im berühmtesten Gefängnis Nordirlands, im Maze, beiwohnte, wo er 1975 wegen illegalen Waffenbesitzes eingeliefert worden war. In diesem legendären Gefängnis waren seinerzeit, auch im Jugendtrakt H‑Block 2, katholisch-republikanische Untergrundkämpfer der IRA gemeinsam mit gewaltbereiten protestantischen Loyalisten untergebracht. Als Wright entlassen werden sollte, stand er einen Augenblick lang neben einem republikanischen Häftling, der einzig in ein Bettlaken gehüllt, einen bestialischen Körpergeruch absonderte, da er sich über ein Jahr lang nicht mehr gewaschen hatte. Dieser Häftling befand sich mit anderen IRA-Insassen im sogenannten »Blanket-Protest«, einer Art Wäsche- und Hygiene-Streik, der u.a. mit der Weigerung, normale Haftkleidung zu tragen, die britische Regierung nötigen sollte, den IRA-Kämpfern den Status von politischen Gefangenen erneut zuzuerkennen. Der Blanket-Protest war der Vorläufer des großen Hungerstreiks des Jahres 1981, bei dem Bobby Sands stellvertretend für seine Kampfgefährten zur republikanischen Ikone wurde.
Billy Wright, der Jahre später unter dem ungeliebten Spitznamen »King Rat« bis zu seiner Ermordung 1997 zu einem ebenso charismatischen wie berüchtigten Anführer der paramilitärischen, loyalistischen UDF (später der Splittergruppe LVF) wurde, sagte über dieses Erlebnis, daß ihm damals schlagartig klargeworden sei, daß eine Bewegung, die fähig war, ihren Mitgliedern diesen Grad an Gewalt gegen die eigene Person abzuverlangen, zu weit größerer Gewalt gegen andere in der Lage wäre. Die Konsequenz hieß für Billy Wright, der sich als evangelikaler »Born-again-Christ« verstand und in seiner Kindheit auch Katholiken zu seinen Bekannten gezählt hatte, erbarmungslose Gegenwehr.
Diese Momentaufnahme aus den nordirischen »Troubles« ist mehr als eine eindrucksvolle Reminiszenz an einen offiziell beendeten Konflikt an der nordwestlichen Ecke Europas, der vielen außerhalb Großbritanniens stets unverständlich blieb. Sie steht, Zeiten und Länder übergreifend, für einen Modus des revolutionären Kampfes, der bei der eigenen Person ansetzt und dem man heute im militanten Salafismus mit seinen Selbstmordkommandos wiederbegegnet. Die Adressaten solcher Aktionen, die westlichen Toleranzgesellschaften, sollten sich angesichts dieses Gegners zu einem grundlegenden Mentalitätswandel durchringen, der ohnehin in nicht allzu ferner Zukunft von selbst eintreten wird.
Wenn im folgenden der Nordirlandkonflikt schlaglichtartig unter protestantisch-loyalistischem Blickwinkel besichtigt wird, so geschieht dies nicht aufgrund von Sympathien für ihre Sache, auch nicht, um gegenüber der publizistischen Darstellungsflut der IRA den römischen Grundsatz »audiatur et altera pars« zur Geltung zu bringen, sondern ausschließlich, um Lehren und Ausblicke für ein mögliches Szenario in der Bundesrepublik zu gewinnen. Dies um so mehr, als daß gerade der protestantische Standpunkt, seine gefühlten wie tatsächlichen Erosionen im Fortgang des Konflikts, zu Vergleichen anregt für das, was dem Bewußtsein der deutschen Stammbevölkerung noch droht.
Die Geschichte der protestantischen Dominanz Nordirlands (sowie der Gesamtinsel) ist die Geschichte eines Abstiegs von selbstgewisser Vorherrschaft zu Überlebensängsten einer zusammengedrängten Herde. Viele von ihnen sehen sich als die Verlierer des Karfreitagsabkommens von 1998, auch wenn die Union mit Großbritannien bewahrt werden konnte. Die Aussicht, von einer zukünftigen katholischen Mehrheit in der Provinz per Volksabstimmung doch noch in die Republik Irland überführt zu werden, wie es das Abkommen als grundsätzliche Möglichkeit einräumt, läßt die uralten Ängste vor einem »papistisch-römischen Imperium« wieder aufleben. Gleichzeitig tritt die schon länger andauernde Phase der schleichenden Entfremdung vom britischen Mutterland in das neue Stadium einer regelrechten Identitätskrise. Bei all dem steht die Demographie nicht auf protestantischer Seite. 2011 erklärten sich 48 Prozent der Nordiren für protestantisch und bereits 45 Prozent für katholisch. Letztere weisen eine kontinuierlich steigende Tendenz auf.
