederlage des »rechten Hetzers Henkel«. Nun – was sehen wir auf dem Photo vom 13. Juli 2016, dem Tag des Zwischensiegs der gewaltbereiten und ‑tätigen Linksextremisten?
Wir sehen vier Männer. Der im Vordergrund zeigt Zähne. Es sind schöne Zähne. Artig stehen sie da, weiß, in Reih und Glied, mustergültig. Keiner fehlt, keiner drängt sich vor, alle sind sie vorhanden, gut gepflegt. In diesem Alter (der Gebißinhaber dürfte um die vierzig sein, im ungekämmten Haar zeichnen sich graue Strolche ab) würde sich eine mißliche Genetik bereits deutlich zeigen. Aber nein! Hier ist alles tiptop. Nun ist der Zahnzustand eines der körperlichen Merkmale, die selten mit dem psychischen Zustand des Menschen assoziiert werden. Wir wissen wenig über diesen Mann. Er hält – Präsentationsgeste – eine offenkundig geleerte und irgendwie besudelte (vermutlich vor Freude übergeschäumte) Sektflasche »Henkell Trocken« in die Kamera. Das zweite »l« des Markennamens ist zum »Anarchisten‑A« ergänzt worden, dieses Zeichen ist seit dem Spanischen Bürgerkrieg (1936–39) populär. Das linksanarchistische »A im Kreis« wird übrigens seit zweieinhalb Jahrzehnten von allen benutzt, die gelegentlich eine Email (@) versenden.
Die infantile Message on a bottle sollte klar sein: »Hallo, Henkel, merkst du’s noch? Gesetzlosigkeit rules!« Was gibt uns der Flaschenhalter außerdem preis? Er trägt ein gestreiftes Schlafanzugoberteil, vermutlich Frottee. Derartiges zählt gerade nicht zu den Insignien einer urbanen Coolness, es hat eher Retrocharakter. Wer trägt heute Frottee? Wer Oberteile mit Bündchen? Ohne Kapuze? Ohnehin ist klar, daß unser Flaschenhalter keine Äußerlichkeiten fetischisiert. Er brennt von innen. Welche Spannung! Anspannung, Überspannung! Die Hände: Haltung und Geste einer Ballerina! Gestreckt, gespannt! Das Gesicht! Es heißt, man brauche 54 Muskeln, um ein böses Gesicht zu machen, aber nur 45, um zu lächeln. Dieser Mensch hier gebraucht zwischen Stirn und Kinn geschätzt 123 Muskeln, um eine Grimasse des äußersten Triumphs zu performen. Wir sehen nicht das gelassene Schmunzeln eines Siegers, sondern die Kämpferfratze nach einem Zwischentreffer: Gesichtsnachrichten aus der Endorphinküche.
Mein Seitenblick gilt dem lässigen Kombattanten im Hintergrund. Er trägt eine Baskenmütze, eine der angesagten Bartformen (Schifferkrause oder Anchor?). Lässig wirkt hier eigentlich alles, die Hände in den Taschen der knielangen Hose, der Sitz des Gürtels, der Fall des weißen Shirts unterhalb der offenen Jacke. Die sehnigen Waden stecken strumpflos in outdoortauglichen Tretern. Allein die scharfen Nasolabialfalten und die pessimistische Blickhaltung des Herumstehers lassen auf eine gewisse Ausweglosigkeit schließen, auf ein Ausgekämpftsein. Vielleicht ist es ein Luftholen? Oder nur ein peinlich berührtes Zu-Boden-Schauen angesichts des ausflippenden Sektflaschenfreundes? Wir kennen auch diesen Menschen nicht. Buenaventura Durruti, jener spanische Syndikalist, ist ja schon lange tot, Sante Geronimo Caserio, der italienische Anarchist, noch länger; der Typ hier muß ein Wiedergänger sein.
Kommen wir zu den beiden Polizisten. Sie stehen hinter dem exaltierten Flaschentyp und vor dem gemutmaßten Syndikalisten. Einer ist blond und gescheitelt, der andere kurzgelockt, dunkleres Haar. Der Blonde ist etwas feister, er trägt Bart. Sein Blick geht nach rechts, seine Miene wirkt gefaßt. Fast ist es, als lächle er. Blick nach rechts, gemäß Küchenpsychologie: Ein »Körpergefühl« wird visualisiert. Was visualisiert unser blonder Freund und Helfer genau? Eine Szenerie des Eingreifens, Zugreifens? Sein Kinn hat er leicht erhoben, das läßt ihn hoffnungsfroh wirken. Er sieht etwas, das wir nicht sehen. Nun zum vierten Mann, von dem der Chefredakteur dieser Zeitschrift auf den ersten Blick meinte: eine Frau! Nein, ich glaube an den Mann. So ist unsere Zeit. Mich berührt dieser Mensch von allen vieren im Bilde am meisten. Diese Handhaltung, diese Klavierfinger, diese Melancholie. Dieser Blick, nach links, unten: Seele, innerer Dialog. Woher kenne ich ihn? Zunächst dachte ich: Klar, das ist einer aus dem präraffaelitischen Personenkreis! Die englischen Romantiker der viktorianischen Zeit! Es ist vielleicht der »Wachende« aus dem Bild Die Schlafenden und der eine Wachende von Simeon Solomon, 1870! Aber nein, es gibt eine größere Ähnlichkeit. Sie betrifft die englische Popkapelle Tears for Fears, man wird sich wohl erinnern. Dieser schwermütig dreinblickende Polizist ist ein Doppelgänger von Curt Smith, dessen Kompagnon Roland Orzabal einst die traurigste Hymne der achtziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts komponierte und dichtete. Wie sehr und nachhaltig »Mad World« den Nerv der Zeit traf, konnte man auch daran ablesen, daß eine Wiederaufnahme des Liedes 2003 erneut ein Riesenerfolg war. Das Video dazu ist hundert Millionen Male aufgerufen worden. Ich wette, der Polizistenmensch links im Bild hört im Inneren diesen abwesenden Soundtrack.
All around me are familiar faces
Worn out places, worn out faces
Bright and early for their daily races
Going nowhere, going nowhere
Their tears are flling up their glasses
No expression, no expression
Hide my head I want to drown my sorrow
No tomorrow, no tomorrow
And I find it kind of funny
I find it kind of sad
The dreams in which I’m dying
Are the best I’ve ever had.
Irre ist nicht der Verrückte, sondern die Umstände, die ihn dazu machen. Es geht auch kurz und deutsch. Hartmann von Aue, um 1200, Iwein:
dô wart sîn riuwe alsô grôz
daz im in daz hirne schôz.