Dies war in der Provinz Ulster, wie Nordirland auf protestantisch heißt (republikanische Katholiken sprechen meist nur von »North« oder pejorativ vom »Orange State«), nicht immer so. Die protestantische Präsenz dort ist das Ergebnis einer Ansiedlung anglo-schottischer Farmer, die ab dem frühen 17. Jahrhundert den Charakter einer englisch gelenkten Religionspolitik annahm. Gerade in der Epoche der englischen Konfessionswirren mit abwechselnd protestantischen und katholischen Monarchen und den endemisch auftretenden Massakern auf der Insel kam bei den reformierten Siedlern das Gefühl auf, in einem permanenten Belagerungszustand zu leben, ein Gefühl, das sie nie mehr losgelassen hat. König Jakob II. versuchte von Irland aus eine katholische Reconquista des englischen Thrones, den mit dem Einverständnis des Parlaments mittlerweile William III. von Oranien eingenommen hatte (Glorious revolution). Zwischen den beiden kam es 1690 zur entscheidenden Schlacht am Boyne. Der siegreiche Ausgang für die protestantische Sache wird vom freimaurerähnlichen Orange Order mit trotzig schmetternden Paraden bis heute gefeiert. Der 1801 geschlossene Act of Union mit der britischen Krone sollte als eine Art »Schutz- und Trutzbündnis« die beiderseitige Bindung zementieren.
Die Geschichte bewies indes, daß London im Konflikt mit dem immer effizienter werdenden keltisch-irischen Nationalismus zu Kompromissen gezwungen wurde, die auch Abstriche bei den protestantischen Schutzbefohlenen mit sich brachten. Letztere hatten sich in Krisen- und Kriegszeiten ohne Zögern an die Seite Großbritanniens gestellt. Das Beispiel der paramilitärischen Ulster Volunteer Force (UVF), die 1913 vom fanatisch pro-britischen Anwalt Sir Edward Carson gegründet und in der 36. Ulster Division an der Somme aufgerieben wurde, wird von Loyalisten gern als höchster Treuebeweis angeführt. Und dennoch: Home-Rule-Bewegung, Osteraufstand 1916, irischer Unabhängigkeitskrieg und schließlich der anglo-irische Vertrag von 1921 mit der Geburt des irischen Freistaates sind die Etappen eines beständigen Rückzugs auf ein Reservat im Norden, das von sechs mehrheitlich protestantisch geprägten Grafschaften gebildet wurde und dessen Grenzen lange umstritten blieben.
Daß es nur einer (auch noch wirtschaftlich begründeten) Reforminitiative der gemäßigten Stormont-Regierung in Belfast unter Premierminister Terence O’Neill bedurfte, um in den 60er Jahren erbitterten protestantischen Widerstand, personifiziert durch den keifenden Prediger Ian Paisley und seine selbstgegründete »Partei-Kirche«, auf die Straßen zu bringen, belegt die tiefsitzenden Ängste der konfessionellen »Herrenmenschen«. Dabei erfreute sich Nordirland noch Anfang der 60er Jahre, glaubt man britischen Darstellungen, der niedrigsten Kriminalitätsrate im gesamten Königreich. Die moderne IRA, ihre Heckenschützen und Autobomben, gab es zu dieser Zeit noch nicht. Doch das kollektive Unterbewußtsein der Loyalisten war bereits aufgeschreckt. Prophylaktisch wurde im Geheimen die UVF wiedergegründet, da man an das Einsickern der IRA glaubte. Zur offenen Eskalation kam es aber erst durch die Niederschlagung der Bürgerrechtsbewegung, hinter der sich viele katholische Nordiren sammelten, um mit friedlichen Mitteln eine politische und soziale Verbesserung ihrer Lage zu erreichen, nicht aber, um eine Vereinigung mit der damals noch sehr klerikalen Republik Irland zu propagieren, wie die Gegenseite argwöhnte. Britische Truppen, 1969 eigentlich zur Beruhigung der Lage entsandt und bald mit bis zu 21000 Mann präsent, fanden sich am Ende zwischen allen Stühlen wieder und tendierten inoffiziell, vor allem nach dem Auftauchen der IRA im Norden, zur loyalistischen Seite.
Was folgte, war ein jahrzehntelanger Konflikt nach allen Regeln der Stadtguerilla. Austragungsorte waren hauptsächlich die Arbeiterviertel beider Communities, die oft auch aneinander grenzten (Ausnahme war die ländliche Grafschaft Armagh, wo man der IRA ethnische Säuberungen vorwarf).
Eine überraschende Rückbesinnung auf Religion und Mythos entfaltete sich im Laufe der Auseinandersetzungen, wie sie die Murales, die Wandbilder der betroffenen Viertel, illustrieren, die in dieser Art eher an die Darstellung schiitischer Märtyrer im Nahen Osten erinnern.
Dabei ist zu beobachten, wie den protestantischen Loyalisten als den einst Zugewanderten das betont britische Element als alleinige Identifikationsfolie nicht mehr ausreichte. London stellte sich in ihren Augen nicht immer mit jener Unbedingtheit an ihre Seite, wie sie selbst es umgekehrt in den beiden Weltkriegen getan hatten. Außerdem war den britischen Regierungen sowie den moderaten Unionisten Nordirlands das Treiben diverser protestantischer Paramilitärs, die als Selbstschutzverbände (Vigilante groups) begonnen hatten, bald ein Dorn im Auge. Sie wurden von der anstandsgewohnten britischen Öffentlichkeit mehr und mehr als Banden von Hooligans wahrgenommen, während es die Aktivisten der IRA und ihre Sympathisanten geschickt verstanden, sich als harte, aber legitime Freiheitskämpfer darzustellen. Bezeichnend war etwa die unterschiedliche Bewertung der Haftaufenthalte, die beiden Parteien gleichermaßen blühten. Für die IRA mit ihrer anfänglich straff marxistischen Ausrichtung war die Haftstrafe Bestandteil des propagandistischen Kampfes, für die radikalen Loyalisten war sie hingegen oft Tiefpunkt der sozialen Ächtung.
Vor dem Hintergrund einer empfundenen Undankbarkeit von seiten des Mutterlandes kam es unter radikalen Loyalisten zu Spekulationen über die mythische Abstammung von einem eigenständigen nordirischen Kriegervolk, den Cruthin, denen eine Verwandtschaft mit den schottischen Pikten nachgesagt wurde und die sich seit frühester Zeit im Kampf mit den von Süden herandrängenden Kelten befunden haben sollen. Auch eine eigene Ur-Sprache soll es gegeben haben, die sich bei Lichte betrachtet allerdings als schottischer Dialekt (Ullans) herausstellte, der zusammen mit den schottischen Siedlern in den nördlichen Teil der Insel gekommen war. In jedem Fall ist die Besinnung auf vorzivilisatorische Identifikationsmodelle auffallend, die vor allem im radikal protestantischen Lager an Boden gewannen, zusammen mit einer betont evangelikalen Ausprägung des reformierten Christentums, hierin vergleichbar mit US-amerikanischen Milizen.
Auch die einst führende wirtschaftlich-soziale Stellung der protestantischen Bevölkerung hat sich verschlechtert, seitdem die britische Regierung auch in Nordirland auf Modernisierung setzte, konsequent den Dienstleistungssektor ausbaute und dabei die bis dahin benachteiligten Katholiken förderte. Für Nordirland bleibt es bedenklich, daß trotz des im großen und ganzen eingehaltenen Gewaltverzichts loyalistische Paramilitärs weiterhin rekrutieren, selbst wenn es mittlerweile »nur« um Organisierte Kriminalität geht.
Was lehrt dieser Parcours durch einen scheinbar so anachronistischen Konflikt? Taugt er trotz der naturgemäß bedingten Vergleichbarkeit zur Parabel? In folgenden Punkten gibt es Berührungen.
An erster Stelle ist die Bedeutung eines Staates im Hintergrund einer exponierten Gemeinschaft zu nennen, der als ihr Beschützer auftritt. So gebärdet sich beispielsweise die Türkei für die türkische Gemeinschaft in Deutschland (oder Zypern, Krim, Syrien) immer wieder als ein solcher. Selbiges gilt für Rußland oder Serbien. Der Staat der eigentlichen deutschen Stammbevölkerung verhält sich hingegen ambivalent, so daß er an Glaubwürdigkeit verliert, ja suspekt wird, im schlimmsten Fall mit Folgen für die Loyalität eben dieser Stammbevölkerung ihm gegenüber. Hier lassen sich Vergleiche zum Verhalten Frankreichs im Algerienkrieg ziehen. Übt unser Staat bei der gegenwärtigen Massenzuwanderung nicht die Suprematie aus (die zur Integration als einer Form der Erziehung gehört), sondern tritt er im Gegenteil selber als konturlos und schutzbedürftig auf, werden Bevölkerungsteile gezwungen sein, zur Selbsthilfe zu greifen. An dieser Stelle sei als Beispiel nur an die Rolle der Freikorps zu Beginn der Weimarer Republik erinnert.
In Zeiten eines psychologischen Klimawandels (Régis Debray) können in einer bedrängten Gemeinschaft, an die ein Kampf herangetragen wird, tief schlummernde archaische Reflexe erwachen, die jenseits aufklärerischer Abstrakta eine bis dato überwunden geglaubte ethnische oder konfessionelle Zugehörigkeit mobilisieren. Erinnert sei wiederum an die jugoslawischen Erbfolgekriege der 90er Jahre, wo die verordnete Einheit und Brüderlichkeit in Trümmer ging. Bekanntlich kann es auch in hochentwickelten Gesellschaften in Extremsituationen zu Ent-Zivilisierungsschüben kommen.
Es wird sich zeigen, ob am Ende nicht das Beispiel von Wladimir Zeev Jabotinsky, des Propheten eines militanten Zionismus, auch bei uns Schule machen wird, der seine jüdischen Zuhörer seelisch auf die kommenden Kämpfe einstimmte, indem er ihnen einschärfte, nicht länger zu fragen, was besser wäre, sondern nur noch, was schlimmer wäre.